Schnee

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hein

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Schnee

Donnerstag


19:55 Uhr, NDR-Fernsehen, Regionalprogramm, Schleswig-Holstein-Magazin

Wetterbericht mit dem allseits geschätzten und in seinen Vorhersagen als sehr zuverlässig bekannten Meteorologen Meeno Schrader:

„Meeno, heute hatten wir ja wie von dir präzise vorausgesagt das übliche Schmuddelwetter mit ein paar eingestreuten Aufheiterungen. Aber wie wird es morgen?“
„Also, bis morgen früh um 09:27 hält sich noch der bekannte Mix aus starker Bewölkung, teilweise Nieselregen und einzelnen ergiebigen Schauern. Aber dann kommt eine abrupte Änderung: ein bereits über Norwegen liegendes starkes Hoch schiebt das seit Wochen wie festgenagelt über uns liegende Atlantik-Tief rabiat zur Seite und bringt uns arktische Kälte und sogar Schnee.“
„Schnee?“
„Ja, richtiger Schnee! Kein Hagel, Graupel, Schneeregen oder sonstiger Mischmasch! Kalte weiße Flocken, die langsam zur Erde gleiten und dort voraussichtlich sogar einige Tage liegen bleiben werden.
Das Hoch wird wie eben bereits gesagt um 09:27 von Nordwesten her zuerst die Insel Sylt erreichen, sich dann innerhalb von 1 Stunde und 47 Minuten über das ganze Land schieben und um ca. 11:14 Uhr bei Lauenburg die Elbe überqueren. Die erste Schneeflocke erwarte ich am Bahnhof von Westerland um 09:33 Uhr.“
„Danke Meeno, das ist doch mal eine gute Nachricht für alle, die morgen frei haben. Denjenigen, die noch arbeiten müssen raten wir dringend, sich rechtzeitig auf den Heimweg zu machen um dem zu erwarteten Verkehrschaos zu entgehen. Und vergessen sie nicht, beim Baumarkt vorbeizufahren und Streusalz, einen Schneeschieber und, soweit sie mit Kindern gesegnet sind, auch einen Schlitten mitzunehmen!“

20:00 Uhr, Berlin

Der diensthabende Mitarbeiter der rund um die Uhr (24/7 , wie man heutzutage sagt) besetzten Wetterberichtbeobachtungsstelle der Deutschen Bahn (DB) erfasst die sensationelle Neuigkeit aus dem Hohen Norden in sein System und verbreitet sie über den festgelegten Verteiler.

20:05 Uhr, Hamburg

Peter Frankenfeld steht im Badezimmer und bereitet sich auf ein Candlelight-Dinner mit seiner neuen, sehr jungen Freundin vor. In Hinblick auf den geplanten Übergang vom romantischen Vorgeplänkel zur heißen Liebesnacht sprüht er noch ein Extra-Portion Deo unter die Achseln und dazu einen leichten Spritzer zwischen die Schenkel.

Peter Frankenfeld ist leitende Mitarbeiter der DB und zuständig für Koordination und Planung des Zugverkehrs im ganzen norddeutschen Raum. Nur sein Beamtenstatus hat ihn bisher vor Konsequenzen seiner in Hinblick auf Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit miserablen Bilanz bewahrt. Sprich: er steht unter Druck!

Peter Frankenfeld, in freudiger Erwartung der nächsten Stunden, sieht erst mit einer Verzögerung von 10 Minuten die Eilmeldung des Wetterberichtbeobachters, und ist elektrisiert!
Schnee! Der Feind jeglichen Zugverkehrs! Mit Grausen erinnert er sich an das Schulungsvideo mit den Bildern von der Schneekatastrophe 1978/1979, das ganz Norddeutschland für Wochen lahmlegte. Diese Aussichten würden ihm die Verspätungsquote noch weiter versauen!
Aber Halt! In jedem Problem liegt auch eine Lösung! Genauso wie Wind führt Schneefall erfahrungsgemäß zu Verspätungen und Zugausfällen, die Einfluss auf den gesamten Verkehr im betroffenen Bereich, ja sogar auf das ganze Bundesgebiet haben. Und da hat sich in den letzten Jahren eine Maßnahme besonders bewährt: Einstellung jeglichen Verkehrs bis zum Abklingen der Wetterunbilden. Insbesondere für ihn persönlich relevant: ein gecancelter Zug ist kein Ausfall und kann sich nicht verspäten, das statische Maß an Pünktlichkeit würde sich dadurch also signifikant verbessern!

