Schnitzeljagd
Als der Schein der Lampignons immer deutlicher die anbrechende Nacht erhellte und die dürren Äste der hohen Bäume wie Krallen aussehen ließ, die nach ihr griffen, bekam Erika es langsam mit der Angst zu tun.
Sei immer zu Hause, bevor es dunkel wird, hörte sie ihre Mutter sagen. Sie war im Wohnzimmer gestanden und hatte das rosa Kleidchen gebügelt, das sie zu Millys Geburtstagsfeier anziehen wollte. Es durfte nicht dreckig werden, sie hatte es ihrer Mutter versprechen müssen. Ehrenwort!, hatte Erika geantwortet und die braunen Augen ihrer Mutter hatten amüsiert aufgeblitzt beim Anblick des ernsten Gesichts ihrer Tochter.
Aber Erika erinnerte sich auch an dieselben Augen, die sie voll Besorgnis einige Wochen zuvor gemustert hatten. Sie wollte ihrer Mutter eine Zeichnung zeigen – ein schöner Regenbogen mit Vögeln und einer lachenden Sonne – und fand sie schließlich im Wohnzimmer. Sie hatte die Fernbedienung in der Hand und hatte sich halb vom Sofa erhoben. Erika hatte noch ein paar Worte über ein verschwundenes Kind von einem Mann im Fernsehen aufgeschnappt, bis ihre Mutter den Fernseher ausschaltete. Es war ihr in dem Moment nicht wichtig, sie wollte ihr endlich ihre Zeichnung zeigen, aber ihre Mutter hatte sie nur zu sich hergezogen und ihr gesagt, sie dürfe nirgends alleine hingehen. Ob sie das verstanden habe? Ja, hatte Erika geantwortet und in die Augen gesehen, die so anders gewesen waren als sonst.
Sei immer zu Hause, bevor es dunkel wird.
Geh nirgends alleine hin, hast du gehört?
Erika schluckte schwer. Beide Regeln hatte sie heute gebrochen. Ihre Mutter würde böse sein. Und nicht nur deshalb. Auch das Kleid... Sogar jetzt noch hoben sich die schwarzen Flecken der Walderde ab von der beginnenden Dunkelheit. Am liebsten hätte sich Erika hingesetzt und hätte geweint. Aber das durfte sie jetzt nicht. Dann wäre das Kleid noch schmutziger geworden und sie würde die Letzte sein.
Sie durfte nicht die Letzte sein, sonst hätte sie ja vollkommen umsonst hier zwischen den Bäumen gesucht. Sie liebte Schnitzeljagd, aber mit Milly war es nicht so lustig. Sie schummelte nämlich. Gespielt wird nur im Garten und ums Haus herum, hatte Millys Vater der Kinderschar erklärt und die Startzettelchen verteilt. Geht nicht in den Wald hinein, in Ordnung? Alle hatten brav genickt, aber Emily hatte Millys hämischen Blick und ihr Grinsen bemerkt.
Da hatte sie es gewusst. Sie hatte gewusst, dass Milly die Zettel schon vorher gelesen und einen ausgetauscht hatte, so dass niemand den letzten Zettel finden konnte außer ihr, weil er zwischen den Bäumen versteckt war.
Aber Erika war nicht dumm. Sie würde Milly nicht gewinnen lassen, auch wenn es ihr Geburtstag war. Schummeln durfte man nicht, das war gemein.
Da der Garten direkt an den Wald angrenzte, war es leicht für sie gewesen, unbemerkt zwischen den Bäumen zu verschwinden, während alle anderen im Gemüsebeet suchten.
Erika würde die Schnitzeljagd gewinnen und den Preis dann stolz ihrer Mutter zeigen, ihr ihn vielleicht sogar schenken, so dass sie gar nicht mehr böse auf sie sein konnte. Wegen dem Kleid und allem.
Entschlossen wischte sie mit einer Handbewegung eine Locke aus dem Gesicht und hinterließ dabei einen dunklen Streifen auf ihrer Stirn. Ihre Hände waren noch schmutziger als ihr schönes Kleidchen, schließlich hatte sie schon beim kleinsten Verdacht eines schimmernden weißen Zettels in der feuchten Erde gewühlt. Bisher waren es immer nur Steine gewesen.
