An seinem fünfzigsten Geburtstag kündigte Vittorio seinem Dienstgeber, sagte der Frau und dem Sohn Lebewohl und übersiedelte auf den Dachboden seines Hauses. Dort stand die größte und prächtigste Anlage einer Modelleisenbahn, die man sich denken kann. Eine unüberschaubare Zahl von Geleisen durchzog die Landschaft, verzweigte sich um Berge, Städte und kleine Dörfer, um Elektrizitäts- und Umspannwerke, um Windkraftparks und Ölförderanlagen. Und natürlich gab es auch Brücken und Unterführungen, Bahnhöfe, Schrankenanlagen und Rangierstellwerke. Es war nicht möglich, die Anlage zu überblicken. Man musste um die herumlaufen, wenn man wie Vittorio, den Ausgangspunkt dieses Schienenwustes zu finden versuchte.
Wo war der Anfang? Wo hatte der Alte, vielleicht als er selbst noch ein Kind war, die ersten Geleise verlegt? Oder hatte er mit der Landschaft begonnen? Berge versetzt, Tunnel gegraben? Wie hatte er die Mitte gestalten können, die mit Armeslänge bei weitem nicht zu erreichen war? Hatte er mit Kränen gearbeitet? Oder die Anlage von außen stückweise erweitert? Unfassbar und unfassbar vollständig war das alles. Es gab kein leeres Plätzchen, auf dem Vittorio noch wenigstens eine weitere Tankstelle, ein Bürohaus oder einen neuen Teilchenbeschleuniger hätte einfügen können. Der Vater, ja gewiss schon der Großvater vor ihm, hatte an alles gedacht.
Was blieb zu tun? Nichts weiter als die geistige Durchdringung dieser Anlage, die Entwicklung einer Schienenschleifentheorie. Zuerst galt es herauszufinden, ob ein Gesamtplan existierte oder ob sich eins aus dem anderen ergeben hatte. Vittorio suchte in den alten Kisten und Schränken, die auf dem Dachboden lagerten, öffnete alle Laden und Fächer und fand sogar ein geheimes in einem ausgedienten Schreibtisch des Großvaters. Vor seinem inneren Auge sah er den Plan in einer schwarzen Maroquinleder-Rolle, versehen mit dem Wappen seiner Familie. Entrollt und in verkleinertem Maßstab sollte er zeigen, welcher Platz welchem Ding zugedacht war und womöglich Details aufweisen, die hinzuzufügen ihm vorbehalten war.
Da er lieber an ein vorgefertigtes Konzept als an eine zufällig-intuitive Entwicklung mit all ihren Unwägbarkeiten und Irrtümern glauben wollte, kostete ihn die Suche beinahe ein Jahr. Nicht, weil der Dachboden so weitläufig gewesen wäre, sondern weil er an immer denselben Stellen suchte, um nur ja nichts zu übersehen. Betrübt und verstaubt saß er einige Wochen in einem alten Lehnstuhl und versuchte durch eine möglichst unbefangene Betrachtung, den eigentlichen Sinn und Zweck der Anlage zu begreifen. Er fand, dass es zu früh war, die Lokomotive mit ihren vielen Waggons in Gang zu setzen, weil ihre Bewegung durch das hügelige Gelände das Problem noch verkompliziert hätte.
Allmählich begann er zu verstehen, dass hier kein vorausschauender Geist gewaltet hatte, ja dass der Anlage womöglich nicht einmal eine besondere Absicht innewohnte, wenngleich sie - und davon war er nun aufs Äußerste überzeugt - in ihrem Aufbau gewissen Gesetzmäßigkeiten folgte, die er eine nach der anderen freilegen wollte. Betrachtete man das riesige Oval aus einiger Entfernung, schien es in eine westliche und eine östliche Hälfte mit spiegelsymmetrischer Anordnung zu zerfallen. Trat man aber näher heran, verlor sich dieser Eindruck und die Anlage glich mehr einem Schleimpilz, der sich von einem mittigen Ausgangspunkt in alle Richtungen verzweigte.