Peter Frankenfeld vergisst sein Rendezvous, er muss nach Sylt! Sofort! Da ihm die prekäre Zuverlässigkeit auf der Bahnstrecke Hamburg-Westerland nur allzu bekannt ist denkt er über die Nutzung eines Zuges gar nicht erst nach. Er muss fliegen! Sofort ruft er bei der in Berlin stationierten Flugbereitschaft der DB an und erhält, wider Erwarten und nur mit Einsatz der geballten Autorität seiner hohen Position, die Zusage für die Bereitstellung eines der sonst nur dem Vorstand vorbehaltenen
Lear-Jets.

Der Jet landet um 21:31 in Hamburg Fuhlsbüttel, hebt schon um 21:42 mit dem wichtigen Passagier wieder ab und erreicht den Flugplatz von Sylt um 21:59, also eine Minute vor Schließung. Der Fluglotse im Tower, ein wenig ungehalten wegen der späten Störung, lässt das Flugzeug nicht wieder starten, was für den Piloten eine Nacht in seiner Maschine bedeutet und dem Flughafen erhöhte Nutzungsgebühren einbringt.

Peter Frankenfeld, schon ganz hibbelig wegen der zu erwartenden Ereignisse, lässt sich von einem Taxi zum Bahnhof fahren, übernachtet dort auf einer Bank im Freien und steht – körperlich ähnlich derangiert wie nach der eigentlich geplanten Liebesnacht - um Punkt 9:30 Uhr am nördlichsten Ende der Gleise, dort wo das arktische Hoch zuerst auf das deutsche Schienennetz treffen soll.

Freitag

09:33 Uhr, Bahnhof Westerland/Sylt

Eine schneeweiße, wohlgeformte, schmetterlingsleichte, in diesen Breitengraden sehr selten gesehene, Schneeflocke tanzt vom Himmel direkt in Richtung des genau beobachteten Gleises und wird, nur einen Meter über dem Boden, von einem leichten Windhauch doch noch zur Seite versetzt und landet ca. 90 Zentimeter neben dem Ziel.

09:35 Uhr und 23 Sekunden, Bahnhof Westerland

Weitere Flocken sind gefallen, und jetzt ist es endlich soweit: Peter Frankenfeld starrt gebannt auf einen herrlichen Kristall, der genau auf der rechten Schiene landet, dort einige Sekunden liegen bleibt und dann doch von der Wärme des Metalls hinweg geschmolzen wird. Aber es genügt ihm: sofort hebt er das schon seit Stunden umklammerte Smartphone, wischt mit zitternden Fingern zur Nummer der Leitstelle in Elmshorn und befiehlt die sofortige Einstellung jeglichen Zugverkehrs im gesamten schleswig-holsteinischen Schienennetz.

09:37 Uhr, Bahnhof Westerland

Der vollbesetzte Zug Richtung Festland ruckelt an, fährt ca. 50 Meter, wird abgebremst und auf den Ausgangspunkt zurückgeschoben. Die Fahrgäste, durch jahrelange Erfahrung abgehärtet und mit sämtlichen Facetten des Bahnverkehrs vertraut, bleiben noch entspannt. Als jedoch die ersten Handys vibrieren und die aktuellen Informationen der Bahn ausspucken erhebt sich ein Gemurmel, übergehend in ein kollektives Stöhnen, bereits unterbrochen durch einzelne Schreie und endend in einem einzigen Wutausbruch! Die alten abgewirtschafteten Waggons ächzen und stöhnen, halten aber noch stand.

