Schön essen gehen

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Zum Abendessen ging der Fremde in den „Mailänder Hof“. Von allen Gasthöfen der kleinen Stadt hatte dieser die beste Küche. Ob man sich dort allerdings gut bedient fühlte, hing vom Dienstplan des Restaurants ab. An diesem Abend hatte er Pech: Die nette, blonde Kellnerin grüßte ihn freundlich von der Bar her, als er am Fenster Platz nahm. Und da nahte die andere schon, die hagere Italienerin, dabei eine Zigarette rauchend. Sie kam nicht, um nach seinen Wünschen zu fragen – es war so ihre Art, bloß stumm neben dem Gast Posten zu beziehen, um sich dann wortlos die Bestellung zu notieren.

So sehr sie mit Worten geizte, so beredt waren Miene und Haltung. Offenbar empfand sie es als bitteres Unrecht, in fremdem Land in öffentlichen Speisehäusern Fremde bedienen zu müssen. Mit den Anzeichen lebenslanger Verbitterung schrieb sie den Hirschpfeffer und das Übrige auf. Dann trat sie den Gang zur Küche an, als wäre es ihr allerschwerster. Bald darauf brachte sie Suppe und Mineralwasser und servierte mit dem Ausdruck mühsam unterdrückter Empörung. Der Fremde hatte sich im Verlauf mehrerer Abende schon an dieses Schauspiel gewöhnt, wie es sonst nur Galeerensträflinge in historischen Filmen bieten. Er ließ sich die Suppe schmecken.

Die Italienerin entfernte sich ein wenig und lehnte dann, schon wieder rauchend, am freien Nebentisch. Sie beobachtete gerade mit kaum verhohlener Ungeduld ein älteres Ehepaar, das in der Nähe ausgiebig die Weinkarte studierte. Die wollten sich hier wohl einen schönen Abend machen, es sich etwas kosten lassen … Die Ahnungslosen! Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

Bald darauf kam sie mit dem Wein für die Alten und öffnete die Flasche nach den Regeln ihrer Kunst. Sie stand dabei im Gang zwischen des Fremden Tisch und demjenigen des Ehepaares, die Weinflasche gegen den linken Oberschenkel gepresst, das andere Bein rückwärts abgespreizt. Plötzlich eine Erschütterung – fast wäre seine Suppe übergeschwappt. Der Rückstoß infolge der Hebelwirkung war sehr heftig gewesen und sie mit dem Fuß gegen seinen Tisch gestoßen. Dabei entblößte der hochrutschende Rock das Bein weit hinauf. Für einige Sekunden bot sich dem Fremden der Anblick eines nackten Frauenschenkels, den er überraschend wohlgeformt fand.

Gegen das Essen war nichts zu sagen. Er wollte dann zahlen. Schon stand die Italienerin am Tisch und rechnete mit ihm ab. Sie wühlte mit Ingrimm in der großen Börse, um sein Wechselgeld herauszuholen, und stieß dabei mit dem Ellenbogen den Brotkorb vom Tisch. Zwei Scheiben Brot, die übrig geblieben waren, lagen nun neben dem Korb auf dem Boden. Da unterbrach sie ihr Scharren, sammelte auf, was heruntergefallen war, legte die Brotscheiben zurück in den Korb, stellte ihn an seinen früheren Platz und gab dann das Wechselgeld heraus. Bei alledem bleib sie stumm wie gewöhnlich.

Er gab ein kleines Trinkgeld und sie bedankte sich auch dieses Mal nicht. So hatte sie es vom ersten Abend an gehalten. Dennoch gab er ihr immer wieder einen kleinen Betrag. Eines Tages würde sie doch danke sagen … Und am Tag darauf könnte er beruhigt abreisen.
 

petrasmiles

Mitglied
Das hat jetzt aber eine leichte Horror-Konnotation, lieber Arno, wenn er nur abreisen könnte, nachdem sie 'geredet' hat. Aber das wäre in der Tat eine andere Geschichte :)
Wunderbar diesen leichten Ton des Unerschütterlichen getroffen, die Haltung, 'wenn Du glaubst, Du machst diese Aufführung hier für mich, Hah! Ich lass' mich von Dir nicht beeinflussen ... oder am Ende doch?
Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 
die Haltung, 'wenn Du glaubst, Du machst diese Aufführung hier für mich, Hah! Ich lass' mich von Dir nicht beeinflussen ... oder am Ende doch?
Tja, liebe Petra, da fühle ich mich geradezu durchschaut. Nennt man so etwas nicht Kollusion? Ich zitiere Wikipedia: Bei Zweierbeziehungen hat Jürg Willi[2] den Begriff Kollusion für Fälle geprägt, in denen die neurotischen Dispositionen beider Partner wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen.[2] In diesen Fällen sind bestimmte zentrale Konflikte aus früheren seelischen Entwicklungsphasen beider Partner in ihrer Persönlichkeit nicht verarbeitet. Beide Seiten leben nun entgegengesetzte, sich zunächst aber ergänzende „Lösungsvarianten“ dieser inneren Konflikte aus. Die Partner spielen unbewusst füreinander oft klischeehafte und stereotype, wechselseitig komplementäre Ergänzungsrollen, um die Beziehung aufrechtzuerhalten ...

Das Ganze waren Beobachtungen in einer kleinen Stadt in den Schweizer Alpen (80er Jahre). Die Details stammen nicht von einem einzigen Abend, ich habe sie hier nur der Wirkung wegen einem einzigen zugeordnet.

Danke für deine Gedanken dazu und die Bewertung.

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

da kann man mal sehen, wie weit man mit 'gesundem Menschenverstand' kommt. Psychologisch habe ich das nicht gekannt, aber es fällt ja nach Kenntnis dieser Zusammenhänge auf, das bestimmte Neurosen eine Art 'Beziehungsangebot' machen, an das der entsprechende 'Schlüssel' andocken kann - denn offensichtlich war die Serviererin in der Geschichte ja nicht nur zum Protagonisten so und wer wollte, konnte :)
Nun finde ich die Geschichte noch witziger :)

Liebe Grüße
Petra
 



 
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