Schlechte Lyrik für die Zeit

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sufnus

Mitglied
Schlechte Lyrik für die Zeit (2022)

In mir streiten sich
die Trauer über die blühende Jugend zweier Völker
und das Entsetzen über den Hass des Brandstifters.
Und beides
vertreibt mich vom Schreibtisch.

...

Schlechte Lyrik für die Zeit (2025)

In mir streiten sich
die Trauer über die blühende Jugend
und das Entsetzen über den Hass der Brandstifter.
Und beides
ignoriere ich am Schreibtisch.
 

Tula

Mitglied
Hallo sufnus
Glaube ich dir natürlich nicht, d.h. den allerletzten Vers. In der Tat sind manche Ereignisse so entsetzlich und verstörend, dass man sie nicht ohne weiteres aus dem Kopf schieben kann. Oder man schreibt gerade darüber, auch wenn's in Pamphleten endet ...

LG Tula
 

Perry

Mitglied
Hallo Snufus,
nicht das Schreiben ist das Problem, sondern die Machtlosigkeit.
Worte sind wie Sandkörner, nur in der Menge können sie Dünen zur Abwehr der Sturmflut des Rücksichtslosen bilden.
Gern ein Korn beigetragen und LG
Manfred
 

sufnus

Mitglied
Hey Tula & Perry!
Lieben Dank für Eure Reflexionen! Was die unglaubwürdig ins Absolute erhobene Behauptung des lyr. Ichs angeht, lieber Tula, so pflichte ich Dir teilweise bei. Insofern nur teilweise, weil eine Halbflucht aus der Realität, die noch einen Teilblick auf die Wirklichkeit zulässt, deren deprimierende Wucht aber etwas mindert, m. E. eine durchaus achtbare Defensivleistung von Literatur sein kann. Wenn schon nicht - horribile dictu - "kriegstüchtiger Literatur, dann zumindest "realitätstüchtiger" Literatur.
Auf dieser Linie würde ich die Deichbildungsfähigkeiten von Literatur gegen Sturmfluten, ein sehr schönes Bild, lieber Perry!, vor allem im Bereich der inneren Deichbildung sehen. Dafür dass Literatur wirklich eine Änderung der äußeren Verhältnisse bewerkstelligen kann, mag es einzelne Beispiele geben (allerdings finden sich hier sowohl Änderungen zum Guten als auch zum Schlechten), es ist aber doch wohl die Ausnahme. Ein innerlicher Kraftzuwachs durch Literatur ist allerdings auch bereits ein Effekt, der keineswegs zu unterschätzen ist. :)
LG!
S.
 

Agnete

Mitglied
ich würde da eine Entwicklung sehen, Sufnus. Wir leben damit und jeder reagiert anders darauf. der eine mit Larmoyanz, der andere mit Verdrängeen... Ändern aber können bede nichts. Und das ist das Scxhlimme daran... lG von Agnete
 

sufnus

Mitglied
Hey Agnete!
Vielen Dank für den Kommentar und die astrale Spende! :)
Und ja, zur Zeit kann man relativ leicht eine Entwicklung im äußeren Geschehen und im inneren Verarbeiten konstruieren, die jeweils eine Gefällstrecke bilden; so in etwa skizziert es auch diese Variation über ein Thema.
Ich selbst würde mir allerdings die beiden Haltungen des lyr. Ichs nur bedingt zu eigen machen.
LG!
S.
 

seefeldmaren

Mitglied
Ich las die Werke wieder und wieder, Sufnus. Was Politik betrifft, bin ich nicht "soooo" politisch, eher enthaltsam, was ich aus den Texten lernte, ist: Wie wichtig Singular und Plural sein können.

Richtige Zeit für echte Lyrik (2026)
blutende finger bibel als telefonbuch
abgenutzte schuhe für exilanten
strafverfolgte metaphern
zerren mich zum esstisch.


Mit freundlichen Grüßen zur Nacht Maren
 

sufnus

Mitglied
was ich aus den Texten lernte, ist: Wie wichtig Singular und Plural sein können.
Hey Maren!

Ich bin nicht 100% sicher, ob ich Dich in obigem Zitat richtig verstehe, aber ich greif es mal insofern auf, als man darin eine sanfte Kritik an einem grammatisch etwas kühnen Wechsel deuten könnte, nämlich dem von der Pluralform "X & Y streiten sich" zur Singularform "beides vertreibt mich".

Der Knackpunkt ist dabei aber m. E. weniger die Singular- oder Pluralform der Verben (streiten versus vertreibt bzw. ignoriere), denn die korrespondieren ja erstmal durchaus korrekt mit den Subjekten "Trauer" und "Entsetzen" (zwei Subjekte = Plural) bzw. dem Subjekt "beides" (Singular).
Allerdings ist dieses "beides" eine gewisse grammatische Herausforderung.