Erika umrundete den nächsten dicken Baumstamm, immer darauf bedacht, den unheimlich aussehenden Zweigen auszuweichen und den Schimmer der Lampignons nicht aus den Augen zu verlieren. Sie wollte sich bestimmt nicht verlaufen. Wie Hänsel und Gretel, kam es ihr in den Sinn. Aber die haben ja auch wieder zurückgefunden... Plötzlich knackte etwas hinter ihr und sie drehte sich erschrocken um, doch da war nichts. Der Wolf!, dachte sie erschrocken und presste sich unwillkürlich an den nächsten Baumstamm. Der Wolf, von dem Milly ihr erzählt hatte. Der Wolf, von dem ihre Mutter ihr erzählt hatte, in dem Märchen... Aber Millys Wolf war echt. Milly hörte sein Heulen oft in der Nacht von ihrem Zimmerfenster aus, hatte sie ihr gesagt.
Jetzt war aber keine Zeit zum Fürchten. Immerhin durfte sie nicht gegen Milly verlieren! Erika packte all ihren Mut zusammen und wollte einen Schritt Richtung Garten machen, weg von dem großen, starken Baum, der ihr Schutz bot – aber die Krallen waren da und hielten sie fest. Mit einem kurzen Aufschrei riss sie sich von den Zweigen los, die sich in ihren Haaren verfangen hatten und stand nun zitternd in der Dunkelheit. Erika hatte die Orientierung verloren. Sie sah das Licht der Lampignons nicht mehr, obwohl sie doch extra in ihrer Nähe geblieben war. Wahrscheinlich musste sie sich einfach umdrehen...
Sie konnte nicht. Wenn sie nur einen Schritt täte, würde der Wolf sie hören. Er würde sie verschlingen wie die arme Großmutter in dem Märchen, das ihre Mama... Niemand würde jemals mehr eine Spur von ihr finden und sie konnte ihrer Mama nicht mehr sagen, dass es ihr Leid täte mit dem Kleid...
Ein Zweig knackte unter dem Gewicht eines sich nähernden Mannes. Oder war es der Wolf? Erika wollte rennen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen? Sie schloss ganz fest die Augen.
Ein weiterer Zweig. Noch einer. Er war jetzt ganz nah.
Ihr letzter Gedanke galt dem Mann im Fernsehen und daran, dass sie nun eines der verschwundenen Kinder sein würde, von denen er gesprochen hatte. Dann packte sie eine große Hand von hinten an der Schulter.
„Erika, was machst du denn hier draußen?“ Erschrocken öffnete sie die Augen und drehte sich zu der bekannten Stimme um. Millys Vater. „Du sollst hier nicht alleine herumgeistern, noch dazu, wenn es schon dunkel wird!“
Die Worte ihrer Mutter.
„Ich weiß“, antwortete Erika und ihre Augen wurden feucht. „Es tut mir leid...“
„Lass uns zu den anderen zurückgehen.“ Er lächelte freundlich und nahm sie bei der Hand. „Komm.“
Sie nickte stumm und folgte ihm. Nach einigen Schritten wurde ihr bewusst, dass kein Wolf sie holen, dass sie keines der verschwundenen Kinder sein würde und der Gedanke an Rechtfertigung regte sich in ihr. „Es war doch nur wegen der Schnitzeljagd!“, begann sie und die knackenden Zweige unter ihren Füßen kamen ihr nun gar nicht mehr furchteinflößend vor. „Weil Milly doch den Zettel bestimmt –“
Als hätte sie nur das magische Wort aussprechen müssen, sah sie plötzlich etwas Weißes unter der Wurzel eines Baumes nicht weit von ihr schimmern.
„Der Zettel!“, rief sie, riss sich von der Hand los und rannte darauf zu. „Ich wusste, dass Milly schummeln würde!“ Sie kniete sich hin und streckte die Hand danach aus.
Im schwachen Schein der Lampignons sieht selbst ein kaltes Stück toter Haut aus wie ein Fetzen Papier.