09:40 Uhr, Havneby auf der Insel Röm, Verwaltung der Fährlinie Röm-Sylt

Nachdem die Fähren für sie nächsten 3 Tage dreifach überbucht sind, bricht der Server mit der Reservierungssoftware zusammen.

09:40 Uhr, Flugplatz Sylt

Nachdem alle planmäßigen Flüge in den nächsten Tagen dreifach überbucht sind, bricht der Server mit der Reservierungssoftware zusammen. Der nebenbei für die IT zuständige Fluglotse reißt den Anschluss der Telefonanlage aus der Wand.

09:41 Uhr, Hörnum/Sylt

Einige Fischer, die zufällig im Hafen liegen, nehmen noch Reservierungen an und machen an dem Tag mehr Gewinn als sonst mit der Plackerei eines ganzen Jahres. Da auch diese Verkehrsmittel nach Minuten bereits hemmungslos überbucht sind, werden die Fahrgäste nur bis zur Hallig Langeneß gebracht, von wo aus sie ohne größere Probleme mit der – auch bei schlechtem Wetter einsatzbereiten – privat betriebenen Loren-Bahn bequem das Festland erreichen können. Die begrenzte Kapazität der Mini-Bahn führt allerdings dazu, dass die zuletzt abgesetzten Sylt-Flüchtlinge erst nach einer Woche weiterreisen können. Der örtliche Hotelier und die Besitzer der Loren machen das Geschäft des Jahres.
Für eine junge, allein reisende Frau endet dieses Abenteuer allerdings glücklich. Sie verliebt sich in einen örtlichen Bauernsohn, heiratet ihn – den örtlichen Anstandsregeln entsprechend – vor dem ersten richtigen Kuss, und kann nun das schon immer erträumte bäuerliche Leben genießen. Nur mit der regelmäßigen Überflutung der Hallig, hier als „Land-Unter“ bezeichnet, kann sie sich bis an ihr Lebensende nicht anfreunden.

10:02 Uhr, Bahnhof Westerland

Die Waggons des Autozuges werden wieder entladen. Die zusätzlichen Fahrzeuge verstopfen nun zusammen mit den noch wartenden Autos sämtliche Straßen im Großraum Westerland.
Einige Handwerker müssen noch heute das Festland erreichen. Diese masochistisch veranlagten jungen Männer (und ein Mädel) sind Fans des HSV und haben Karten für das morgige Spiel im Hamburger Volksparkstadion. Die Desperados fassen daher einen verwegenen Entschluss: gesteuert über die sozialen Medien finden sie sich in einem Naturschutzgebiet außerhalb Kampens zusammen, bilden mit ihren Pritschenwagen und Sprintern einen Konvoi, fahren geschlossen in Richtung des Hindenburgdammes, durchbrechen eine Sperre der Bundespolizei, machen zwei Absperrungen mitsamt der Schilder (Durchfahrt strengstens verboten!) platt und hoppeln entlang der Gleise Richtung Heimat.
Ein tiefergelegter Porsche, der sich in die Phalanx eingeschmuggelt hat, fährt nach kurzer Zeit auf einen Maulwurfshügel und kommt nicht mehr vor und zurück. Diese Behinderung kann von den praktisch veranlagten Männern jedoch innerhalb kürzester Zeit beseitigt werden: „vier Mann, vier Ecken“ wird das Yuppie-Spielzeug angehoben und in das angrenzende Watt gekippt. Der Fahrer kann sich gerade noch vor dem auflaufenden Wasser retten und erreicht nach einem zweitägigen Fußmarsch, halb verdurstet, krank und hungrig das rettende Festland, wo er vom örtlichen Seehundjäger aufgegriffen wird. Nach einer 4-wöchigen Fisch-Diät in der Seehundstation Friedrichskoog wird er als neuer Mensch wieder in die Freiheit entlassen. Auf Sylt wird er nie wieder gesehen.

