Muchnara 6
Schmutz der Welt
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang ging Aylene zu der kleinen Scheune. Hilde hatte ihr gesagt, sie solle sich hier einen Platz zum Übernachten vorbereiteten, da die trockene Jahreszeit sich ihrem Ende nähere und sie bei Regen nicht im ungeschützten Freien bleiben solle.
Als sie die Tür öffnete, verstand sie, weshalb eine Vorbereitung nötig war. Durch den Verlust der großen Scheune war Lagerraum auf dem Hof zur Mangelware geworden, und die gesammelte Strauchwolle war zwar verkauft, aber noch nicht abgeholt worden. So nahmen ihre weißen Ballen auch noch den letzten freien Winkel in der hoffnungslos überfüllten Scheune in Beschlag. Aylene sah daher nur eine Möglichkeit, sich Platz zu schaffen: Zuerst müsse sie einen Bereich völlig ausräumen und anschließend die Ballen irgendwie wieder in der restlichen Scheuen unterbringen.
Aylene schritt an die Ballen heran, die sich direkt hinter der Tür zu einer Wand auftürmten. Einen Moment gab sie sich dem befriedigenden Gefühl hin, vor den Früchten ihrer Arbeit zu stehen. Das war ihr Verdienst, sie hatte damit den Baragnars geholfen, die Folgen ihrer Tat zu überwinden. Sie spürte, wie erneut eine Last von ihrer Seele wich. Eine Last, die sie zuvor nicht bewusst bemerkt hatte, sondern erst jetzt, als sie von ihr glitt.
Die Strauchwolle war zu Quadern gepresst und mit Schnüren zusammengebunden worden. Beschwingt ergriff Aylene den obersten, sich auf Stirnhöhe befindlichen, Ballen an seinen Schnüren und zog ihn an sich. Er war zwar groß aber nicht schwer und so gelang es ihr ohne sonderliche Anstrengung, ihn vom Stapel zu ziehen. Als der Ballen jedoch seinen Halt verlor, fiel er für sie überraschend nach unten. Reflexartig wollte Aylene den Fall aufhalten, indem sie ihn an den Schnüren an sich heranriss. Doch der Ruck war zu hart und ließ ihn zerbrechen. Seines Zusammenhalts beraubt zerstob er in eine Wolke von Flocken, die vom nächsten Windstoß weiter aufgewirbelt wurde.
„Oh nein!“, rief Aylene erschrocken aus und versuchte die Flocken einzufangen.
Ragar und Farah waren bereits vor einer halben Stunde in das Haus gegangen, während Keron noch eine angefangene Arbeit zu Ende führen wollte. Als er Aylenes Schrei hörte, sah er hinüber zu der kleinen Scheune. Dort entdeckte er ihre schlanke Gestalt vor der offenen Tür, wie sie bis zu den Knien in einer weißen Wolke stand und mit den Armen um sich ruderte. Mit einem unterdrückten Fluch sprang er auf und rannte zu ihr hin.
„Was machst du denn da?“, rief er auf halbem Weg.
Aylene erschrak, als sie Keron erkannte. Sie gab ihre sinnlosen Bemühungen auf, die Flocken einzufangen, und starrte stattdessen jenen großen Mann an, der sie damals so drangsaliert hatte. Was würde jetzt passieren?
Doch auch Keron schien zu zögern. Für einen Moment starrte er zurück, und es schien sich nicht nur Ratlosigkeit, sondern auch Verlegenheit in seinem Gesicht zu spiegeln.
„Was...was machst du da?“, wiederholte er stockend.
Aylene hob langsam ihren rechten Arm und deutete auf die offene Scheunentür.
„Ich...Verzeihung...ich wollte etwas Platz schaffen...“
„Deinen Schlafplatz? Hilde erzählte mir davon.“
„Ja, aber ich werde es natürlich nur machen, wenn Ihr zustimmt.“
Keron winkte ab und ging zur Tür. Er stellte sich vor den Ballenstapel und schien ihn intensiv zu betrachten, als ob er ihn zum ersten Mal sehen würde. Dann drehte er sich um.