Als der Schein der Lampignons immer deutlicher die anbrechende Nacht erhellte und die dürren Äste der hohen Bäume wie Krallen aussehen ließ, die nach ihr griffen, bekam Erika es langsam mit der Angst zu tun.
Sei immer zu Hause, bevor es dunkel wird, hörte sie ihre Mutter sagen. Sie war im Wohnzimmer gestanden und hatte das rosa Kleidchen gebügelt, das sie zu Millys Geburtstagsfeier anziehen wollte. Es durfte nicht dreckig werden, sie hatte es ihrer Mutter versprechen müssen. Ehrenwort!, hatte Erika geantwortet und die braunen Augen ihrer Mutter hatten amüsiert aufgeblitzt beim Anblick des ernsten Gesichts ihrer Tochter.
Aber Erika erinnerte sich auch an dieselben Augen, die sie voll Besorgnis einige Wochen zuvor gemustert hatten. Sie wollte ihrer Mutter eine Zeichnung zeigen – ein schöner Regenbogen mit Vögeln und einer lachenden Sonne – und fand sie schließlich im Wohnzimmer. Sie hatte die Fernbedienung in der Hand und hatte sich halb vom Sofa erhoben. Erika hatte noch ein paar Worte über ein verschwundenes Kind von einem Mann im Fernsehen aufgeschnappt, bis ihre Mutter den Fernseher ausschaltete. Es war ihr in dem Moment nicht wichtig, sie wollte ihr endlich ihre Zeichnung zeigen, aber ihre Mutter hatte sie nur zu sich hergezogen und ihr gesagt, sie dürfe nirgends alleine hingehen. Ob sie das verstanden habe? Ja, hatte Erika geantwortet und in die Augen gesehen, die so anders gewesen waren als sonst.
Sei immer zu Hause, bevor es dunkel wird.
Geh nirgends alleine hin, hast du gehört?
Erika schluckte schwer. Beide Regeln hatte sie heute gebrochen. Ihre Mutter würde böse sein. Und nicht nur deshalb. Auch das Kleid... Sogar jetzt noch hoben sich die schwarzen Flecken der Walderde ab von der beginnenden Dunkelheit. Am liebsten hätte sich Erika hingesetzt und hätte geweint. Aber das durfte sie jetzt nicht. Dann wäre das Kleid noch schmutziger geworden und sie würde die Letzte sein.
Sie durfte nicht die Letzte sein, sonst hätte sie ja vollkommen umsonst hier zwischen den Bäumen gesucht. Sie liebte Schnitzeljagd, aber mit Milly war es nicht so lustig. Sie schummelte nämlich. Gespielt wird nur im Garten und ums Haus herum, hatte Millys Vater der Kinderschar erklärt und die Startzettelchen verteilt. Geht nicht in den Wald hinein, in Ordnung? Alle hatten brav genickt, aber Emily hatte Millys hämischen Blick und ihr Grinsen bemerkt.
Da hatte sie es gewusst. Sie hatte gewusst, dass Milly die Zettel schon vorher gelesen und einen ausgetauscht hatte, so dass niemand den letzten Zettel finden konnte außer ihr, weil er zwischen den Bäumen versteckt war.
Aber Erika war nicht dumm. Sie würde Milly nicht gewinnen lassen, auch wenn es ihr Geburtstag war. Schummeln durfte man nicht, das war gemein.
Da der Garten direkt an den Wald angrenzte, war es leicht für sie gewesen, unbemerkt zwischen den Bäumen zu verschwinden, während alle anderen im Gemüsebeet suchten.
Erika würde die Schnitzeljagd gewinnen und den Preis dann stolz ihrer Mutter zeigen, ihr ihn vielleicht sogar schenken, so dass sie gar nicht mehr böse auf sie sein konnte. Wegen dem Kleid und allem.
Entschlossen wischte sie mit einer Handbewegung eine Locke aus dem Gesicht und hinterließ dabei einen dunklen Streifen auf ihrer Stirn. Ihre Hände waren noch schmutziger als ihr schönes Kleidchen, schließlich hatte sie schon beim kleinsten Verdacht eines schimmernden weißen Zettels in der feuchten Erde gewühlt. Bisher waren es immer nur Steine gewesen.
