Schienenersatzverkehr

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xavia

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Liebe Eisblume,
auch wenn das mit der Perspektive nicht mehr so eng gesehen wird, bemühe ich mich doch, es zu lernen und bewusst damit umzugehen. An dieser Stelle ist es für mein Empfinden aber kein Wechsel aus Ratlosigkeit sondern eher sowas wie der Epilog in einem Roman: Man erfährt hintendran noch etwas, das innerhalb der Geschichte nicht erzählt werden konnte oder sollte.
Vielleicht fällt mir ja noch etwas ein, womit ich die Aussage deutlicher machen kann, aber ich bin nach der Erfahrung mit »Eine Frage der Einstellung« vorsichtig geworden, was den schulmeisterlich erhobenen Zeigefinger angeht. Ich denke, die LeserInnen wollen es selbst herausfinden und nicht mit der Nase drauf gestoßen werden. Mir gefällt an dem aktuellen Schluss, dass man sich am Ende gut fühlen kann. Und dass Christian, der so bleiben will, wie er ist, das auch tun kann.
LG Xavia.
 

xavia

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[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung. Er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort. Ihm gegenüber sitzt eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, die er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt hat, wo sie auf denselben, versäteten, Zug wartete wie er. Sie sind ins Gespräch gekommen, weil sie von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Gemeinsam sind sie nach endlosem Warten in den Genuss des Schienen-Ersatzverkehrs von Eichstätt bis Ingolstadt gekommen. Die wilde Berg- und Talfahrt mit dem Reisebus ist eine Qual für seinen Magen gewesen, was seine Begleiterin eigentlich hätte merken können. Dennoch hat sie sich sofort für den Platz in Fahrtrichtung entschieden, als er ihr beim Einsteigen in diesen Zug den Vortritt gelassen hat.

Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune. Alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist. Als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Bus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert: Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Dennoch scheint diese Frau felsenfest davon überzeugt zu sein, dass es seine eigene Entscheidung sei, sich so schlecht zu fühlen. – Die hat ja keine Ahnung: Heute wäre der Tag gewesen, sein Tag! Seit Wochen hat er daran gearbeitet, Nadine ein verständnisvoller Freund zu sein, hatte manche tränenreiche Nacht mit ihr durchwacht und sich alle langweiligen Details ihrer Trennung von Kurt angehört. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Heute abend tafelt die Clique inklusive Nadine, Kurt und Annika, seiner »Neuen«, in der Artischocke, einem geheimnisvollen Lokal nahe Hamburg. Sie haben schon vor Monaten gebucht. Es ist unmöglich, dort kurzfristig einen Tisch zu bekomen. Der Besitzer, ein eigenwilliger Koch, schließt nach pünktlichem Erscheinen der Gäste das Lokal ab und gibt ihnen dann das Vier-Gänge-Menü bekannt. Sie alle hatten sich sehr darauf gefreut, denn dieser Koch gilt als ein Meister seiner Kunst und alle, die sich seiner Willkür überlassen haben, sind hinterher voll des Lobes. Bei diesem Essen ist Nadine zum ersten Mal nach der Trennung einen ganzen Abend lang mit Kurt und Annika konfrontiert. Er, Christian, hätte ein leichtes Spiel gehabt, hätte Nadine seine Schulter zum Ausweinen geliehen wie schon so oft und den Rest seines Luxuskörpers für die gebührende Rache an Kurt und die Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann. Heute wäre er für sie genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben werden.

[ 8]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
[ 3]»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
[ 3]»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

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[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung. Er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort. Ihm gegenüber sitzt eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, die ihn auf dem Bahnhof Eichstätt angesprochen hat, wo sie auf denselben, verspäteten, Zug wartete wie er. Er hatte sie ebenfalls wiedererkannt: Während der Tagung, von der sie beide kamen, ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Gemeinsam sind sie nach endlosem Warten in den Genuss des Schienen-Ersatzverkehrs von Eichstätt bis Ingolstadt gekommen. Die wilde Berg- und Talfahrt mit dem Reisebus ist eine Qual für seinen Magen gewesen, was seine Begleiterin eigentlich hätte merken können. Dennoch hat sie sich sofort für den Platz in Fahrtrichtung entschieden, als er ihr beim Einsteigen in diesen Zug den Vortritt gelassen hat.

Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune. Alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist. Als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Bus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert: Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Dennoch scheint diese Frau felsenfest davon überzeugt zu sein, dass es seine eigene Entscheidung sei, sich so schlecht zu fühlen. – Die hat ja keine Ahnung: Heute wäre der Tag gewesen, sein Tag! Seit Wochen hat er daran gearbeitet, Nadine ein verständnisvoller Freund zu sein, hatte manche tränenreiche Nacht mit ihr durchwacht und sich alle langweiligen Details ihrer Trennung von Kurt angehört. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Heute abend tafelt die Clique inklusive Nadine, Kurt und Annika, seiner »Neuen«, in der Artischocke, einem geheimnisvollen Lokal nahe Hamburg. Sie haben schon vor Monaten gebucht. Es ist unmöglich, dort kurzfristig einen Tisch zu bekomen. Der Besitzer, ein eigenwilliger Koch, schließt nach pünktlichem Erscheinen der Gäste das Lokal ab und gibt ihnen dann das Vier-Gänge-Menü bekannt. Sie alle hatten sich sehr darauf gefreut, denn dieser Koch gilt als ein Meister seiner Kunst und alle, die sich seiner Willkür überlassen haben, sind hinterher voll des Lobes. Bei diesem Essen ist Nadine zum ersten Mal nach der Trennung einen ganzen Abend lang mit Kurt und Annika konfrontiert. Er, Christian, hätte ein leichtes Spiel gehabt, hätte Nadine seine Schulter zum Ausweinen geliehen wie schon so oft und den Rest seines Luxuskörpers für die gebührende Rache an Kurt und die Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann. Heute wäre er für sie genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben werden.

[ 8]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
[ 3]»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
[ 3]»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 



 
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