Schreiben gegen das Vergessen

Papiertiger

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Ich habe mich gerade wieder bei einem Gedanken erwischt, den ich mit 27 Jahren sehr emotional erlebt hatte, nämlich die Erkenntnis, dass all die Mühe, die ich mir im Leben gegeben habe irgendwann im Nichts verpuffen wird. All die Rücksicht, die ich als Schüler auf die Gefühle anderer nahm. All die Dinge, die ich nicht tat, aus Angst, Sorge oder dem Gefühl heraus, dafür später immer noch genug Zeit haben zu werden. Die Jahre vergehen. Und wofür dann all die Mühe?

Wofür habe ich all die Schreibratgeber gelesen? Ich kann mich an die meisten Inhalte kaum bis gar nicht mehr erinnern. Gute Tipps habe ich immer von Stephen King aufgesogen, etwa zum Thema Notizbuch. Sein Notizbuch, so verriet der Amerikaner, sei ein Friedhof für all seine schlechten Ideen. Denn die guten Ideen braucht er nicht aufschreiben, sie sind so wichtig und drängend, dass sie immer wieder hochkommen und nicht verloren werden und in Vergessenheit geraten.

Ich hatte auch mal probiert ganz bewusst längere Zeit allen Medienkonsum einzustellen und rein aus mir selbst zu schöpfen. Nur um dann festzustellen, dass ich irgendeine lauwarme Kopie einer Episode von „Star Trek: The Next Generation“ imitierte.

Schreiben gegen das Vergessen soll übrigens kein reißerischer oder geschmackloser Titel sein. Zwar weckt er auch bei mir eindeutige Assoziationen zum Erinnern an schlimmste Menschheitsverbrechen oder zur Bewältigung von Trauer und Leid, aber tatsächlich habe ich vor allem etwas anderes im Sinn. Es ist wichtig zu schreiben. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Früher konnte ich das Schreiben gar nicht weit genug hinauszögern. Es war wohl die Angst davor, den Traum Schriftsteller zu werden oder zumindest doch Autor oder Journalist nicht zu erreichen, aus Mangel an Talent, Bildung, Beziehung, Disziplin, Fleiß. Kritik kann verletzten. Inzwischen definiere ich meinen Selbstwert nicht mehr über die Meinung anderer Menschen. Gleichzeitig finde ich es aber rücksichtslos und falsch gut meinende Menschen, die sich die Zeit und Mühe nehmen meine Texte zu lesen mit Geschwafel zu behelligen.

Geschichten schreiben. Eine Geschichte schreiben. Geschichte schreiben. Eventuell mit einem Abschiedsbrief? Oder mit einem Aufruf zum Neuanfang? Zurück zur Natur, allen Konsumquatsch zurücklassen und endlich so leben, wie es wirklich gut für einen ist? Der Film „Captain Fantastic“ hat dieses Thema, das des Aussteigens, mit sehr herzlichem Humor und großartigen Denkanstößen umgesetzt. Ich könnte mich in diesen Mann hineinversetzen, der vor einer Weile mehrere Polizisten entwaffnete und tagelang in einem Wald, es war der Schwarzwald, meine ich, unentdeckt lebte. Die Bild-Zeitung nannte ihn Wald-Rambo oder so. Ja, so eine Geschichte könnte ich mir ausdenken. Aber wozu? Es wäre nicht meine Geschichte.

Seit drei Tagen bin ich jetzt unterwegs. Ich habe alles hinter mir gelassen. Sie wollten mich triezen, sie machten mir Vorwürfe, machten mich klein, verwirrten mich nur noch zusätzlich erschlagen. Ich musste mich wehren. Es endete dann ganz böse. Nur noch Feuer, Asche und Rauch. Ja, ich habe sie buchstäblich verbrannt. Meine Schreibratgeber. Alle sind sie ein Opfer der Flammen geworden. Und nun schäme ich mich so unendlich. Was ist bloß aus mir geworden? Ein Geräusch. Ich zucke zusammen. Da kommen sie. Die Literaturfreunde Göttingen e.V. Ich schlage mich ins Unterholz, laufe, renne, stolpere durchs Gehölz wie früher durch die Grammatik. Verdammt, ich sage es Euch, wie es ist: ich halte Bücher für überbewertet und kann nicht wirklich intelligent schreiben, aber es ist mir nicht mehr peinlich. Ich bin jetzt irgendwo in einer Welt, die Ray Bradburys Fahrenheit-Roman ähnelt: Ich bin ein komischer Kauz, der durch die Natur wandert und das von den Bücher, Filmen, Games und Songs weitererzählt, was er davon behalten hat und wie er es verstanden hat. Da draußen gibt es jetzt nur noch woke, politisch korrekt, divers und alles ist so harmonisch und schön, da freuen sich alle teilnehmenden, eingeschlafenen Leser*Innen, und das sowohl innen als auch außen. Alles was ich gelernt habe, etwa andere Meinungen auszuhalten oder verständlich und ohne unnützen, unverständlichen Kauderwelsch zu schreiben und zu sprechen – es ist aktuell nicht akzeptabel. Meint fünf Prozent der Twitter-Nutzer oder so, dann sollte das natürlich unbedingt von allen Menschen so umgesetzt werden. Ich baue mir jetzt einen Bauwagen auf wie Peter Lustig, ziehe mich zehn Jahre zurück und vielleicht komme ich wieder zurück, wenn sich die Extremisten gegenseitig das Leben so unerträglich gemacht haben, dass es ihnen selbst zu blöd wurde.
 



 
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