Wieder verging ein Jahr. Vittorio hatte die Anlage von allen Seiten fotografiert, die Bilder zusammengeschnitten und an eine Wand affichiert. Jetzt war der Verlauf der Geleise besser zu erkennen, in den Nahaufnahmen auch die Schienen und Schwellen. Hier im Kleinteiligen, dachte er, sollte sich zeigen, ob die Anlage mehr einem Schleimpilz oder mehr einer Zweifaltigkeit glich.
Als er sich für den Schleimpilz entschieden und den Algorithmus seiner Ausbreitung berechnet hatte, trat unerwartet ein kleines blaugekleidetes Männchen aus dem Bahnwärterhäuschen, stemmte die Hände in die Hüften und schrie: Dio mio! Was habe ich für einen vertrottelten Sohn gezeugt! Hol mir meinen Enkel, anstatt hier herumzusitzen und zu glotzen! - Papa, bitte denk an dein Herz! rief Vittorio besorgt. - Maccé! Mein Enkel hätte hier längst alles umgebaut, das Fahrsignal gegeben und den Schalter umgelegt! - Da schob Vittorio das Männchen mit dem Daumen zurück in das Bahnwärterhäuschen und verschloss die Tür, hinter der noch eine Zeitlang heftiges Schimpfen und Rumoren zu hören war.
In den folgenden Jahren entwickelte Vittorio die Große Schienenschleifentheorie, die im Kern besagt, dass Schienen ein ubiquitäres Phänomen sind und nur in der Nähe von Bergmassiven der Relativität, im übrigen aber den Gesetzen der Quantenphysik gehorchen. Ihre flächenhaft-verzweigte Ausdehnung ist nicht, wie bisher angenommen, die Grundlage für die Bewegung des Schienenfahrzeugs, sondern deren Ergebnis. Indem die Lokomotive Fahrt aufnimmt, erzeugt sie Schienen und Schwellen soweit das Auge reicht.
Als Vittorio wieder unter die Menschen ging, um ihnen die Früchte seines Denkens zu übergeben, musste er feststellen, dass sein Sohn eine Große Schienenvereinigungstheorie entwickelt und dafür den Nobelpreis erhalten hatte. Das garstige blaue Männchen war ins untere Stockwerk getunnelt und hatte sie ihm verraten.
Wo war der Anfang? Wo hatte der Alte, vielleicht als er selbst noch ein Kind war, die ersten Geleise verlegt? Oder hatte er mit der Landschaft begonnen? Berge versetzt, Tunnel gegraben? Wie hatte er die Mitte gestalten können, die mit Armeslänge bei weitem nicht zu erreichen war? Hatte er mit Kränen gearbeitet? Oder die Anlage von außen stückweise erweitert? Unfassbar und unfassbar vollständig war das alles. Es gab kein leeres Plätzchen, auf dem Vittorio noch wenigstens eine weitere Tankstelle, ein Bürohaus oder einen neuen Teilchenbeschleuniger hätte einfügen können. Der Vater, ja gewiss schon der Großvater vor ihm, hatte an alles gedacht.
Was blieb zu tun? Nichts weiter als die geistige Durchdringung dieser Anlage, die Entwicklung einer Schienenschleifentheorie. Zuerst galt es herauszufinden, ob ein Gesamtplan existierte oder ob sich eins aus dem anderen ergeben hatte. Vittorio suchte in den alten Kisten und Schränken, die auf dem Dachboden lagerten, öffnete alle Laden und Fächer und fand sogar ein geheimes in einem ausgedienten Schreibtisch des Großvaters. Vor seinem inneren Auge sah er den Plan in einer schwarzen Maroquinleder-Rolle, versehen mit dem Wappen seiner Familie. Entrollt und in verkleinertem Maßstab sollte er zeigen, welcher Platz welchem Ding zugedacht war und womöglich Details aufweisen, die hinzuzufügen ihm vorbehalten war.