„Die Ballen darf man nicht an den Schnüren anfassen, man muss sie mit den Armen umfassen, sonst fallen sie auseinander“, meinte er sachlich. Er deutete auf eine hölzerne Vorrichtung in wenigen Schritten Entfernung. „Sammel die Strauchwolle ein und stopfe sie dort in die Presse hinein, ich mache dir inzwischen deinen Platz frei.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und fing an, die Ballen aus der Scheune zu tragen. Anstatt sie im Freien abzulegen, trug er sie kurzerhand in das Wohnhaus. Aylene sah ihm ungläubig nach. Warum half ausgerechnet er, der seinen Hass so deutlich gezeigt hatte, ihr? Sie wagte nicht zu fragen, stattdessen fing sie an, die verstreute Strauchwolle einzusammeln und zu der Presse zu bringen. Dabei versuchte sie Keron auszuweichen, indem sie ihre Schritte stets so wählte, dass sie bei der Presse war, wenn er wieder auf dem Weg war.
Als Aylene fertig war, ging sie zur Scheune, in der Keron seit einiger Zeit verschwunden war. Angespannt spähte sie zu der offenen Tür hinein.
„Oh!“, entfuhr es ihr ungewollt, als sie das Ergebnis von Kerons Bemühungen erblickte.
Keron kam hinter einem Kistenstapel hervor und deutete auf die von ihm freigeräumte Fläche. Sie war etwa drei Schritte lang und zwei Schritte breit.
„Im Haus haben wir noch Strohmatten, deine Decke musst du dir dagegen vom Feld mitbringen.“
„Danke, das ist sehr großzügig von Euch.“
„Das in der Scheune, das war doch keine Absicht, oder?“, fragte er unvermittelt. „Bitte verspreche mir, Farah kein Leid anzutun. Sie ist nur ein unschuldiges Kind.“
Aylene starrte Keron sprachlos an. Keron, der ihr Schweigen falsch interpretierte, fuhr fort:
„Oder sollten wir dich besser doch an die Soldaten zurückgeben? Meine Tochter vertraut dir, sie setzt sich für dich ein. Wenn du dich rächen willst, dann an mir, aber ...“
„Nein!“, unterbrach Aylene den immer aufgeregteren Redefluss. „Nein, ich wollte sie nie verletzen. Ich wollte überhaupt Niemanden verletzen. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte.“
„Indem du uns überfallen hast“, mischte sich Ragars Stimme unvermittelt ein.
Aylene drehte sich um. Ragar hatte sich ihnen unbemerkt bis auf zwei Schritte genähert, er winkte sie und Keron zu sich heran.
„Du hast uns überfallen, aber nicht, um irgendjemanden zu töten“, meinte Ragar zu Aylene, „auch wenn dieser Jazor das behauptet hat. Ich habe es ihm anfangs geglaubt, doch inzwischen zweifele ich daran, immer mehr. Jetzt, Aylene, ich will ich von dir die Wahrheit wissen, warum du uns überfallen hast.“
„Ich wollte Euch ausrauben und töten.“
„Das glaube ich dir nicht.“ Ragar schüttelte den Kopf. „Bei uns ist Nichts zu holen. Auch die Behauptung, dass du uns töten wolltest, glaube ich nicht, denn dann wärst du nicht zuerst in die Scheune eingedrungen, sondern in das Haus.“
„Was kann schlimmer sein als uns umbringen zu wollen?“, fragte Keron verwundert dazwischen.
Aylene hob abwehrend die Arme. „Ich habe es so gestanden, und sie würden einen Wiederruf nicht dulden.“
Ragar trat an Aylene heran und packte ihre Handgelenke. Sein Griff war fordernd, aber nicht hart.
„Aylene“, sagte er erstaunlich sanft. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich weiß inzwischen, wie dein Geständnis zustande kam, und ich möchte das nicht aussprechen. Mein Wort, Niemand wird von dem erfahren, was du uns erzählst. Doch ich trage die Verantwortung für meine Familie und muss die Wahrheit wissen.“ Er sah ihr in die Augen. „Bitte sage uns die Wahrheit, ich werde dich nicht bestrafen, egal, was du sagst.“
Aylene konnte seinem Blick nicht lange standhalten.
„Ich wollte Euch vertreiben“, sagte sie beschämt.