Erika umrundete den nächsten dicken Baumstamm, immer darauf bedacht, den unheimlich aussehenden Zweigen auszuweichen und den Schimmer der Lampignons nicht aus den Augen zu verlieren. Sie wollte sich bestimmt nicht verlaufen. Wie Hänsel und Gretel, kam es ihr in den Sinn. Aber die haben ja auch wieder zurückgefunden... Plötzlich knackte etwas hinter ihr und sie drehte sich erschrocken um, doch da war nichts. Der Wolf!, dachte sie erschrocken und presste sich unwillkürlich an den nächsten Baumstamm. Der Wolf, von dem Milly ihr erzählt hatte. Der Wolf, von dem ihre Mutter ihr erzählt hatte, in dem Märchen... Aber Millys Wolf war echt. Milly hörte sein Heulen oft in der Nacht von ihrem Zimmerfenster aus, hatte sie ihr gesagt.
Jetzt war aber keine Zeit zum Fürchten. Immerhin durfte sie nicht gegen Milly verlieren! Erika packte all ihren Mut zusammen und wollte einen Schritt Richtung Garten machen, weg von dem großen, starken Baum, der ihr Schutz bot – aber die Krallen waren da und hielten sie fest. Mit einem kurzen Aufschrei riss sie sich von den Zweigen los, die sich in ihren Haaren verfangen hatten und stand nun zitternd in der Dunkelheit. Erika hatte die Orientierung verloren. Sie sah das Licht der Lampignons nicht mehr, obwohl sie doch extra in ihrer Nähe geblieben war. Wahrscheinlich musste sie sich einfach umdrehen...
Sie konnte nicht. Wenn sie nur einen Schritt täte, würde der Wolf sie hören. Er würde sie verschlingen wie die arme Großmutter in dem Märchen, das ihre Mama... Niemand würde jemals mehr eine Spur von ihr finden und sie konnte ihrer Mama nicht mehr sagen, dass es ihr Leid täte mit dem Kleid...
Ein Zweig knackte unter dem Gewicht eines sich nähernden Mannes. Oder war es der Wolf? Erika wollte rennen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen? Sie schloss ganz fest die Augen.
Ein weiterer Zweig. Noch einer. Er war jetzt ganz nah.
Ihr letzter Gedanke galt dem Mann im Fernsehen und daran, dass sie nun eines der verschwundenen Kinder sein würde, von denen er gesprochen hatte. Dann packte sie eine große Hand von hinten an der Schulter.
„Erika, was machst du denn hier draußen?“ Erschrocken öffnete sie die Augen und drehte sich zu der bekannten Stimme um. Millys Vater. „Du sollst hier nicht alleine herumgeistern, noch dazu, wenn es schon dunkel wird!“
Die Worte ihrer Mutter.
„Ich weiß“, antwortete Erika und ihre Augen wurden feucht. „Es tut mir leid...“
„Lass uns zu den anderen zurückgehen.“ Er lächelte freundlich und nahm sie bei der Hand. „Komm.“
Sie nickte stumm und folgte ihm. Nach einigen Schritten wurde ihr bewusst, dass kein Wolf sie holen, dass sie keines der verschwundenen Kinder sein würde und der Gedanke an Rechtfertigung regte sich in ihr. „Es war doch nur wegen der Schnitzeljagd!“, begann sie und die knackenden Zweige unter ihren Füßen kamen ihr nun gar nicht mehr furchteinflößend vor. „Weil Milly doch den Zettel bestimmt –“
Als hätte sie nur das magische Wort aussprechen müssen, sah sie plötzlich etwas Weißes unter der Wurzel eines Baumes nicht weit von ihr schimmern.
„Der Zettel!“, rief sie, riss sich von der Hand los und rannte darauf zu. „Ich wusste, dass Milly schummeln würde!“ Sie kniete sich hin und streckte die Hand danach aus.
Im schwachen Schein der Lampignons sieht selbst ein kaltes Stück toter Haut aus wie ein Fetzen Papier.