Schreibaufgabe

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Silea

Mitglied
Das Rübenfeld

Zeit!
Da klagt man sein ganzes Leben lang, man hätte keine Zeit. Walter seufzte. Mittlerweile hatte er davon mehr als genug. Aber was sollte er jetzt damit anfangen? Er hatte sich gefreut, in Rente zu gehen, hatte sich viel vorgenommen. Aber was machst du, wenn du dann alles getan hast, was du immer tun wolltest? Es war ja nichts spektakuläres gewesen, wie in Afrika Löwen jagen oder dergleichen. Walter war ein einfacher Mensch, und es waren einfache Dinge gewesen, die er immer gern hatte tun wollen, solange er noch gearbeitet hatte. Und mittlerweile hatte er sie alle getan, oder doch fast alle. Aber ohne Grete machte das alles irgendwie keinen Spaß. Er schlenderte den Feldweg entlang, wie man nur geht, wenn man alle Zeit der Welt hat. Und niemand auf einen wartet. Manchmal fühlte er sich so verdammt alleine und dann wusste er nicht, was er tun sollte und fühlte sich so hilflos.
Grete war vor zwei Jahren gestorben, und auch die Kinder waren erwachsen, hatten ihre Familien und gingen ihre eigenen Wege.
Er dachte an Grete, und daran, wie sehr er sie vermisste. Mehr als ein halbes Leben hatten sie zusammen verbracht. Er sah sie auf einmal vor sich, wie sie in der Küche stand, sah sie im Geiste Betten machen oder Fenster putzen, immer fröhlich und guter Dinge. Seine Gedanken wanderten zurück. Er sah Grete als junge Frau, wie sie mit von der Kälte geröteten Wangen und glänzenden Augen zur Tür hereinkam, Jutta an der einen und Jürgen an der anderen Hand, beide warm eingewickelt in Wollmützen, Schals und Handschuhe.
Er dachte noch weiter zurück und sah sie vor ihrer Hochzeit, beim Tanz auf dem Dorffest, an dem Tag, als er sie um ihre Hand gebeten hatte. Sie trug ein taubenblaues Kleid, er wusste es noch genau, und ihr kastanienbraunes Haar war mit einer weißen Schleife zusammengebunden. Wie lebenslustig sie doch gewesen war, wie fröhlich, und sie hatte sich auch in schweren Zeiten nie, aber auch niemals unterkriegen lassen.
Nicht einmal im Krieg. Sie waren fast noch Kinder gewesen damals, und er erinnerte sich an die Angst und den Hunger, als wäre es gestern gewesen. Niemand kann so etwas je vergessen. Er dachte an die nächtlichen Ausflüge auf die Felder, als sie Kartoffeln und Rüben gestohlen hatten.
Abrupt fand sein Geist in die Wirklichkeit zurück. Was wächst eigentlich auf diesem Feld, an dem ich gerade vorübergehe, dachte er. Rüben? Welcher Zufall! Damals hatten sie gezittert vor Angst, als sie Rüben stahlen, aber der Hunger war noch schlimmer gewesen als die Angst, und er verging auch nicht von alleine. Wenn er sich das Feld jetzt so betrachtete... Was hätte er damals dafür gegeben, so eine Rübe einfach ohne Angst ernten zu können. Die Bauern hatten scharf geschossen. Jetzt dagegen würde es wahrscheinlich überhaupt keinen interessieren, ob man ein paar Rüben nahm oder nicht.
Walter blieb stehen. Er sah sich um. Niemand weit und breit, er war ganz alleine. Er bückte sich nach einer Pflanze, fasste das Kraut und zog die Rübe heraus. Mit Macht und ganz unerwartet überrollte ihn eine Welle der alten Angst. Doch nichts geschah. Liebe Grete, dachte er und zog eine weitere Rübe aus dem Boden. Er fühlte sich jetzt Grete seltsam nah. Fast war es, als schaute sie ihm über die Schulter. Er würde eine Rübensuppe kochen, so wie ihre Mütter damals im Krieg. Scheußlich hatte sie geschmeckt, kaum gewürzt und nur mit den dürftigsten Zutaten. Genauso würde seine Suppe heute Abend schmecken. Und es würde ein bisschen so sein, als sei er wieder jung. Als hätte er sein Leben noch vor sich und als lohne sich die Angst, es zu verlieren. Eine weitere Rübe wanderte in seinen Leinenbeutel, den er immer in der Jackentasche trug. Für alle Fälle.
Weit hinten in seinem Kopf meldete sich zaghaft ein Stimmchen, das ihn darauf aufmerksam machen wollte, dass es Unsinn war, was er da trieb. Er hörte nicht darauf und pflückte weiter.
„Sind Sie der Besitzer dieses Feldes?“, hörte er jemanden hinter sich sagen.
Walters Gliedmaßen wurden zu Gummi. Es war der Polizist von der Fahrradstreife. Walter war so vertieft in sein Tun gewesen, dass er ihn nicht hatte kommen hören. Ratlos sah er den Polizisten an. Er öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er sagen sollte.
„Können Sie sich ausweisen?“, fragte der Wachtmeister geduldig, so als wüsste er bereits genau, was nun kommt, und: „Ihnen ist hoffentlich klar, dass es sich hierbei um Diebstahl handelt?“



„Also wirklich, Vati!“, tadelte Jutta ihn. „Wie konntest du Rüben klauen? Man könnte denken, du hast das Brot nicht über Nacht. Dabei geht es dir doch hervorragend. Und ausgerechnet Futterrüben? Igitt, da hättest du dir wirklich was anderes aussuchen können.“
Walter seufzte. „Das verstehst du nicht, Kind.“, sagte er müde.
Jutta sah in das Gesicht ihres Vaters, und ihr fiel plötzlich ein Ausdruck darin auf, den sie vorher nie darin bemerkt hatte. Nein, er war nicht übergeschnappt, wie sie zuerst geargwöhnt hatte. Er hatte seine Gründe für das, was er getan hatte. „Vielleicht doch.“, sagte sie sanft. „Willst du nicht versuchen, es mir zu erklären?“
Walter sah seine Tochter an, ein bisschen misstrauisch zuerst, doch dann entspannten sich seine Züge. Das kleine Mädchen, dass einst auf seinen Knien gesessen hatte, war sie längst nicht mehr. Sie sah längst nicht mehr zu ihm auf und bat ihn um Rat. Vielleicht war es an der Zeit, dass die Dinge anders herum liefen. Vielleicht brauchte er jetzt ihren Rat. Er lächelte. „Doch.“, sagte er. „Ich will.“
 

hera

Foren-Redakteur
Teammitglied
Halo Silea!

Das ist ja mal was ganz anderes! Aber ich kann die Geschichte gut nachvollziehen. So könnte es tatsächlich gewesen sein. Eine Geschichte, die nachdenklich macht.

Tschüssie, hera
 



 
Oben Unten