„Warum?“, fragte Ragar nur, ohne Vorwurf in der Stimme.
„Dies ist das Land meines Volkes. Auch meine Eltern lebten einst hier in der Umheide, bis Caron sie besetzte und sie vertrieb.“
„Und du meinst, wir hätten uns zu Unrecht auf geraubtem Land breit gemacht?“
„Ich wollte nur unser Land zurück.“
„Indem wir dorthin zurückkehren, woher wir kamen?“
Aylene nickte stumm.
Ragar ließ Aylenes Handgelenke los und sah zu Keron hinüber.
„Siehst du?“, fragte er mit feststellendem Ton.
„Ja, du hattest Recht“, meinte Keron.
Ragar wandte sich wieder Aylene zu.
„Wir kommen aus dem Kinitat, das euer Fürst Ezlom besetzen lies“, erklärte er.
Aylene senkte ihren Blick.
„Das habe ich nicht gewusst. Askar hat das auch nicht gewusst.“
„Du meinst Askar Herl, den Anführer deiner Bande?“
„Ihr wisst von ihm?“, fragte Aylene und sah überrascht auf.
„Dieser Herl ist hier eine berüchtigte Gestalt. Er soll so allerlei dunkle Geschäfte treiben und gute Beziehungen haben. Als ich erfahren habe, wer hinter deinem Überfall steckt, wurde mir so einiges klar.“ Ragar grinste schief. „Auch, weshalb die Soldaten damals so schnell zur Stelle waren. Vermutlich hatte Herl dich an sie verraten. So können sie einen Erfolg vorweisen und er bekam dafür Gold und seine Ruhe.“
„Was?“, rief Aylene entsetzt aus. „Das kann ich nicht glauben.“
Ragar machte eine bedauernde Geste.
„Das ist sicherlich bitter für dich.“ Er deutete auf ihren Halsring. „Leider kann ich dir nicht erlassen, was Caron dir aufbürdete, doch ich werde darum bitten. In meinen Augen bist du bereits jetzt keine Sklavin mehr. Du musst nur deine restliche Schuld abarbeiten, und danach, also in etwa einem Jahr, kannst du von mir aus gehen, wohin du möchtest. Bis dahin werden wir dich wie eine Magd behandeln. Aber verschweige das gegenüber Fremden ebenso wie alles Andere.“
Ragar wartete, bis die tief getroffen wirkende Aylene bestätigend nickte, dann deutete er in Richtung Norden, zu dem Weg, der zu den Strauchwollfeldern führte. „Gut, dann kannst du jetzt gehen. Die nächste Zeit wirst du am Vormittag die restlichen Strauchwollfelder abernten, Mittags bei uns essen und Nachmittags Hilde im Haushalt helfen.“
„Sie spricht wie eine gebildete Frau, doch dann so eine Dummheit“, meinte Keron zu seinem Vater, als Aylene außer Sicht war.
„Das sagst du, obwohl sie Farah fast getötet hätte?“, wunderte sich Ragar. „Es freut mich zwar, dass du endlich deinen Hass begraben konntest, doch Mitleid habe ich keines mit ihr. Sie hat uns überfallen, daran ändert auch der Verrat an ihr nichts.“
„Ich weiß, Vater, ich kann es nicht erklären.“
„Vielleicht hat Farah dich weich geredet?“, meinte Ragar scherzhaft.
Keron zuckte mit den Schultern.
„Mag sein, sie hat sich sehr für ihre neue Freundin eingesetzt“, er lächelte versonnen bei der Erinnerung daran.
„Das habe ich gehört“, grinste Ragar. „So lebhaft ist sie selten gewesen.“ Er wurde wieder ernst. „Sag besser kein Wort zu ihr.“
„Meinst du? Was ist mit Hilde?“
„Sie scheint ähnlich wie deine Tochter längst mit dem Herzen herausgefunden zu haben, wozu ich wochenlange Erkundigungen benötigte.“ Ragar sah seinen Sohn noch ernster an. „Solange wir nicht wissen, wer alles hinter der Sache steckt, müssen wir schweigen. Nur Hilde werde ich noch einweihen. Farah ist für den Schmutz der Welt noch zu jung.“
Schmutz der Welt
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang ging Aylene zu der kleinen Scheune. Hilde hatte ihr gesagt, sie solle sich hier einen Platz zum Übernachten vorbereiteten, da die trockene Jahreszeit sich ihrem Ende nähere und sie bei Regen nicht im ungeschützten Freien bleiben solle.
