Schicksalhafte Begegnung
Teil 1 von 5
Teil 1 von 5
Das Haus war riesig. Sie stand inmitten der weitläufigen Eingangshalle mit dem schachbrettartigen Fußboden aus schwarzen und weißen Fliesen und sah den breiten Treppenaufgang hinauf, der ebenso bedrohlich wirkte wie der lange Flur, durch den sie gekommen sein mochte, und dessen Ende sich im Dunkel verlor. Gegenüber der mächtige Haupteingang, eingesäumt von zwei hohen Marmorsäulen und mit einem gläsernen Rundbogen als oberem Abschluß. Die Scheiben waren schwarz, als ob eine mondlose Nacht den Blick auf den Himmel verwehrte.
Um sie herum war es völlig still. Das Haus schlief. Sie wandte sich den gigantisch hohen Türen zu und öffnete eine von ihnen. Vorsichtig trat sie in die nur spärlich beleuchtete Umgebung hinaus und sah sich um. Die wenigen Fackeln an den Wänden tauchten das niedrige Gewölbe in ein geisterhaftes Zwielicht, dessen durch moosbewachsene Felsbrocken verengter Gang schon nach wenigen Metern steil hinab ins Höhleninnere führte.
Angestrengt lauschte sie in den Schlund hinein, und ihr war, als vernahm sie das mehrfach überlagerte Echo eines heimlichen Flüsterns, das sich von ihr entfernte, bis es plötzlich vollends verstummte.
Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die geringen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und sie mit geschärftem Blick nun selbstbewußter ihre Suche aufnehmen konnte. Entschlossen folgte sie dem Gang immer weiter abwärts und auf die Stimmen zu, die sie in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten. Im Geiste ließ sie dabei ein hinter ihrem Rücken geführtes, imaginäres Gespräch zwischen Jason und Lydia Revue passieren, bei dem sich diese gegenseitig und äußerst indiskret von Geheimnissen berichteten, die sie jeweils dem anderen anvertraut hatte, um anschließend in schallendes Gelächter auszubrechen.
Ab einer gewissen Tiefe wirkte das bis dahin lehmfarbene Gestein massiver und kompakter. Am Ende des langen Abstiegs blickte sie in die eindrucksvoll große aber menschenleere Halle hinab, deren sandiger Boden gute dreißig Meter tiefer lag. Die Wände waren von Klüften und Spalten überzogen, und aus der Ferne kündigte bereits ein leises Plätschern eine weitere Entdeckung an.
Von oben hatte sie bereits mehrere horizontale Gänge ausmachen können, für die die Halle offenbar den Ausgangspunkt bildete. Unten angekommen stieß sie noch auf weitere, deren glatte Wände Spuren der mechanischen Schleifwirkung des Wassers zeigten. Im hinteren Teil der großen Halle fand sie schließlich den Verursacher des stetigen Plätscherns: einen mächtigen, freistehenden Steinbrunnen, der ein graues Marmorbecken trug. An der nahen Wand loderte eine Fackel gleich neben einer dort eingelassenen Bronzetafel. Neugierig ging sie um den Brunnen herum und las sich mit leiser Stimme deren Aufschrift vor:
Die Sterne stehen vollzählig hoch über dir im Firmament,
Der ans Becken tritt und daraus schöpft sie nur erkennt.
Das ewig wache Geplätscher verrät, daß du bist nicht einsam hier.
Fern im Sternenschimmer gehe ich und bin schon auf dem Weg zu dir.
(Anmerkung: Gedicht angelehnt an "Der alte Brunnen" von Hans Carossa)
Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und ein instinktives Unbehagen überkam sie, als ob ihr Innerstes sie warnen wollte.
Irritiert von der rätselhaften Aufschrift wandte sie sich um und blickte nach oben. Zwei in der Höhlenfirste erkennbare parallel verlaufende Klüfte wirkten wie eine Leitlinie für die räumliche Entwicklung der Halle. Teile des Höhlendaches, die zwischen diesen Klüften herabgefallen sein mochten, ließen die ebene Firste einen gleichsam künstlichen Eindruck vermitteln, und vom entfernten Ende schien ein bläulicher Schimmer des Tageslichts hereinzudringen. Sterne vermochte sie jedoch keine auszumachen, auch nichts, das man im übertragenen Sinne dafür hätte halten können.