10:45 Uhr, Fähranleger List

Eine Maus, die dringend zur Beerdigung eines nahen Verwandten auf die Insel Röm muss, versucht sich durch das Gewimmel an der Fähre durchzumogeln und sich auf das völlig überladene Schiff zu schleichen. Von der hartherzigen Besatzung unbarmherzig zurückgewiesen übersieht das verdatterte Tier ein von einem 89-jährigen Dänen geschobenes Pedelec und wird damit selbst zum Objekt einer Trauerfeier im engsten Familienkreis.

12:00 Uhr, Kampen, „Henrys Restaurant und Bar“

Hier haben sich alle nicht-permanenten-Bewohner der Insel zusammengefunden, die keinen Platz mehr im Flugzeug oder auf der Fähre ergattern konnten und jetzt, obwohl eigentlich noch für drei Wochen gebucht, unbedingt nach Hause müssen. Das Publikum setzt sich vor allem aus Ministerialbeamten, Industriellen bzw. deren nichtsnutziger Erbengeneration, Literaten und sonstigen Möchtegern-Künstlern, Publizisten und Journalisten zusammen. Zwei versprengte Handwerker halten sich im Hintergrund und hoffen, im Strom dieser Elite-Menschen mitschwimmen zu können und so das Wochenende doch noch zu retten.
Ein kürzlich wegen geringfügiger Unstimmigkeiten bei der Bezahlung von Fregatten vorzeitig, aber in allen Ehren, pensionierter Admiral bietet an, seine nach wie vor guten Beziehungen zum Verteidigungsminister zu nutzen und eine militärische Lösung anzustreben. Nach einem begeisterten Beifall und der Bildung einer Whatsapp-Gruppe geht man vorerst zu einem späten Lunch und einer ausgiebigen Mittagsstunde zurück in die individuellen Luxusbehausungen.
Lediglich ein Literat nutzt die Gelegenheit, verwickelt einen bekannten Verleger in ein tiefgründiges Fachgespräch über die neuesten Kreationen der örtlichen 3-Sterne-Köche, Vor- und Nachteile des neuesten Hybrid-Fahrzeuges von Porsche und den schlechten Straßen auf der Insel. Nebenbei nehmen beide einige hochprozentige Kostbarkeiten aus der örtlichen Destille zu sich, vergessen alles andere um sich herum und bekommen auch die aktuellen Informationen der eben gebildeten Whatsapp-Gruppe nicht mehr mit. Drei Tage später werden beide zusammen in der Ausnüchterungszelle der Ortspolizei aufwachen. Beim anschließenden gemeinsamen Frühstück wird der Verleger darüber nachsinne, wann er wohl den Vertrag über fünf Bücher und den vereinbarten Vorschuss von EUR 1.000.000 unterschrieben hat.

17:12 Uhr, irgendwo auf Sylt

Der Admiral schickt eine klandestine Botschaft über Whatsapp:
„19 Uhr 17; hinterste Ecke des Flugplatzes; absolute Geheimhaltung; kein Gepäck!“

19:18 Uhr, Flugplatz Sylt

Ein militärisches Transportflugzeug, unbeleuchtet und ohne Hoheitsabzeichen, hat das Flughafen-Radar unterflogen und ist ohne Anmeldung bei der örtlichen Flugleitung gelandet. Zwei Transporthubschrauber mit Spezialisten des „Kommando Spezialkräfte (KSK)“ sichern die Aktion aus der Luft ab. Eine Sportmaschine und die eben einschwebende planmäßige Linienmaschine können gerade noch durchstarten und müssen zu ihrem Abflugort zurückkehren.
Die eigentlich generalstabsmäßig vorbereitete minutenschnelle Verladung gerät zum Fiasko: die Leute sind alle vollbeladen mit Gepäck, das auf keinem Fall zurückbleiben darf. Der Admiral, geschult in allen möglichen Kriegsszenarien, handelt spontan und befielt die Landung der Hubschrauber. Die Kämpfer der KSK werden mitsamt Waffen und Munition herausgeworfen und dafür das überschüssige Gepäck verladen.
Nach 11 Minuten und 32 Sekunden sind Transportmaschine und Hubschrauber wieder in der Luft und verschwinden ohne Beleuchtung im aufkommenden Abendnebel. Die beiden mitreisenden jungen Handwerker genießen den ersten Flug ihres Lebens und beschließen spontan, sich bei der Luftwaffe zu bewerben.
Auf dem Flughafen erinnert einzig noch eine einsame Transportbox, gefüllt mit einem traurig dreinblickenden Schoßhund, an die eben abgeschlossene Aktion.

