Schöne Kindheit

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Nosie

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[ 4]Elisabeth war ein beliebtes Kind, weil fröhlich, anpassungsfähig und anspruchslos. Mit ihren beiden Geschwistern verstand sie sich gut, was man von den beiden untereinander nicht behaupten konnte, die waren sich fremd von Anfang an und ohne Sympathie für einander. Als jüngstes Kind eines Postbeamten und einer „höheren Tochter“, so hatte sich ihre Mutter immer selbst bezeichnet, ohne dass irgendeine besondere Qualität oder Herkunft dies untermauert hätten, war Elisabeth in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen. Ihr Vater war ein liebevoller, wenn auch sehr jähzorniger Mann, dessen Wut sich aber selten direkt gegen Elisabeth wandte, dazu war sie zu brav. Nicht so ihr um drei Jahre älterer Bruder, der es gerne darauf anlegte, Vater zur Weißglut zu bringen.

[ 4]An eine Szene konnte sie sich noch gut errinnern, sie musste damals etwa sieben Jahre alt gewesen sein. Es war Nacht und sie schlief in ihrem Bett im Kinderzimmer, das sie mit ihren Geschwistern teilte, als sie vom Lärm aufwachte. Ihr Bruder hatte die Tür aufgerissen und kam hereingestolpert, verfolgt vom splitternackten Vater, der vor Zorn tobte und den missratenen Sohn windelweich prügelte. Aus dem Geschrei konnte sie nur entnehmen, dass sich der Bruder irgendwo in der Wohnung versteckt haben musste und Vater deshalb ausgerastet war. Erst viel später ist ihr klar geworden, dass ihr Bruder wohl aus seinem Versteck im elterlichen Schlafzimmer etwaige Intimitäten hatte ausspionieren wollen, eine nicht auszudenkende Ungeheuerlichkeit.

[ 4]Sie selbst war Jahre später eines Morgens ins elterliche Schlafzimmer geplatzt, weil ihr die Wartezeit bis zum sonntäglichen Kuchenfrühstück zu lang wurde, und hatte die Eltern beim Sex gesehen. Der Vater hatte sich vor offenkundiger Scham sofort die Decke über den Kopf gezogen, Mutter hatte viel gelassener reagiert und so getan, als ob nichts wäre. Niemand hat je ein Wort über den Vorfall verloren. Elisabeth hatte damals zum ersten Mal erkannt, dass ihre Eltern keine Götter, sondern einfach nur Menschen waren, die genau das taten, was sie bisher nur aus zotigen, unverstandenen Witzen oder dem ungläubigen Geflüster unter Freundinnen kannte. Zu behaupten, dass dadurch eine Welt für sie zusammengebrochen ist, wäre übertrieben, ihr Verhältnis zu ihrem Vater war allerdings von da an nicht mehr dasselbe. Eine Distanz war zwischen sie getreten, die nie mehr verschwand.

[ 4]Vater konnte sich wegen Kleinigkeiten in eine Wut hineinsteigern, die die Kinder traf wie Blitze aus heiterem Himmel. So veranlasste ihn einmal eine offene Spielzeuglade im Kinderzimmer, die Vater beim Gute Nacht wünschen in reichlicher Unordnung vorfand, dazu, sämtliche Schubladen aufzureißen, auf den Boden zu leeren und den Kindern zu befehlen, nicht eher wieder ins Bett zu gehen, bis der riesige Haufen, der den Fußboden bedeckte, aufgeräumt war.

[ 4]Auch die stundenlangen Verhöre, wenn eines der Kinder – meistens war es ihr Bruder – etwas angestellt hatte, trübten die kindliche Unbekümmertheit von Elisabeth in drückender Weise. Die peinliche Befragung dauerte so lange, bis eines der Geschwister ein Geständnis ablegte und erst wenn die Tat in Form von Bestrafung gesühnt war, konnte sich die Luft wieder klären. Da ihr Bruder regelmäßig verstockt schwieg, gab Elisabeth oft eine Tat zu, die sie gar nicht begangen hatte, nur um dem unerträglichen Verhör ein Ende zu bereiten. Erst als sie einmal etwas gestand, was sie aufgrund ihrer Körpergröße und Kräfte gar nicht gewesen sein konnte, - was es gewesen war, hat sie vergessen – kamen ihre Eltern dahinter und die Inquisitionen hörten auf.