Also tat sie wie in der Aufschrift geheißen und trat an das große Marmorbecken heran. Sie sah in das darin angesammelte klare Wasser, fuhr mit der flachen Hand hindurch und ließ das kalte Naß langsam aus der hohlen Hand zurück ins Becken fließen. Doch so aufmerksam sie die kleinen Wellen mit dem Blick auch verfolgte, so konnte sie einfach keine ungewöhnlichen Reflektionen darin erkennen. Als auch eine Wiederholung dieses Rituals erfolglos blieb, setzte sie ernüchtert aber auch ein wenig erleichtert ihre Suche nach den rätselhaften Stimmen fort.
Durch den nächstgelegenen Gang gelangte sie nach kurzem Fußmarsch in eine weitere, jedoch deutlich kleinere Halle, in der das Plätschern des entfernten Brunnens durch den vielfachen Wiederhall wie das Rauschen eines unterirdischen Baches klang. Hinter einem engen Spalt linker Hand führte ein weiterer Gang noch tiefer abwärts. Sie lugte vorsichtig hinein und überlegte einen Augenblick, doch dann entschied sie sich, dem eisernen Treppenaufgang zu folgen, der auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs durch eine schmale Kluft in der Hallendecke einen raschen Aufstieg ermöglichte.
Nach dem fünften Absatz hatte sie bereits neunzig Stufen gezählt, und ohne eine Verschnaufpause einzulegen bewältigte sie auch die restlichen steilen Treppen völlig mühelos. Die Wände hatten inzwischen einen sandsteinfarbenen Ton angenommen, und die niedrige Decke der Kammer, in der der Treppenaufgang endete, ließ sie unwillkürlich, wenn auch unnötigerweise den Kopf einziehen. Von draußen drang Tageslicht wie ein gleißend heller Strahl hinein und ließ den sandigen Boden vor dem Ausgang förmlich aufleuchten, so daß sie geblendet die Hand schützend vor die Augen halten mußte, während sie hinaus ins Freie trat.
Dort erwartete sie ein überwältigender Anblick. Blinzelnd sah sie vom Grunde eines schluchtartig tiefen Erdfalles an dessen efeubehängten Felswänden hoch, die sich bis zum Himmel zu erstrecken schienen. Die plötzliche Wärme rief bei ihr eine Gänsehaut hervor, und nach der Kühle im Inneren der Höhle genoß sie das angenehme Kribbeln, das die sommerlich warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut ausgelöst hatten.
Von außen war der etwas tiefer gelegene Zugang zur Kammer kaum zu erkennen. Der sichtbare Teil der halbrunden Öffnung konnte aus einiger Entfernung leicht für den Schatten des darüberliegenden und etwas vorstehenden Felsbrockens gehalten werden.
Angetrieben von einem unbändigen Verlangen setzte sie ihren Weg fort. Sie entschied sich für eine Richtung und folgte dem Verlauf der Schlucht. Dabei ließ sie ihren Blick entlang der malerisch bewachsenen Felsen schweifen, die trotz ihrer Unüberwindbarkeit nicht bedrohlich sondern eher romantisch wirkten.
An der zunehmenden Enge seit der letzten Biegung ließ sich das Ende der Schlucht erahnen. An der engsten Stelle der spitz zusammenlaufenden Felswände, als sie mit ausgestreckten Armen schon beide Wände hätte berühren können, vereinigten sich die massiv steinernen Barrieren in einer meterhohen Steinfalte. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte sie darin einen weiteren Eingang zur Höhle. Die Felsspalte war allerdings so schmal, daß sie sich regelrecht hindurchzwängen mußte.
Drinnen war es viel dunkler als sie erwartet hatte. Vorsichtig tastete sie sich an der kalten Felswand entlang, um auf dem abschüssigen Steinboden nicht sofort auszurutschen und schlidderte langsam den sich immer weiter verengenden Gang hinab, der schließlich in einen breiteren mündete, welcher quer zum Zugang verlief. Aus einer Bodenöffnung rechter Hand, die von einem Geländer umgeben war, drang Licht wie aus einem Scheinwerfer aus der Tiefe empor und warf einen fast runden, blassen Fleck an die niedrige Höhlendecke.
In der entgegengesetzten Richtung war erst in einiger Entfernung eine Fackel zu erkennen, die den weiteren Verlauf des Gangs nur erahnen ließ. Neugierig wandte sie sich der Öffnung zu, von der ein dumpfes Summen ausging, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Kurzentschlossen kletterte sie über das Geländer und stieg an der innenseitig befestigten Leiter hinab.