Als sie die Tür öffnete, verstand sie, weshalb eine Vorbereitung nötig war. Durch den Verlust der großen Scheune war Lagerraum auf dem Hof zur Mangelware geworden, und die gesammelte Strauchwolle war zwar verkauft, aber noch nicht abgeholt worden. So nahmen ihre weißen Ballen auch noch den letzten freien Winkel in der hoffnungslos überfüllten Scheune in Beschlag. Aylene sah daher nur eine Möglichkeit, sich Platz zu schaffen: Zuerst müsse sie einen Bereich völlig ausräumen und anschließend die Ballen irgendwie wieder in der restlichen Scheuen unterbringen.
Aylene schritt an die Ballen heran, die sich direkt hinter der Tür zu einer Wand auftürmten. Einen Moment gab sie sich dem befriedigenden Gefühl hin, vor den Früchten ihrer Arbeit zu stehen. Das war ihr Verdienst, sie hatte damit den Baragnars geholfen, die Folgen ihrer Tat zu überwinden. Sie spürte, wie erneut eine Last von ihrer Seele wich. Eine Last, die sie zuvor nicht bewusst bemerkt hatte, sondern erst jetzt, als sie von ihr glitt.
Die Strauchwolle war zu Quadern gepresst und mit Schnüren zusammengebunden worden. Beschwingt ergriff Aylene den obersten, sich auf Stirnhöhe befindlichen, Ballen an seinen Schnüren und zog ihn an sich. Er war zwar groß aber nicht schwer und so gelang es ihr ohne sonderliche Anstrengung, ihn vom Stapel zu ziehen. Als der Ballen jedoch seinen Halt verlor, fiel er für sie überraschend nach unten. Reflexartig wollte Aylene den Fall aufhalten, indem sie ihn an den Schnüren an sich heranriss. Doch der Ruck war zu hart und ließ ihn zerbrechen. Seines Zusammenhalts beraubt zerstob er in eine Wolke von Flocken, die vom nächsten Windstoß weiter aufgewirbelt wurde.
„Oh nein!“, rief Aylene erschrocken aus und versuchte die Flocken einzufangen.
Ragar und Farah waren bereits vor einer halben Stunde in das Haus gegangen, während Keron noch eine angefangene Arbeit zu Ende führen wollte. Als er Aylenes Schrei hörte, sah er hinüber zu der kleinen Scheune. Dort entdeckte er ihre schlanke Gestalt vor der offenen Tür, wie sie bis zu den Knien in einer weißen Wolke stand und mit den Armen um sich ruderte. Mit einem unterdrückten Fluch sprang er auf und rannte zu ihr hin.
„Was machst du denn da?“, rief er auf halbem Weg.
Aylene erschrak, als sie Keron erkannte. Sie gab ihre sinnlosen Bemühungen auf, die Flocken einzufangen, und starrte stattdessen jenen großen Mann an, der sie damals so drangsaliert hatte. Was würde jetzt passieren?
Doch auch Keron schien zu zögern. Für einen Moment starrte er zurück, und es schien sich nicht nur Ratlosigkeit, sondern auch Verlegenheit in seinem Gesicht zu spiegeln.
„Was...was machst du da?“, wiederholte er stockend.
Aylene hob langsam ihren rechten Arm und deutete auf die offene Scheunentür.
„Ich...Verzeihung...ich wollte etwas Platz schaffen...“
„Deinen Schlafplatz? Hilde erzählte mir davon.“
„Ja, aber ich werde es natürlich nur machen, wenn Ihr zustimmt.“
Keron winkte ab und ging zur Tür. Er stellte sich vor den Ballenstapel und schien ihn intensiv zu betrachten, als ob er ihn zum ersten Mal sehen würde. Dann drehte er sich um.
