Schneewittchen II

eli-fant

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Es war einmal eine Königstochter von großer Schönheit, der man wegen ihrer zarten weißen Haut, den roten Lippen und dem ebenholzschwarzen Haar den Namen Schneewittchen gegeben hatte. Unglücklicherweise aber hatte das Mädchen eine Stiefmutter, für die ihr eigenes gutes Aussehen das Wichtigste der Welt war und deren Neid auf die Jüngere von Tag zu Tag wuchs. Schließlich ließ sie Schneewittchen, in der Annahme, es würde dort umkommen, im Wald aussetzen.
Nach einigem Umherirren stieß das Mädchen dort auf ein kleines Häuschen, das von sieben Zwergen bewohnt wurde. Diese erklärten sich bereit, es bei sich aufzunehmen - unter einer Bedingung:
"Wenn du uns den Haushalt führst, dich geschickt anstellst und fleißig bist, kannst du bei uns einziehen."
Schneewittchen wußte nicht, wohin es sonst hätte gehen sollen, also nahm es das Angebot an.

Die eitle Stiefmutter verbrachte unterdessen weiterhin viel Zeit vor ihrem Spiegel - einem besonderen Spiegel, der die Eigenschaft hatte, ihre Fragen zu beantworten. Wieder einmal wollte sie wissen, ob sie die Schönste im ganzen Lande sei.

"Frau Königin - Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr..."

Da lief die Königin grün an vor Zorn.
"Dieses Miststück - hat es sich also doch durchgeschlagen!"
Auf der Stelle ließ sie sich alle Möglichkeiten, das Mädchen doch noch umzubringen, durch den Kopf gehen.
"Gift!" dachte sie. "Ein vergifteter Kamm - oder vielleicht besser ein vergifteter Apfel?"
Da ließ sich der Spiegel abermals vernehmen:

"O habt Geduld, vergeßt den Neid -
denn was Ihr wollt, besorgt die Zeit:
Wer Tag für Tag nur kocht und strickt,
näht, bügelt, wäscht und Socken flickt,
Fußböden schrubbt und Betten lüftet,
ist binnen kurzem wie vergiftet."

Die Königin horchte auf.
"Meinst du wirklich? Wenn sie bei den Zwergen tatsächlich so nach und nach ihre Anmut und ihren Liebreiz verliert, könnte ich es mir sparen, sie um die Ecke zu bringen ... Nun, ich will dir glauben - du hast bis jetzt immer die Wahrheit gesagt."
Dann klingelte sie nach ihrer Zofe, um sich umkleiden und frisieren zu lassen.

Schneewittchen mußte bei den Zwergen hart arbeiten. Schon lange vor Tagesanbruch hatte es aufzustehen, Wasser vom Brunnen zu holen, den Ofen einzuheizen und die Morgenmahlzeit für die sieben Gesellen zu richten, die sich sodann aufmachten, um ihrer Arbeit in einem Bergwerk nachzugehen. Den ganzen Tag über hatte das Mädchen kaum einen Atemzug lang Zeit, sich auszuruhen. Als die Zwerge merkten, daß es willig und gutmütig war, wurden sie anspruchsvoller - es mußte ihnen die Haare stutzen und sogar die Zehennägel schneiden. Jeden Abend fiel Schneewittchen erschöpft in ihr Bett und stand morgens unausgeschlafen und mürrisch wieder auf.

Nun begab es sich, daß einem Königssohn aus einem benachbarten Land die Geschichte von dem schönen Schneewittchen zu Ohren kam. Da er eine Gemahlin suchte und ein unternehmungslustiger Mann war, machte er sich auf den Weg zum Zwergenhaus.
Eines nachmittags traf er dort ein. Im Garten entdeckte er eine graugekleidete Frau, die am Boden kniete und Unkraut jätete.
"Hm, ob sie das sein kann...?"
Freundlich grüßte er und erkundigte sich, ob er im Häuschen übernachten könne.
Schneewittchen rappelte sich auf.
"Scheiße!" dachte es. "Noch ein Mann - und ein großer, breitschultriger noch dazu. Die essen viel und ich werde zum Abendessen ein paar Kartoffeln mehr schälen müssen. Das hat mir gerade noch gefehlt."
Brummig bat es den Fremden ins Haus.