Der senkrechte Abstieg endete nach etwa zwanzig Metern in einem Raum, der hell erleuchtet und vollständig weiß gefliest war. Mit seinen Apparaturen und Bildschirmen, deren Summen durch den Schacht nach oben hallte, wirkte er wie eine Art Kontrollraum. Verdutzt war sie an der Leiter stehengeblieben, als sich auch schon eine der beiden blauen Türen öffnete und eine blonde Frau mit weißem Kittel hereinkam, die einen Kaffeebecher in der Hand und eine Mappe mit Unterlagen unter dem Arm geklemmt hielt.
Erschrocken fuhr die Frau zusammen, als sie den Eindringling erblickte, und einige Blätter, die sich aus der unachtsam gehaltenen Mappe gelöst hatten, segelten in verschiedene Richtungen zu Boden.
»Tut mir wirklich leid, ...ich wollte sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich Vivian und begann sofort, einige der Blätter vom Boden aufzulesen.
»Zugang nur für Personal!« zitierte die Frau mit verärgerter Stimme, während sie sich hastig der Tasse und der Mappe unter ihrem Arm entledigte. »Haben Sie denn das Schild nicht gesehen?«
»Nein, ... um ehrlich zu sein, ... ich habe kein Schild gesehen«, gab sich Vivian unschuldig und hielt ihr die eingesammelten Blätter hin. »Was ist das hier?« fragte sie dann, während sie sich neugierig umblickte.
»Das ist die Leitstelle Vierzehn, Sektion Alpha, ... und sie sollten überhaupt nicht hier sein«, antwortete die Frau im weißen Kittel schulmeisterhaft und riß ihr die Unterlagen förmlich aus der Hand. »Wie sind Sie eigentlich hier ...?«
Sie beendete ihre Frage nicht, als Vivian wortlos auf die Leiter hinter sich zeigte. Der Gesichtsausdruck der Ärztin oder Wissenschaftlerin verriet, daß sie sich die Antwort auch selber hätte geben können.
»Vivian Bellings«, stellte sich die ungebetene Besucherin dann lächelnd und mit ausgestreckter Hand vor.
»Sehr interessant«, gab die Angesprochene nüchtern zurück und griff in die Außentasche ihres Kittels, um einen flachen, länglichen Gegenstand herauszuholen, der entfernt an eine Fernbedienung erinnerte. »Seien Sie ein artiges Mädchen und bleiben demnächst bitte auf den ausgewiesenen Wegen. In Ordnung?«
Noch ehe Vivian etwas erwidern konnte, um die misteriöse Frau von dem Gebrauch der Steuereinheit in ihrer Hand abzuhalten, hatte diese bereits auf eine der Tasten gedrückt, und im nächsten Moment durchzuckte ein gleißender Lichtblitz den Raum, daß Vivian sich schützend die Hände vor die instinktiv zugekniffenen Augen halten mußte. Bunte Lichtkegel formten sich aus der Helligkeit, tanzten und kreisten um sie herum, bis sie schließlich ihren Körper ergriffen und diesen mit sich rissen.
Sie lehnte sich nicht dagegen auf. Sie wußte aus Erfahrung, daß dieser Vorgang unumkehrbar war, und so unternahm sie erst gar keinen Versuch.
Als sie erwachte, trat die Realität mit bitterer Grausamkeit an die Stelle ihrer Wahrnehmung. Sie war wieder zurück, ganz alleine in ihrer etwa zwei an drei Meter großen Einzelzelle und isoliert von den anderen inhaftierten Frauen, da sie laut Erklärung einer der Sicherheitsbeamten unter Bundes- und nicht unter Bezirksrecht fiel. Sie mußte an Jason denken, dem es zur Zeit wohl ähnlich erging, seit man auch ihn verhaftet hatte, und unweigerlich brach sie in Tränen aus. Keiner von ihnen war in der Lage, dem anderen in dieser Situation beizustehen, obwohl er dessen Unterstützung gerade jetzt am dringendsten gebraucht hätte. Sie redete sich ein, daß sie nun Kraft haben müsse und lenkte sich ab, in dem sie zum x-ten Mal und am ganzen Leibe zitternd die Eisenstäbe und Querverstrebungen ihres Verlieses zählte.
- Ende von Teil 1 -