19:32 Uhr, Flugplatz Sylt

Der Führer der gestrandeten KSK-Soldaten analysiert die Lage, beschließt ein spontanes Überlebenstraining und lässt die Spezialisten in den nahegelegenen Dünen ein vorschriftsmäßiges Bunkersystem anlegen. Vielfach vorhandene Schilder mit der Aufschrift „Naturschutzgebiet, Zutritt strengstens verboten!“ sind willkommenes Baumaterial.

18:00 bis 24:00 Uhr, gesamte Insel Sylt

Die überforderte Stadtverwaltung sucht für die ca. 2.500 noch verbliebenen Bahnopfer händeringend Unterkünfte. Für ältere oder kranke Personen findet sich etwas in Schulen, Kindergärten und alten Bunkern. Für den vor allem aus jungen Leuten bestehenden Rest hat ein Praktikant bei der örtlichen Kurverwaltung eine Idee:
per Notstandsbeschluss des Gemeinderates werden alle auf der Insel auffindbaren Spirituosen (natürlich nur die im unteren Preissegment) requiriert.
Am Strand werden eine soundstarke Lautsprecheranlage sowie eine robuste Bar aufgebaut.
Die Spirituosen werden kostenfrei abgegeben.
Ab Sonntagmorgen wird der Alkohol sukzessive mit Wasser verdünnt, damit die Leute langsam ausnüchtern und am Montag wieder fit ihre beruflichen Tätigkeiten aufnehmen können.

9:55 Uhr, NDR-Fernsehen, Regionalprogramm, Schleswig-Holstein-Magazin
Wetterbericht mit dem allseits geschätzten und als sehr zuverlässig bekannten Meteorologen Meeno Schrader:

„Meine Damen und Herren, heute muss ich mich bei Ihnen entschuldigen! Entgegen meiner gestrigen Vorhersage erreichte das versprochene arktische Hoch leider nicht das nordfriesische Festland. Nur im Bereich des Bahnhofes von Westerland wurden insgesamt 27 Schneeflocken registriert, die aber in kürzester Zeit von der immer noch dominanten Warmfront vernichtet wurden.
Für die nächsten drei Wochen rechne ich weiter mit Schmuddelwetter.“


22:25 Uhr, Innenstadt von Westerland

Peter Frankenfeld irrt hungrig und durchgefroren durch die Stadt und klingelt zuletzt verzweifelt an der nächsten Tür. Eine Dame, Typ „Alte Jungfer“, erkennt seine Notlage, bittet ihn freundlich herein, päppelt ihn mit Suppe und Likör, steckt ihn unter die Dusche und lässt sich dann die Freundlichkeiten im warmen Federbett vergüten.

Samstag

Insel Sylt

Der Zugverkehr von und nach Sylt ist nach wie vor eingestellt. Der bei der DB für die Änderung dieses Zustandes einzig befugte Mitarbeiter ist verschollen.
Am Strand von Westerland werden einige junge Menschen mit Alkoholvergiftung aufgefunden, auf den in Hörnum stationierten Rettungskreuzer verfrachtet und zur Entgiftung in das Husumer Krankenhaus transportiert.

Vermisste Personen konnten mit Hilfe des DRK-Suchdienstes und/oder den sozialen Medien gefunden und somit die verzweifelten Angehörigen beruhigt werden.

Zwei junge Handwerker melden sich von einem Luftwaffenstützpunkt in Bayern, wo sie gerade zum Empfang ihrer Ausrüstung angetreten sind.