Die Zwerge kamen nach Hause und man aß zu abend. Der Prinz beobachtete Schneewittchen, das immer wieder vom Tisch aufsprang, um die Wichte zu bedienen, etwas aus der Küche zu holen oder schmutziges Geschirr hinauszutragen. Es fiel ihm schwer, sich das Mädchen mit der blassen Haut, dessen Lippen rissig und dessen Haare zwar schwarz wie Ebenholz, aber glanzlos und strähnig waren, in einem königlichen Gewand an seiner Seite vorzustellen. Da er während des ganzen Abends kaum eine Gelegenheit gehabt hatte, das Wort an es zu richten, beschloß er, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, sobald die Zwerge zu Bett gegangen waren. Doch nachdem Schneewittchen das Geschirr gespült hatte, war es zum Umfallen müde und antwortete gereizt und einsilbig auf die Fragen des jungen Mannes.
"Morgen habe ich auch noch Waschtag", dachte es entmutigt.
Der Prinz gab es bald auf, Schneewittchen näher kennenzulernen, ging zu Bett und reiste am darauffolgenden Morgen enttäuscht ab. Er beschloß, auf dem Heimweg einen Abstecher zum nahegelegenen Wohnsitz eines Herzogs zu machen, dessen Tochter noch unverheiratet war. Deren Schönheit wurde zwar nicht so gerühmt, wie die des legendären Schneewittchen, sie sollte jedoch klug und fröhlich sein.

"Mann oh Mann!" stöhnte einer der Zwerge an diesem Tag auf dem Weg zur Arbeit. "Das wäre gerade nochmal gutgegangen gestern abend, wie? Der war ganz eindeutig auf Brautschau hier. Was für ein Glück, daß sie ihm nicht gefallen hat. Wär' ein ganz schöner Mist gewesen, wenn wir unsere Haushälterin losgeworden wären. Wir sollten in Zukunft aufpassen, daß sich nicht zu viel Besuch in unserem Häuschen rumtreibt."
"Das meine ich auch, Kumpel", stimmte ein anderer zu. "So gemütlich wie jetzt hatten wir es noch nie. Immer eine saubere Bude - und die Pfannkuchen, die sie macht...!"
"Man sieht es dir auch an, wie's dir schmeckt. Hast dir in letzter Zeit ein ordendliches Bäuchlein angefressen", wurde er geneckt.
"Ich war eben schon immer für gutes Essen", gab der Angesprochene zurück. "Dir hingegen scheint es besser zu gefallen, wenn sie dir in der Badewanne den Rücken schrubbt. Machst immer ein ganz seliges Gesicht!"
Alle sieben lachten laut.

Die Jahre kamen und gingen und brachten nichts Neues für Schneewittchen. Mit der Zeit wurde es mager und unscheinbar und gewöhnte sich eine gebückte Haltung an, die es ihm leichter machte, sich in dem niedrigen Häuschen zu bewegen.
Immer wieder hatte es nachts einen Traum.
Halb lebendig und halb tot lag es in einem gläsernen Sarg. Es konnte die Welt draußen sehen und wollte hinaus, um am Leben teilzuhaben, war aber nicht fähig dazu. Naßgeschwitzt und erfüllt von Panik erwachte es dann.
"Ich möchte so nicht weiterleben, irgendetwas muß ich tun, ehe es zu spät ist", dachte es verzweifelt und voll Sehnsucht. "Aber was?" Zwar schmiedete es manchmal, während es den Boden scheuerte oder schmutzige Wäsche einweichte, vage Pläne, davonzulaufen und irgendwo ganz neu zu beginnen, doch setzte es diese niemals in die Tat um. Es wußte ja nicht, wohin es gehen und was es anfangen sollte und es fürchtete sich vor dem dunklen Wald. Obendrein verspürte es ein schlechtes Gewissen den Zwergen gegenüber, denen es doch versprochen hatte, für sie zu sorgen.

So kommt es, daß Schneewittchen bis auf den heutigen Tag im Zwergenhäuschen sein Dasein fristet. Wir wollen ihm wünschen, daß der Spiegel der bösen Königin nicht Recht behält und es dem Mädchen eines Tages vielleicht doch noch gelingt, seinem Leben eine andere Wendung zu geben.
 



 
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