HansSchnier
Mitglied
Schräglage
Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.
Die Decke der Kabine war mit zwölf Panelen verkleidet. Zwölf Panelen Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Panelen konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.
„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.
Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpanelen. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hat. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.
Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpanelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was helfen da zwei Streifen und eine 1,3?
Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpanelen ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim Alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen im schlechten Englisch. Der Kapitän.
Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören will. Eigentlich.
Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Prozent. 78 Deckenpanelen zählte er. 14 Prozent Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.
18 Prozent Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpanelen. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knarzten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Panelen, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.
Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.
Die Decke der Kabine war mit zwölf Panelen verkleidet. Zwölf Panelen Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Panelen konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.
„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.
Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpanelen. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hat. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.
Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpanelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was helfen da zwei Streifen und eine 1,3?
Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpanelen ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim Alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen im schlechten Englisch. Der Kapitän.
Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören will. Eigentlich.
Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Prozent. 78 Deckenpanelen zählte er. 14 Prozent Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.
18 Prozent Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpanelen. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knarzten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Panelen, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.