In den sozialen Medien kursieren Gerüchte, wonach zwei ehemalige Marinesoldaten mit Spezialausbildung für der Piratenbekämpfung an Bord eines vor der Insel ankernden Kreuzfahrtschiffes gelangt sein sollen. Die Passagiere, zur bekannten Spelunke „Sansibar“ ausgeschifft und beschäftigt mit der Verprobung erlesener Weine aus dem Hause „Feinkost Albrecht“, haben hiervon nichts mitbekommen. In der sich entwickelnden intensiven Diskussion setzt sich letztlich diejenige Fraktion durch, die dies für gefaked hält.

Ansonsten ist die Lage ruhig.

Sonntag

Insel Sylt

Verschiedene junge Personen haben sich in den Dünen verirrt und sind damit vom Nachschub an alkoholischen Getränken abgeschnitten. Lediglich das durch die Entzugserscheinungen verursachte Körperzittern bewahrt sie vor Erfrierungen.

Einige nicht so gut bemittelte Kurgäste monieren den Mangel an preiswerten Spirituosen. Der Hinweis auf die am Strand kostenlos zu erhaltenden Lebensmittel stellt auch dieses Klientel zufrieden.

Der dringend gesuchte Mitarbeiter der DB bleibt verschollen.

Ansonsten ist die Lage ruhig.

10:45 Uhr, Großraum Sylt

Ein Spähtrupp der KSK-Kommandos trifft auf eine Gruppe von jungen Frauen. Man erfährt, dass es sich hier um Studentinnen der Kunstgeschichte mit gesichertem finanziellem Background handelt. Die Damen erholen sich gerade in einer von einem der Väter großzügig zur Verfügung gestellten Ferienunterkunft vom stressigen Studentinnenleben. Es ergeht eine Einladung an die Soldaten, doch in die etwas bequemere Unterkunft mit einzuziehen.

11:45 Uhr, Dünenlandschaft Sylt

Der Spähtrupp berichtet von den erworbenen Erkenntnissen. Der Führer entscheidet spontan, den Übungsbetrieb vom Überlebenstraining auf Nahkampfausbildung umzustellen und die Einladung der Zivilistinnen anzunehmen.

21:57 Uhr, Westerland

Peter Frankenfeld kann sein zuletzt doch etwas unfreiwillig in Anspruch genommene Asyl durch ein Toilettenfenster verlassen. Vom nächsten Passanten der ihm begegnet leiht er sich dessen Handy und ruft die Leitstelle in Elmshorn an: „Wiederaufnahme des regulären Zugverkehrs Montagmorgen, 09:00 Uhr!“

Montag

11:00 Uhr, Wirtschaftsministerium Kiel

Der Wirtschaftsminister vereinbart mit einem heranzitierten Mitglied des Vorstands der DB eine Schadenersatzzahlung über EUR 700.000. Das im Kleingedruckten versteckte Empfängerkonto gehört zu einer der Partei des Ministers nahestehenden gemeinnützigen Vereinigung. Beide Seiten verpflichten sich zu absolutem Stillschweigen über diesen unbedeutenden Passus.
In der folgenden Pressekonferenz zeigt sich das Vorstandsmitglied des DB wortkarg und mit grimmigem Gesicht. Der Minister führt dies auf seine harte Verhandlungsführung und die hohe Summe zurück (spätere investigative Recherchen eines bekannten Nachrichtenmagazin ergeben jedoch ein anderes Bild: der gute Mann ist pissig, weil er wegen der verspäteten Rückkehr sein Lear-Jets von Sylt am Freitagmorgen nicht an einem wichtigen Golfturnier an der Cote d´Azur teilnehmen konnte).


Donnerstag nach dem betreffenden Wochenende

14:00 Uhr

Der Zugverkehr in Schleswig-Holstein hat sich nach den auch nachträglich immer noch als notwendig erachteten Maßnahmen vom Wochenende wieder normalisiert. Also reibungsloser Verkehr mit den üblichen Ausfällen und Verspätungen.

