was ich aus den Texten lernte, ist: Wie wichtig Singular und Plural sein können.
Hey Maren!
Ich bin nicht 100% sicher, ob ich Dich in obigem Zitat richtig verstehe, aber ich greif es mal insofern auf, als man darin eine sanfte Kritik an einem grammatisch etwas kühnen Wechsel deuten könnte, nämlich dem von der Pluralform "X & Y streiten sich" zur Singularform "beides vertreibt mich".
Der Knackpunkt ist dabei aber m. E. weniger die Singular- oder Pluralform der Verben (streiten versus vertreibt bzw. ignoriere), denn die korrespondieren ja erstmal durchaus korrekt mit den Subjekten "Trauer" und "Entsetzen" (zwei Subjekte = Plural) bzw. dem Subjekt "beides" (Singular).
Allerdings ist dieses "beides" eine gewisse grammatische Herausforderung.
Man könnte durchaus etwas schreiben wie: "In mir regieren (Plural!) Trauer und Entsetzen und beide [Gefühle] vertreiben (Plural!) mich vom Schreibtisch". Bei diesem Beispiel werden durch das "beide" die Subjekte des ersten Teilsatzes (Trauer & Entsetzen) als gleichartige Subjekte des zweiten Teilsatzes wieder aufgegriffen und fordern erneut die Pluralform im Verb.
Wenn es aber heißt: "In mir regieren Trauer und Entsetzen und beides (!) vertreibt (!) mich vom Schreibtisch.", dann werden Trauer und Entsetzen im zweiten Teilsatz als zwei voneinander ganz getrennte Einflussgrößen betrachtet und nur ihre zusammengefasste Wirkung (die Wirkung = Singular) auf das lyr. Ich drückt sich eben im Vertriebenwerden aus.
Ein Erklärbeispiel:
(1) Als Hauptgericht stehen Schweinebraten oder Gemüselasagne zur Auswahl. Beides würde mir schmecken.
oder
(2) Als Hauptgericht stehen Schweinebraten oder Gemüselasagne zur Auswahl. Beide Gerichte würden mir schmecken.
In Beispiel (1) wird durch das "beides" die Unterschiedlichkeit von Schweinebraten und Gemüselasagne betont, während in Beispiel (2) durch die Ergänzung des Wortes "Gerichte" nach dem "Beide" klargemacht wird, dass beide (sic!) Entitäten in eine identischen Überkategorie (nämlich "Gericht") einsortiert werden können.
Zurück zum Gedicht: Hier wird durch das "beides" also hervorgehoben, dass Trauer und Entsetzen sehr unterschiedliche Seelenzustände sind, was zu dem "streiten" passt. Schriebe man "und beide (!) Gefühle vertreiben (!) mich vom Schreibtisch", betonte man eher ihre Ähnlichkeit.
Alles in allem kann man das grammatisch also schon so machen. Aber ist es auch "gutes Deutsch"? Da würde ich das Fragezeichen durchaus stehen lassen, denn es ist zumindest eine Formulierung, die sich nicht durch besondere Eleganz auszeichnet.
Es gibt aber in dem Doppelgedicht noch eine weitere Wendung, die ebenfalls seltsam schwerfällig und etwas sperrig rüberkommt und das ist der Titel. So gesehen löst das Gedicht sprachlich nur das ein, was der Titel bereits anmoderiert. Hier wäre dann darauf hinzuweisen, dass es neben der Spracheleganz bei Lyrik auch noch den Aspekt der "Relevanz" gibt. Ist ein nicht geschriebenes Gedicht (LyrIch wurde vom Schreibtisch vertrieben) oder ein eskapistisches Gedicht (LyrIch schaltet auf Ignore-Mode) angesichts des Krieges "relevant"? Und wie steht es um ein Gedicht, das eben die Frage der Relevanz thematisiert?
Also alles zurück auf Anfang? Schlechte Zeit für Lyrik?
LG!
S.