Man könnte durchaus etwas schreiben wie: "In mir regieren (Plural!) Trauer und Entsetzen und beide [Gefühle] vertreiben (Plural!) mich vom Schreibtisch". Bei diesem Beispiel werden durch das "beide" die Subjekte des ersten Teilsatzes (Trauer & Entsetzen) als gleichartige Subjekte des zweiten Teilsatzes wieder aufgegriffen und fordern erneut die Pluralform im Verb.
Wenn es aber heißt: "In mir regieren Trauer und Entsetzen und beides (!) vertreibt (!) mich vom Schreibtisch.", dann werden Trauer und Entsetzen im zweiten Teilsatz als zwei voneinander ganz getrennte Einflussgrößen betrachtet und nur ihre zusammengefasste Wirkung (die Wirkung = Singular) auf das lyr. Ich drückt sich eben im Vertriebenwerden aus.

Ein Erklärbeispiel:
(1) Als Hauptgericht stehen Schweinebraten oder Gemüselasagne zur Auswahl. Beides würde mir schmecken.
oder
(2) Als Hauptgericht stehen Schweinebraten oder Gemüselasagne zur Auswahl. Beide Gerichte würden mir schmecken.

In Beispiel (1) wird durch das "beides" die Unterschiedlichkeit von Schweinebraten und Gemüselasagne betont, während in Beispiel (2) durch die Ergänzung des Wortes "Gerichte" nach dem "Beide" klargemacht wird, dass beide (sic!) Entitäten in eine identischen Überkategorie (nämlich "Gericht") einsortiert werden können.

Zurück zum Gedicht: Hier wird durch das "beides" also hervorgehoben, dass Trauer und Entsetzen sehr unterschiedliche Seelenzustände sind, was zu dem "streiten" passt. Schriebe man "und beide (!) Gefühle vertreiben (!) mich vom Schreibtisch", betonte man eher ihre Ähnlichkeit.

Alles in allem kann man das grammatisch also schon so machen. Aber ist es auch "gutes Deutsch"? Da würde ich das Fragezeichen durchaus stehen lassen, denn es ist zumindest eine Formulierung, die sich nicht durch besondere Eleganz auszeichnet.
Es gibt aber in dem Doppelgedicht noch eine weitere Wendung, die ebenfalls seltsam schwerfällig und etwas sperrig rüberkommt und das ist der Titel. So gesehen löst das Gedicht sprachlich nur das ein, was der Titel bereits anmoderiert. Hier wäre dann darauf hinzuweisen, dass es neben der Spracheleganz bei Lyrik auch noch den Aspekt der "Relevanz" gibt. Ist ein nicht geschriebenes Gedicht (LyrIch wurde vom Schreibtisch vertrieben) oder ein eskapistisches Gedicht (LyrIch schaltet auf Ignore-Mode) angesichts des Krieges "relevant"? Und wie steht es um ein Gedicht, das eben die Frage der Relevanz thematisiert?

Also alles zurück auf Anfang? Schlechte Zeit für Lyrik?

LG!

S.
 

seefeldmaren

Mitglied
sanfte Kritik an einem grammatisch etwas kühnen Wechsel deuten könnte,
Hallo Sufnus,

ganz und gar keine Kritik! Da war ich zu nachlässig und zu vage. Im Moment ist viel los bei mir, sorry für das Missverständnis. Aber nu!

Der präzise Einsatz von Singular (des brandstifters) und Plural (der brandstifter) illustriert für mich die politische und psychologische Transformation: von persönlicher Betroffenheit und Ohnmacht hin zu einer allgemeinen Abstumpfung und Resignation gegenüber einer zunehmend akzeptierten Normalität der Gewalt. Dein Werkt ist, meiner Lesart nach, selbstironisch und anklagend zugleich. Schlechte Lyrik könnte bedeuten, dass das Gedicht nicht poetisch genug sei, dass es der Wirklichkeit nicht gerecht werde oder dass Lyrik generell in Krisenzeiten unzulänglich erscheint. Aber zugleich ist es auch eine Kritik an der Zeit selbst: Eine Epoche, in der die Möglichkeiten der Poesie und der Reflexion scheinbar wirkungslos werden.

2022 definiert klar eine Verantwortlichkeit, in diesem Kasus eine Person oder einen Staat. Bei "2025" hingegen gehört die Trauer der blühenden Jugend allgemein, ohne nationale Zuschreibung, ohne eine "nationale" Richtung. Der Singular weicht also dem Plural; was für mich darauf hindeutet, dass der Hass mittlerweile nicht mehr nur einem Einzelnen oder einer Partei zugeschrieben wird, sondern sich als ein verbreitetes oder systemisches Phänomen etabliert hat. Doch anstatt zu fliehen, ignoriere ich am Schreibtisch - eine bewusste Entscheidung zur Verdrängung oder zur distanzierten Resignation.

Und diese Feinheit wurde mir klar und das finde ich cool. Was das Gedicht politisch bewirken will, nun, dazu kann ich nichts sagen. Meine Fähigkeiten blühen in der Politik nicht auf. Dafür kann ich gut mit der Natur und mit der Philosophie.

Mit freundlichen Grüßen Maren
 

sufnus

Mitglied
Ei! Da hab ich bzgl. Deines Stichworts Singular-Plural das Naheliegendste übersehen … lag vermutlich daran, dass ich im Vorfeld so lange über dieses verzwickte "beides" nachgegrübelt hab, dass ich das gerne noch irgendwie loswerden wollte. :)
Die eindunkelnde Perspektivverschiebung von 2022 nach 2025 hast Du obig nochmal exakt aufgezeigt. Danke dafür! :)
LG!
S.
 



 
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