„Die Ballen darf man nicht an den Schnüren anfassen, man muss sie mit den Armen umfassen, sonst fallen sie auseinander“, meinte er sachlich. Er deutete auf eine hölzerne Vorrichtung in wenigen Schritten Entfernung. „Sammel die Strauchwolle ein und stopfe sie dort in die Presse hinein, ich mache dir inzwischen deinen Platz frei.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und fing an, die Ballen aus der Scheune zu tragen. Anstatt sie im Freien abzulegen, trug er sie kurzerhand in das Wohnhaus. Aylene sah ihm ungläubig nach. Warum half ausgerechnet er, der seinen Hass so deutlich gezeigt hatte, ihr? Sie wagte nicht zu fragen, stattdessen fing sie an, die verstreute Strauchwolle einzusammeln und zu der Presse zu bringen. Dabei versuchte sie Keron auszuweichen, indem sie ihre Schritte stets so wählte, dass sie bei der Presse war, wenn er wieder auf dem Weg war.
Als Aylene fertig war, ging sie zur Scheune, in der Keron seit einiger Zeit verschwunden war. Angespannt spähte sie zu der offenen Tür hinein.
„Oh!“, entfuhr es ihr ungewollt, als sie das Ergebnis von Kerons Bemühungen erblickte.
Keron kam hinter einem Kistenstapel hervor und deutete auf die von ihm freigeräumte Fläche. Sie war etwa drei Schritte lang und zwei Schritte breit.
„Im Haus haben wir noch Strohmatten, deine Decke musst du dir dagegen vom Feld mitbringen.“
„Danke, das ist sehr großzügig von Euch.“
„Das in der Scheune, das war doch keine Absicht, oder?“, fragte er unvermittelt. „Bitte verspreche mir, Farah kein Leid anzutun. Sie ist nur ein unschuldiges Kind.“
Aylene starrte Keron sprachlos an. Keron, der ihr Schweigen falsch interpretierte, fuhr fort:
„Oder sollten wir dich besser doch an die Soldaten zurückgeben? Meine Tochter vertraut dir, sie setzt sich für dich ein. Wenn du dich rächen willst, dann an mir, aber ...“
„Nein!“, unterbrach Aylene den immer aufgeregteren Redefluss. „Nein, ich wollte sie nie verletzen. Ich wollte überhaupt Niemanden verletzen. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte.“
„Indem du uns überfallen hast“, mischte sich Ragars Stimme unvermittelt ein.
Aylene drehte sich um. Ragar hatte sich ihnen unbemerkt bis auf zwei Schritte genähert, er winkte sie und Keron zu sich heran.
„Du hast uns überfallen, aber nicht, um irgendjemanden zu töten“, meinte Ragar zu Aylene, „auch wenn dieser Jazor das behauptet hat. Ich habe es ihm anfangs geglaubt, doch inzwischen zweifele ich daran, immer mehr. Jetzt, Aylene, ich will ich von dir die Wahrheit wissen, warum du uns überfallen hast.“
„Ich wollte Euch ausrauben und töten.“
„Das glaube ich dir nicht.“ Ragar schüttelte den Kopf. „Bei uns ist Nichts zu holen. Auch die Behauptung, dass du uns töten wolltest, glaube ich nicht, denn dann wärst du nicht zuerst in die Scheune eingedrungen, sondern in das Haus.“
„Was kann schlimmer sein als uns umbringen zu wollen?“, fragte Keron verwundert dazwischen.
Aylene hob abwehrend die Arme. „Ich habe es so gestanden, und sie würden einen Wiederruf nicht dulden.“
Ragar trat an Aylene heran und packte ihre Handgelenke. Sein Griff war fordernd, aber nicht hart.
„Aylene“, sagte er erstaunlich sanft. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich weiß inzwischen, wie dein Geständnis zustande kam, und ich möchte das nicht aussprechen. Mein Wort, Niemand wird von dem erfahren, was du uns erzählst. Doch ich trage die Verantwortung für meine Familie und muss die Wahrheit wissen.“ Er sah ihr in die Augen. „Bitte sage uns die Wahrheit, ich werde dich nicht bestrafen, egal, was du sagst.“
Aylene konnte seinem Blick nicht lange standhalten.
„Ich wollte Euch vertreiben“, sagte sie beschämt.
