Schlagfluss

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Haarkranz

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Schlagfluss

Verdammt, ging es Emil unaufhörlich durch den dröhnenden Schädel, dass mir das am Ende noch passieren musste. Er hörte die Stimme seiner Frau, sah ihre Hand einen Moment wie einen Vogel in seinem Blickfeld, wenn sie ihm mit einem feuchten Tuch den aus dem linken Mundwinkel sabbernden Speichel abwischte.
Hörst du mich, Emil, ihre viel zu laute Stimme, immer wieder: „Hörst du mich, Emil?“
Verdammte Scheiße, ich hör dich gut, Alte, brauchst nicht so zu schreien, wollte er sie anfauchen, aber nichts ging, gar nichts! Liege hier wie ein kapputes Stück Fleisch, für wie lange? fragte er sich bang.
Er konnte die Augen rollen, sehen und hören. Auch der Tastsinn war intakt. Er fühlte den Sabber das Kinn herunter bis in die Halsgrube rinnen, wenn Emma nicht schnell genug mit dem Tuch da war. Doch alles andere war nicht von ihm, fühlte sich fremd, oder gar nicht an. Er wusste, ein Schlaganfall hatte ihn umgeworfen. Wie lange er schon lag? Fragen konnte er nicht, Zunge Lippen, Rachen alles taub und fremd.
Die Augen dagegen, fühlten sich an als ob sie gehorchten, er ließ sie langsam nach rechts und links rollen. Muss mich einer ansehen, das bemerken. Er hatte Bilder von Gelähmten gesehen, die einen Cursor mit den Augen über einen Monitor schoben. Emma ! Er konzentrierte sich nur auf dieses „Emma“. Minutenlang oder war es Stunden, nur dieser stumme Schrei, „Emma!“
Sie muss mich ansehen, mir bestätigen, dass ich die Augen bewege. Emma! Emma! Emma! Da, er hörte den Korbsessel an seiner linken Seite knistern. Sie bewegte sich, vielleicht stand sie auf. Ja! Das war ihr Gesicht, sie wischte ihm mit einem kühlen Tuch den Kopf. Sieh mich an schrie, flehte, betete er. Bitte sieh mir in die Augen, in die Augen, Kleines!
Sie wandte sich ab, er hörte Wasser laufen. Emma kam zurück, hob seinen Kopf ein wenig vom Kissen, drückte das kalte, feuchte Tuch an seinen Nacken. Tat gut, auch da war noch Gefühl vorhanden, es freute ihn sogar ein wenig. Jetzt Emma, sie mich an, wieder konzentrierte er alle verbliebene Kraft, auf diesen einen Wunsch: Sieh mich an, Emma!
Sieh legte seinen Kopf zurück auf das Kissen, tätschelte seine Wange, „Emil erkennst du mich?“ hörte er sie fragen, dabei sah sie ihn an, er rollte die Augen, von rechts nach links, wieder und wieder, doch Emma schien es nicht zu bemerken. Schien ist gut, seine Augen bewegten sich nicht. Er meinte zwar ihre Bewegung zu spüren, doch Emma reagierte nicht, also war da nichts.
Etwas in ihm zerbrach, die Enttäuschung gab ihm den Rest. Von fern Emmas Stimme: „Erkennst du mich, Emil?“
Als er zu sich kam, war es dunkel, Nacht. Endlose Nacht, obwohl Tag oder Nacht, was änderte es? Emma hatte sein Augenrollen nicht bemerkt, also hatten sich seine Augäpfel nicht bewegt, hatte er sich die Bewegung eingebildet.
Gefangen, gefangen im eigenen Körper. Nein! Will ich nicht, schrie er, sein Ich, das unbeschädigt gebliebene Selbst. Ich kann sehen, riechen, fühlen vor allem denken, machte er sich Mut. Zerstört ist mein Werkzeug, mein Körper. Auch der nicht gänzlich, ich scheisse, trinke, esse, schwitze, nur ihm befehlen, ist nicht. Der Schlag hat die Motorik erwischt, erwischt oder ausgelöscht? das war die Frage.
Trainieren, Motorik lässt sich trainieren! Vorwärts, ran an die Augen! Rollen, rollen, bei der Visite morgen früh den Arzt anrollen, als Neurologe wird der auf das kleinste Zeichen achten.