Da er lieber an ein vorgefertigtes Konzept als an eine zufällig-intuitive Entwicklung mit all ihren Unwägbarkeiten und Irrtümern glauben wollte, kostete ihn die Suche beinahe ein Jahr. Nicht, weil der Dachboden so weitläufig gewesen wäre, sondern weil er an immer denselben Stellen suchte, um nur ja nichts zu übersehen. Betrübt und verstaubt saß er einige Wochen in einem alten Lehnstuhl und versuchte durch eine möglichst unbefangene Betrachtung, den eigentlichen Sinn und Zweck der Anlage zu begreifen. Er fand, dass es zu früh war, die Lokomotive mit ihren vielen Waggons in Gang zu setzen, weil ihre Bewegung durch das hügelige Gelände das Problem noch verkompliziert hätte.
Allmählich begann er zu verstehen, dass hier kein vorausschauender Geist gewaltet hatte, ja dass der Anlage womöglich nicht einmal eine besondere Absicht innewohnte, wenngleich sie - und davon war er nun aufs Äußerste überzeugt - in ihrem Aufbau gewissen Gesetzmäßigkeiten folgte, die er eine nach der anderen freilegen wollte. Betrachtete man das riesige Oval aus einiger Entfernung, schien es in eine westliche und eine östliche Hälfte mit spiegelsymmetrischer Anordnung zu zerfallen. Trat man aber näher heran, verlor sich dieser Eindruck und die Anlage glich mehr einem Schleimpilz, der sich von einem mittigen Ausgangspunkt in alle Richtungen verzweigte.
Wieder verging ein Jahr. Vittorio hatte die Anlage von allen Seiten fotografiert, die Bilder zusammengeschnitten und an eine Wand affichiert. Jetzt war der Verlauf der Geleise besser zu erkennen, in den Nahaufnahmen auch die Schienen und Schwellen. Hier im Kleinteiligen, dachte er, sollte sich zeigen, ob die Anlage mehr einem Schleimpilz oder mehr einer Zweifaltigkeit glich.
Als er sich für den Schleimpilz entschieden und den Algorithmus seiner Ausbreitung berechnet hatte, trat unerwartet ein kleines blaugekleidetes Männchen aus dem Bahnwärterhäuschen, stemmte die Hände in die Hüften und schrie: Dio mio! Was habe ich für einen vertrottelten Sohn gezeugt! Hol mir meinen Enkel, anstatt hier herumzusitzen und zu glotzen! - Papa, bitte denk an dein Herz! rief Vittorio besorgt. - Maccé! Mein Enkel hätte hier längst alles umgebaut, das Fahrsignal gegeben und den Schalter umgelegt! - Da schob Vittorio das Männchen mit dem Daumen zurück in das Bahnwärterhäuschen und verschloss die Tür, hinter der noch eine Zeitlang heftiges Schimpfen und Rumoren zu hören war.
In den folgenden Jahren entwickelte Vittorio die Große Schienenschleifentheorie, die im Kern besagt, dass Schienen ein ubiquitäres Phänomen sind und nur in der Nähe von Bergmassiven der Relativität, im übrigen aber den Gesetzen der Quantenphysik gehorchen. Ihre flächenhaft-verzweigte Ausdehnung ist nicht, wie bisher angenommen, die Grundlage für die Bewegung des Schienenfahrzeugs, sondern deren Ergebnis. Indem die Lokomotive Fahrt aufnimmt, erzeugt sie Schienen und Schwellen soweit das Auge reicht.
Als Vittorio wieder unter die Menschen ging, um ihnen die Früchte seines Denkens zu übergeben, musste er feststellen, dass sein Sohn eine Große Schienenvereinigungstheorie entwickelt und dafür den Nobelpreis erhalten hatte. Das garstige blaue Männchen war ins untere Stockwerk getunnelt und hatte sie ihm verraten.