„Warum?“, fragte Ragar nur, ohne Vorwurf in der Stimme.
„Dies ist das Land meines Volkes. Auch meine Eltern lebten einst hier in der Umheide, bis Caron sie besetzte und sie vertrieb.“
„Und du meinst, wir hätten uns zu Unrecht auf geraubtem Land breit gemacht?“
„Ich wollte nur unser Land zurück.“
„Indem wir dorthin zurückkehren, woher wir kamen?“
Aylene nickte stumm.
Ragar ließ Aylenes Handgelenke los und sah zu Keron hinüber.
„Siehst du?“, fragte er mit feststellendem Ton.
„Ja, du hattest Recht“, meinte Keron.
Ragar wandte sich wieder Aylene zu.
„Wir kommen aus dem Kinitat, das euer Fürst Ezlom besetzen lies“, erklärte er.
Aylene senkte ihren Blick.
„Das habe ich nicht gewusst. Askar hat das auch nicht gewusst.“
„Du meinst Askar Herl, den Anführer deiner Bande?“
„Ihr wisst von ihm?“, fragte Aylene und sah überrascht auf.
„Dieser Herl ist hier eine berüchtigte Gestalt. Er soll so allerlei dunkle Geschäfte treiben und gute Beziehungen haben. Als ich erfahren habe, wer hinter deinem Überfall steckt, wurde mir so einiges klar.“ Ragar grinste schief. „Auch, weshalb die Soldaten damals so schnell zur Stelle waren. Vermutlich hatte Herl dich an sie verraten. So können sie einen Erfolg vorweisen und er bekam dafür Gold und seine Ruhe.“
„Was?“, rief Aylene entsetzt aus. „Das kann ich nicht glauben.“
Ragar machte eine bedauernde Geste.
„Das ist sicherlich bitter für dich.“ Er deutete auf ihren Halsring. „Leider kann ich dir nicht erlassen, was Caron dir aufbürdete, doch ich werde darum bitten. In meinen Augen bist du bereits jetzt keine Sklavin mehr. Du musst nur deine restliche Schuld abarbeiten, und danach, also in etwa einem Jahr, kannst du von mir aus gehen, wohin du möchtest. Bis dahin werden wir dich wie eine Magd behandeln. Aber verschweige das gegenüber Fremden ebenso wie alles Andere.“
Ragar wartete, bis die tief getroffen wirkende Aylene bestätigend nickte, dann deutete er in Richtung Norden, zu dem Weg, der zu den Strauchwollfeldern führte. „Gut, dann kannst du jetzt gehen. Die nächste Zeit wirst du am Vormittag die restlichen Strauchwollfelder abernten, Mittags bei uns essen und Nachmittags Hilde im Haushalt helfen.“
„Sie spricht wie eine gebildete Frau, doch dann so eine Dummheit“, meinte Keron zu seinem Vater, als Aylene außer Sicht war.
„Das sagst du, obwohl sie Farah fast getötet hätte?“, wunderte sich Ragar. „Es freut mich zwar, dass du endlich deinen Hass begraben konntest, doch Mitleid habe ich keines mit ihr. Sie hat uns überfallen, daran ändert auch der Verrat an ihr nichts.“
„Ich weiß, Vater, ich kann es nicht erklären.“
„Vielleicht hat Farah dich weich geredet?“, meinte Ragar scherzhaft.
Keron zuckte mit den Schultern.
„Mag sein, sie hat sich sehr für ihre neue Freundin eingesetzt“, er lächelte versonnen bei der Erinnerung daran.
„Das habe ich gehört“, grinste Ragar. „So lebhaft ist sie selten gewesen.“ Er wurde wieder ernst. „Sag besser kein Wort zu ihr.“
„Meinst du? Was ist mit Hilde?“
„Sie scheint ähnlich wie deine Tochter längst mit dem Herzen herausgefunden zu haben, wozu ich wochenlange Erkundigungen benötigte.“ Ragar sah seinen Sohn noch ernster an. „Solange wir nicht wissen, wer alles hinter der Sache steckt, müssen wir schweigen. Nur Hilde werde ich noch einweihen. Farah ist für den Schmutz der Welt noch zu jung.“