16:12 Uhr

Ein Lokführer meldet ein zwischen Klanxbüll und dem Hindenburgdamm nahe den Schienen liegendes Grasbüschel, das beim nächsten Sturm den Zugverkehr gefährden könnte. Eine sofort dahingeeilte Streife der Bundespolizei sowie ein später eintreffender leitender Mitarbeiter der DB-Station Niebüll bestätigen diese Einschätzung.

19:27 Uhr

Der komplette Zugverkehr in Schleswig-Holstein wird bis auf Weiteres eingestellt.

Gleich am nächsten Morgen wird die Beseitigung der Gefahrenstelle bundesweit ausgeschrieben. Ein Hausmeisterservice aus Chemnitz erhält den Zuschlag. Die sofort in Marsch gesetzten Mitarbeiter werden voraussichtlich am nächsten Dienstag eintreffen.

Auf die Beschreibung der Folgen dieses unvorhersehbaren Ereignisses wird hier verzichtet.


12 Tage nach dem betreffenden Wochenende

Die Elite-Soldaten stehen körperlich und geistig kurz vor dem Kollaps: jeden Tag Nahkampftraining! Da die Gastgeberinnen in der Überzahl sind müssen jeweils einige der Kameraden sogar zweimal am Tag ran. Und dann die Kommunikation: das endlose sinnfreie Geschnatter der Damen dringt in jede Windung des Gehirns, generiert Alpträume und depressive Verstimmungen. Bei einigen sind bereits Anzeichen von Schüttelneurosen (Kriegszittern) erkennbar.

2 Wochen nach dem betreffenden Wochenende

02:22 Uhr, Insel Sylt

Die KSK-Soldaten beschließen, die Schlacht als verloren anzusehen, verlassen in einer planmäßigen Absetzbewegung ihr Quartier und schlagen sich zum Bahnhof durch.

Eine vor Ort liegengebliebene Pistole wird Jahre später eine wichtige Rolle bei der Erbauseinandersetzung zwischen einer Industriellentochter und deren erheblich jüngeren Stiefmutter spielen.

2 Wochen und einen Tag nach dem betreffenden Wochenende

06:23 Uhr, Hindenburgdamm, Zug der Bundesbahn

Der Schaffner überlegt, ob es in seinen Dienstvorschriften ein Kapitel zum Umgang mit vollbewaffneten Fahrgästen gibt. Er entschließt sich dann aber, dies einfach zu übersehen und auch auf eine Kontrolle der Fahrkarten dieser Reisegruppe zu verzichten.

2 Wochen und zwei Tage nach dem betreffenden Wochenende

08:00 Uhr, irgendwo in Deutschland

Die KSK-Soldaten melden sich in ihrer Heimatkaserne zurück und beantragen geschlossen einen Erholungsurlaub von mindestens 6 Monaten, bevorzugt in einem Kampfgebiet im Mittleren Osten.

09:30 Uhr, Hamburg, Verwaltung der Deutschen Bundesbahn

Peter Frankenfeld wird wegen der am vorletzten Wochenende erreichten 100%igen Pünktlichkeit und 0% Zugausfällen befördert und 3 Minuten später in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Als Kompensation für den vorzeitigen Verlust seines Lebensmittelpunktes werden die Ruhestandsbezüge auf 120% des zuletzt erreichten Besoldungsniveaus angehoben.

6 Wochen nach dem betreffenden Wochenende

In Dubai verlassen zwei ehemalige Marinesoldaten, geplagt von einem erheblichen Übergewicht und einer beginnenden Fettleber, ein Kreuzfahrtschiff und bitten im örtlichen Konsulat um Reisegeld für die Rückkehr in die Heimat.

3 Monate nach dem betreffenden Wochenende

NRW / Kamener Kreuz

Auf einem ruhigen Parkplatz in der Nähe dieses strategisch günstig gelegenen Autobahnkreuzes haust seit einigen Wochen der Besitzer eines nagelneuen Porsche. Er hat sich in einem von den am Ort ihrer aufopferungsvollen Aufgabe nachgehenden Dienstleisterinnen aufgegebenen Wohnwagen eingerichtet und scheint einigermaßen zufrieden.
Auf vorsichtige Nachfrage nach dem Grund seines dort seins erhält man zur Antwort: „Fluchtmöglichkeiten in alle Richtungen“. Wie sich nach einiger Zeit herausstellt gibt es aber etwas, mit dem man den sonst so umgänglichen jungen Mann zur Raserei bringen kann: Fischgeruch!