[ 4]Elisabeth hatte trotz allem immer gewusst und gespürt, dass ihr Vater seine Familie liebte. Man merkte es an vielen Kleinigkeiten, an seinem offensichtlichen Vergnügen, mit dem er Elisabeth zum Go herausforderte, einem japanischen Brettspiel, das er nur mit ihr spielte. Oder wenn er jedesmal, wenn eines der Kinder auf Schikurs war, auf Besuch kam und eine Packung Ildefonso mitbrachte, ein unglaublicher Luxus damals, ebenso wie er Mutter zu Ostern regelmäßig ein riesiges Osterei voll mit Pralinen vom teuersten Konditor der Stadt schenkte. Oder die Art, wie er Mutter oft einfach so in der Küche in den Arm nahm, sie nach hinten beugte, bis sie das Gleichgewicht verlor und zu kichern anfing und er sie auffing und küsste.

[ 4]Die Schrecknisse von Vaters Zorn und Allmacht kamen und gingen, der Wärme und Geborgenheit, die Elisabeth in ihrer Kindheit begleiteten, konnten sie nichts anhaben. Der wahre Schrecken begann, als Vater krank wurde. Eines Tages, Elisabeth war vielleicht zwölf Jahre alt, fand man einen Knoten in seinem Hals, der sofort operiert wurde. Mutter weinte viel und Vater lag oft im Bett und hatte Schmerzen. Morbus Hodgkin war die Diagnose, ein Wort, das von nun an über der Familie hing wie eine düstere Bedrohung, die man vergeblich auf Abstand hielt, indem man nicht darüber sprach. Vater kam wieder ins Krankenhaus, wurde bestrahlt, bis ein verbranntes Viereck auf seiner Haut die Behandlung unmöglich machte. Monatelang war er zu Hause, dann wieder zur Therapie an der Uniklinik in einer anderen Stadt, Mutter besuchte ihn dort und das Familienleben wurde chaotisch. Eines Nachmittags war Elisabeth mit Vater allein in der Wohnung. Der brüllte vor Schmerzen wie ein Tier, während Elisabeth sich im Kinderzimmer verzweifelt die Ohren zuhielt, um seine Schreie nicht zu hören. Dieser eine Nachmittag richtete mehr Schaden an in Elisabeths Seele, als alle Unbeherrschtheiten von Vater es jemals gekonnt hatten.

[ 4]An die Zeit danach hatte Elisbeth kaum eine Erinnerung. Es musste Vater wieder besser gegangen sein, denn er hatte noch Zeit gehabt, ein Haus zu bauen.
„Ich habe ein Haus gebaut, einen Sohn gezeugt und einen Baum gepflanzt, jetzt kann ich sterben“ zitierte er eines Tages und brachte die Mutter damit zum Weinen.
Seine Zornausbrüche hatten aufgehört. Nur einmal noch war er, als sie schon in dem neuen Haus am Land wohnten, wie ein Berserker Abends im Nachthemd aus der Haustür gestürmt und hat die jungen Burschen laut schimpfend davongejagt, die unter den Fenstern vorbeischlichen in der Hoffnung, eines der Mädchen mit Rufen zu einem kurzen Stelldichein in den Garten zu locken. Elisabeth war damals alt genug, um sich der lächerlichen Figur, die ihr Vater bei dieser Szene abgegeben hatte, bewusst zu sein. Insgeheim war sie ihm dankbar und fühlte sich beschützt wie schon lange nicht mehr.

[ 4]Elisabeth weiss nicht, wann genau die Krankheit ihres Vaters zurückkam, es musste dann ziemlich schnell gegangen sein. Sie sieht unklare Bilder von einem mageren kleinen Mann, der nicht mehr sprach und nicht mehr aß, vom Krankenbett, in dem sein Körper sich kaum unter der Decke abzeichnete, vom kahlen Zimmer in der Klinik, vom Anruf aus dem Krankenhaus kurz nach Weihnachten, den ausgerechnet sie entgegennahm.

[ 4]Bei der Beerdigung weinte sie nicht, da lag die Trauer schon hinter ihr. Sie war siebzehn und so gut wie erwachsen.
 



 
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