Emil rollte die Augäpfel bis er erschöpft einschlief, noch im hinübergleiten in den Schlaf ging ihm auf: Ich war aktiv!
Am nächsten Tag: Visite. Emma saß wie immer an seinem Bett, er versuchte angestrengt, der halblauten, fast gemurmelten Unterhaltung mit dem Arzt zu folgen. Frau Stich, hörte er ihn sagen, alle Anzeichen bei ihrem Mann lassen auf ein Wachkoma schließen. Sollte sich der Befund in den nächsten Wochen erhärten, muss er in ein Pflegeheim. Wir sind ein Krankenhaus, nicht eingerichtet auf Pflege.
Wachkoma, sicher das stimmte. Ich höre, sehe, fühle; jedoch mich bewegen, mich mitteilen kann ich nicht. Hoffentlich ziehen die die richtigen Schlüsse aus ihrer Diagnose, stellen mir ein Radio hin. Emma kennt meine Favoriten, Deutschlandradio und WDR 5. Mit Kopfhörern könnte ich ganz für mich, mit der Welt verbunden bleiben. Sie muss nur dran denken, sich nicht einschüchtern lassen von der Krankenhaus Autoritätsaura. Lässt sich allzu leicht beeindrucken, meine Emma. Wachkoma sollte ihr zu denken geben, hiess doch er liegt da wie ein Toter, ist aber bei Bewusstsein.
Da sagt sie es. „Herr Doktor, bedeutet Wachkoma er ist wach, hört uns, kann nur nicht auf unsere Fragen antworten, wegen der Lähmung durch den Schlaganfall?“
„Frau Stich“, antwortete der Doktor, „ich weiss es nicht. Ihr Mann ist sehr mitgenommen, wir nennen seinen Zustand Wachkomma, weil seine vegetativen Abläufe von dem Infarkt nicht betroffen sind. Ob er bei Bewusstsein ist, können wir leider nicht feststellen.“
„Also wissen Sie es so wenig wie ich,“ die Emma. „Es besteht also die Möglichkeit er hört uns, kann sich aber nicht verständlich machen. Hört er uns, kann er auch Radio hören, also muss ein Radio her! Ich kenne seine Lieblingssender, Herr Doktor, wenn ich ihm einen Sender einstelle, den er partout nicht abkann, müsste er, sollte er das mitbekommen reagieren. Also stelle ich ihm WDR 5 ein, Neugier genügt hat er immer gern gehört, ich lass ihn eine halbe Stunde zuhören, dann gebe ich ihm zu trinken, und schalte gleichzeitig um auf WDR 1, den Idiotensender, wie er den genannt hat. Spuckt er das Wasser aus, könnte das eine Reaktion sein, ich muss es nur oft genug versuchen. Immer die gleiche Routine, fünfmal hintereinander. Sollte er fünfmal spucken, sind wir ein Stück weiter. Als nächstes lass ich WDR 5 stehen und gebe ihm zu trinken, spuckt er dann nicht, ist es fast gewiss, er nimmt wahr was um ihn her geschieht.“
„Kann sein, Frau Stich, aber es bedarf eingehenderer Untersuchungen um definitiv festzustellen, was er von seiner Umwelt wahrnimmt.“
„Mag sein, Herr Doktor, nehmen Sie Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen vor, während ich mir überlege, wie ich über die Brücke unseres jahrzehntelangen Zusammenlebens, an ihn herankomme.“
Brav die Emma, hab sie unterschätzt, das mit den Sendern ist genial. Ich werde ohne Ende spucken, hoffentlich kann ich es. Sie wird es fünfmal versuchen hat sie gesagt, und danach den umgekehrten Versuch mit WDR 5 machen. Ich seibere ununterbrochen, scheint mir ohne mein Zutun aus dem Maul zu laufen, die Suppe. Ob ich spucken kann? Klappt es nicht wird sie anderes versuchen, was kann ich beisteuern, aus unserem jahrzehntelangen Zusammensein? Etwas reproduzierbar ohne Muskelaktion. Was käme da in Frage? Grübeln, Emil, grübeln, ich muss ihr ein Zeichen geben.
 



 
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