Schicksalhafte Begegnung - Teil 3 von 5

visco

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Schicksalhafte Begegnung

Teil 3 von 5​


Die Wochen bis zur nächsten Verhandlung waren eine Qual, die unerbittlich an ihrer Widerstandskraft nagte wie ein hungriges Tier. Zum ersten Mal lernte sie den Wert der Dinge einzuschätzen, die sie bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte. Ihre bisherigen Probleme, ob in finanzieller oder privater Hinsicht, verloren im Vergleich zu dem Verlust ihrer Freiheit an Substanz, die Konturen verwischten, und ihre Erinnerung daran verblasste, je länger sie darüber nachdachte.

Ihr Leben war schon einmal aus der Bahn geworfen worden. Damals war es der Tod gewesen, der sie so erschreckte. Vielleicht war es aber auch die Hilflosigkeit, mit der sie dem tragischen Verlust der Eltern gegenübergestanden hatte, den sie als ungerecht und wegen ihrer aufkommenden Schuldgefühle als eine Art Bestrafung empfand.

Jason hatte sie damals aufgefangen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Ausgerechnet das aufgeblasene Großmaul. Aber er war da, und in seinen Armen, mit denen er sie vor allem Übel dieser Welt beschützen würde, fühlte sie sich sicher und geborgen. Er ertrug ihre Launen und beizeiten unkontrollierten Wutausbrüche, und er hörte auch dann zu, wenn sie schwieg.

Die vielen Besuche beim Psychiater hatten ihr geholfen, das Unfaßbare zu verarbeiten und den Schmerz zu überwinden. Es hatte sie viel Kraft gekostet, endlich loszulassen. Sie wußte, daß Akzeptanz ein mächtiges Instrument sein konnte, um den Kummer zu besiegen und sich neu zu orientieren. Aber erst mit Jasons Hilfe hatte sie sich ein neues Leben, eine neue Welt aufbauen können, die nicht nur einen Ausweg aus der Misere sondern auch eine Zukunft bot.

Die Erfahrung eines schmerzlichen Verlusts hatte die momentane Situation mit der damaligen gemein, aber sie war nicht länger hilflos. Jason war sicher in Gedanken bei ihr, so wie sie bei ihm, und mit ihrem Verteidiger stand jemand an ihrer Seite, jemand, der sich für sie einsetzte und ihr den Trost spendete, den sie gerade jetzt so dringend benötigte.

Dennoch war sie wütend. Die Machtlosigkeit, mit der sie den Torturen eines bürokratischen Rechtssystems ausgeliefert war, schien unerträglich. Mit angewinkelten Beinen auf ihrer Pritsche kauernd grollte sie leise vor sich hin und verbarg den Kopf in ihren Knien. Auch wenn die Intensität des Schmerzes damals ungleich größer gewesen war, so waren die Umstände, die dazu geführt hatten, zumindest begreifbar und für jeden nachvollziehbar. In diesem Falle jedoch schien alles noch komplizierter. Sie war gefangen in einem Labyrinth aus Indizien, deren Herkunft sie ebenso wenig verstand wie die Motivation, diese gegen sie zu verwenden.

So sehr sie sich auch bemühte, einen verborgenen Sinn oder auch nur den Ansatz einer Erklärung für das schier Unbegreifliche zu entdecken, der Strudel aus unlösbaren Rätseln war einfach stärker. Längst hatte der Sog sie erfaßt und drohte sie unbarmherzig in den gefräßigen Schlund eines dunklen Misteriums zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.

Verängstigt sah sie nach oben. Tiefschwarze Gewitterwolken waren an der Zellendecke aufgezogen, aus denen es blitzte und donnerte. Schützend hielt sie sofort ihre Arme über den Kopf, als es auch schon in Strömen zu regnen begann, und dicke Tropfen auf sie herniederprasselten. Begleitet von ohrenbetäubenden Donnerschlägen rannte sie an den Vorgärten der Nachbarhäuser vorbei, in denen es bekanntlich keine Unterschlupfmöglichkeit gab, und lief so schnell es ging nach Hause. Endlich hatte sie das Ende der Straße erreicht, das durch eine hohe Mauer markiert wurde, und stürmte durch das niedrige Gartentörchen auf den rot gestrichenen Eingang zu.

Völlig durchnässt und außer Atem trommelte sie an die Tür, aber niemand öffnete. Verzweifelt rief sie nach ihrer Mutter, wieder und wieder und immer lauter, bis sie husten mußte und ihre Stimme versagte. Als die Tür verschlossen blieb, lief sie durch den schmalen Gang zwischen den Häusern, an den Mülltonnen vorbei, bis auf die Rückseite und blickte flüchtig durch das Küchenfenster, bevor sie die Terrassentüre unverschlossen vorfand und hastig ins Trockene flüchtete.

Wieder wollte sie nach ihrer Mutter rufen, als sie im gleichen Augenblick bemerkte, daß sie in einem völlig leeren Raum stand. Wie erstarrt blieb sie an Ort und Stelle stehen, während sich zu ihren Füßen bereits eine Pfütze zu bilden begann. Der Raum wirkte fremd ohne Möbel, eintönig und nackt. Nicht einmal die Tapete war noch an den Wänden.
Vivian verstand die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Stunden hatte sie hier gefrühstückt.

»Mom?« rief sie dann doch und wagte sich langsam ein paar Schritte vor. Niemand antwortete. »Mom?« rief sie nun verhaltener, während sie vorsichtig durch die Küchentür in den schmalen Flur lugte.

Auf leisen Sohlen schlich sie an dessen ebenso kahler Wand entlang auf die Haustür zu. Draußen tobte noch immer das Gewitter und ließ eine schauderhafte Geräuschkulisse entstehen. Mit angehaltenem Atem beugte sie sich über das untere Ende des Treppengeländers und blickte hinauf. Von oben roch es modrig und nach verfaultem Obst.