6 Monate nach dem betreffenden Wochenende

Zwei junge Handwerker, denen man bei der Verpflichtung zum Dienst in der Luftwaffe die Ausbildung zum Kampfpiloten versprochen hatte, graben in den afghanischen Bergen eine neue Latrine für diesen verlorenen Außenposten.

Ca. 9 Monate nach dem betreffenden Wochenende

Der Pensionär Peter Frankenfeld empfängt einen Brief mit Poststempel von Sylt. Der Umschlag enthält lediglich ein Foto, das eine altjüngferlich wirkende Frau mit einem Baby auf dem Arm, anhand der Kleidung eindeutig als Junge zu identifizieren, zeigt.

Auf der Hallig Langeness wird eine zugereiste Frau von einem kräftigen Friesenjungen entbunden. Nach Berechnung der allgemein stets gut informierten Nachbarinnen fand die Entbindung nur 8 Monate und 29 Tage nach der Hochzeit des Elternpaares statt! Die Begriffe „vorher!“ und „unsittlich!“ folgen dem Ehepaar noch lange und verblassen erst nach der Konfirmation des Kindes.

Spätherbst nach dem betreffenden Wochenende

Insel Sylt

Der erste richtige Herbststurm schiebt seine Wogen bis weit in die Dünen, wo die lechzenden Ausläufer das verzweigte Bunkersystem finden, diese Schwachstelle gnadenlos ausnutzen und eine bis weit ins Binnenland reichende Lücke reißen.
Ein im militärischen-industriellen Komplex beheimateter Industrieller sieht seine jetzt nahe an der Wasserlinie liegende Ferienbehausung gefährdet und lässt seine gut geschmierten, bis zur Spitze des Verteidigungsministeriums reichenden, Verbindungen spielen. Nach zwei Stunden erhält er die verbindliche Zusicherung, dass der Schaden im nächsten Frühjahr durch umfangreiche Sandvorspülungen vollumfänglich behoben wird. Die voraussichtlichen Kosten von EUR 11.700.000 EUR werden im Verteidigungsetat umgeschichtet. Die Anschaffung von dringend benötigten Schutzwesten für die im Mittleren Osten kämpfende Truppe wird stillschweigend um zwei Jahre verschoben.

Frühjahr nach dem betreffenden Wochenende

Hindenburgdamm

Das Wrack eines PKW der Marke „Porsche“, inzwischen in der Farbe „Rostrot“ und schon einiger Blechteile verlustig, liegt immer noch an der Flutkante. Vorbeifahrende Zugpassagiere sind einmütig der Ansicht, dass dies keine gute Werbung für „Made in Germany“ darstellt. Der Vorstand der Firma Porsche hört von diesem Missstand und lässt die Überreste durch einen Hubschrauber abtransportieren.

Die Sichtung eines unbekannten Flugobjektes in der Nähe des Hindenburgdammes löst eine Alarmmeldung bei der Deutschen Bahn aus. Der Zugverkehr in Schleswig-Holstein wird auf unbestimmte Zeit eingestellt.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Hein,
ich habe mich beim Lesen köstlich amüsiert.
Was in diesem Zyklus noch fehlt, ist eine NEBELSTORY! :cool:
Ich hoffe, sie wird bald folgen ...
Wir lesen uns!
Herzlichst
yours Hagen
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LEBEN heißt rückwärts gesprochen NEBEL.
Das ist auch der Grund warum ich nie durchblicke.
 

hein

Mitglied
Hallo Hagen,

danke für sie Anregung und die Sterne.

Nebel ist ein guter Ansatz, die Frage ist nur wer damit Probleme haben könnte. Der Fährverkehr hier oben ist doch relativ robust dem Wetter gegenüber.

LG
hein
 



 
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