Der kurzzeitig helle Lichtschein einer Blitzentladung und das unmittelbar ertösende Krachen ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie holte einige Male tief Luft, und mit wachsam nach oben gerichtetem Blick setzte sie dann ihren Fuß auf die unterste Stufe. Magisch angezogen von den unerklärlichen Düften überwand sie ihre Angst und tastete sich mit zaghaften Schritten langsam aufwärts.

Der Regen klang noch bedrohlicher, je weiter sie sich dem schützenden Dach näherte, auf das Millionen unablässig aufschlagender Partikel einhämmerten. Ansonsten war es still.

Das obere Stockwerk wirkte ebenso kahl und verlassen wie das untere, als sei es nie bezogen gewesen. In den Türrahmen waren keine Türen, und die Zimmer, in die sie voll schrecklicher Vorahnung gespäht hatte, waren ausnahmslos leer.

Das einzige, das sie betrat, war ihr eigenes, und es hatte sie ihren ganzen Mut gekostet. Hier hatte sie ihre letzten Jahre in elterlicher Obhut verbracht, bevor sie und Jason nach Bury zogen.

Ihr stockte der Atem. Das war unmöglich. Sie war doch noch ein Kind. Irritiert wandte sie sich um. Dort an der Wand hatte ihr Bett gestanden und daneben der alte Kleiderschrank, dessen Türen erst knarrten, wenn man sie vollständig öffnete. Auf der anderen Seite ihr Schminktisch, den Mom zur Aussteuer bekommen hatte wie auch die Wäschekommode in der Ecke.

Wieder erzuckte ein Lichtblitz, und für kurze Zeit war der Raum zumindest teilweise hell erleuchtet, und bizarre Schatten zeichnten sich schemenhaft an den Wänden ab. Starr vor Entsetzen gefror ihr das Blut in den Adern. Nur einen Augenblick lang war das Grauen sichtbar geworden. Herausgerissene und achtlos entleerte Schubladen, durchwühlte Regale, Schränke und Kommoden, deren Inhalt größtenteils über den Boden verteilt ein chaotisches Durcheinander an Büchern und Zeitschriften, zerrissenen Kleidern, Wäsche und den verschiedensten Utensilien und Gegenständen bildeten, boten ein Bild der Verwüstung. Die Möbel waren demoliert, die Matraze und die Kopfkissen aufgeschlitzt.

Aber das war nicht alles. Kaum zwei Schritte von ihr entfernt hatten direkt unter dem Fenster zwei menschliche Körper auf dem Boden gesessen, nebeneinander gegen den Heizkörper gelehnt. Ihre Arme verliefen sich hinter dem Rücken, und über ihre Köpfe hatte man durchsichtige Plastiktüten gestülpt, die eng am Hals verknotet und nach verbrauchtem Sauerstoff und Ausstoß von Kohlenmonoxyd von Innen beschlagen waren. Ihre Gesichter waren grimassenhaft verzerrt. Sie waren qualvoll erstickt, und die letzten Sekunden ihres verzweifelten Todeskampfes schienen in erstarrten Gesichtszügen festgehalten. In den weit aufgerissen Mündern klebte das beim letzen Atmenszug angesogene Plastik, und die Augen quollen aus ihren Höhlen.

Von dem Schock wie gelähmt starrte sie auf die Stelle, an der sich das Grauen gezeigt hatte. Es war nur ein aufblitzendes Bildnis gewesen, das einen kurzen Moment lang an die Stelle des Wahrnehmbaren getreten war, als sei es die übrige Zeit von einer Illusion überlagert.

Panik ergriff sie, und mit mühsam erzwungenen Bewegungen stolperte sie langsam rückwärts, bevor sie mit vorgehaltener Hand Hals über Kopf die steile Treppe hinunterstürmte und durch die Haustür hinaus ins Freie flüchtete.

In Todesangst sprang sie von ihrer Pritsche und begann zu rennen. Übermannt von den intensiven Bildern aus den dunklen Tiefen ihres Bewußtseins und gelenkt von übermächtigem Entsetzen hatte sie jede Orientierung verloren. Die räumlichen Beschränkungen ihrer Zelle stellten unsichtbare Barrieren dar, die sie zwar spürte aber nicht zuordnen konnte. In ihrer Verzweiflung stieß sie immer wieder vor Wände, wandte sich um, prallte gegen die Gitterstäbe, gegen das Bett, hin und her, unermüdlich, bis sie von dem herbeigeeilten Wachpersonal schließich überwältigt werden konnte.

Erst der von geweckten Urtrieben ausgelöste Angstschrei holte sie in die Realität zurück. Drei Aufseher waren nötig gewesen, um sie am Boden zu halten. Gerade noch rechtzeitig hatten sie das Schlimmste verhindern können. Außser einigen Prellungen und verschiedenen Schürfwunden wies die völlig verstört wirkende Inhaftierte keine ernsthaften Verletzungen auf.


- Ende von Teil 3 -
 

visco

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zum 3. Teil

Hinweis der Autorin:

Die Einsamkeit in ihrer Zelle bietet keine Möglichkeit, sich von den schrecklichen Ereignissen abzulenken, die Vivian so sehr belasten. Ihre eigene Vorstellung dieser Ereignisse soll schockieren.
Ist das gelungen?
Konnte die Spannung (sofern denn hoffentlich welche bestand) aufrechterhalten werden, damit man erfahren will, was das alles mit ihrer Verhaftung zu tun hat, und wie die Geschichte ausgeht?

Viele Grüße,
Viktoria.
 



 
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