Schritt in die Einsamkeit

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Patrick M.

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Karl war die um diese Mittagszeit stark befahrene Uferstraße heraufgewandert und schickte sich an, in einen kleinen Feldweg einzubiegen, der ihn die Sonnenseite des Tals hinaufführen sollte. An einem verwitterten Wegweiser bei der Einmündung hielt er kurz inne und blickte über die Straße hinunter in Richtung See.

Auf der von einer leichten Brise sanft gekräuselten Wasseroberfläche zerstob das harte Licht der Gebirgssonne in Myriaden winzigster Blitze, die die Reihe der schwarzen Ufertannen wie Röntgenstrahlen einen Weichkörper durchfluteten. Durch jede Lücke im schweren Nadelwerk drangen die gleißenden Lichtpartikel und punktierten seine Iris mit winzigen Nadelstichen. In einem Schutzreflex kniff Karl seine Augen zu und schon im nächsten Augenblick glühte auf seiner Netzhaut das gezackte Negativbild des Tannenhains auf, nicht weniger grell als kurz zuvor die Spiegelung der unbarmherzigen Mittagssonne. Es kostete ihn einige Sekunden, seine Wahrnehmung neu einzurichten, doch dann kondensierten sich aus dem Nachbild dieser tausendfach erblickten Szene alle jene Details heraus, die er schon längst nicht mehr wahrzunehmen imstande gewesen war: der moosbewachsene Postkasten, die aus der Zeit gefallene Telefonzelle und das Stoppschild auf dem seit Urzeiten verbogenen Rohrpfosten an der Ausfahrt des Seehotels.

Karl beschwor den Anblick mit aller Konzentration, doch begannen die Konturen bald zu verschwimmen. Genussvoll ließ er es geschehen und nahm Abschied, sah zu, wie das Bild langsam verblasste, zerfiel und im Augenbraun sich löste. Behutsam öffnete er die Augen, wie nach einem Traum, an dessen Deutung er soeben gescheitert war. Er strich sich die Gedanken von der Stirn und wandte sich bedächtig um, dem vor ihm liegenden Feldweg zu:

Zwei weiße Kiesstreifen, die sich wie mit zitternder Hand gezogen, durch ein von grasenden Kühen befahrenes Meer saftigen Grüns bergan schlängelten. Bald verschwanden sie in den welligen Almweiden, um weit entfernt wieder aufzuscheinen, verjüngten sich zum fernen Waldrand hin um schließlich vom lauernden Schatten des Gehölzes verschluckt zu werden.

Noch einmal schweifte sein Blick über die letzten Ausläufer des Dorfes, einer Handvoll einzelner vor Lanwinenangst flach an den Hang geduckter Bauernhäuser: ausladende Dächer über grob gezimmerten Holzbalkonen, holzgetäfelte Kniestöcke auf weißgekalktem Mauerwerk. Es erschien ihm immer noch unwirklich, dass hier nahe der Grenze zum Reich der Freiheit Menschen aus Fleisch und Blut leben sollten. Sein Blick glitt weiter hinauf und wandte sich nach rechts, wo jenseits der fernsten Ufer des Sees die Schemen des Weißen Gebirges im feinen Mittagsdunst ephemer wie Wolken zu schweben schienen, dann weiter über die schroffe Felsenkette der drei Könige und den gewellten Karnstein hin zum Adlerkogel, der aus dem säumenden Wald aufragte, wie ein Reißzahn aus dem Zahnfleisch eines gebändigten Ungeheuers. Zwischen diesem und dem Traschensattel links, dort begann es, direkt unterhalb des Waldstreifens, in greifbarer Nähe schon: das Zwischenreich. Dort, wohin die Einheimischen seit jeher kein Geschäft mehr führt und die fremden Wanderer sich nie wagten, dort fingen die Regeln der Menschen an, sich zu verwirren - bereits jenseits der Schwelle, aber noch im Bannkreis der Zivilisation.

Karl zwang sich bergan. Mit jedem Schritt fühlte er, wie die Kälte der Freiheit sein Herz heftiger zu umwehen begann. Dieses antwortete zaghaft nur, mit stillem Schmerz des Abschieds von holzrauchduftender Geborgenheit.

Er beschleunigte seinen Schritt, jetzt galt es, die letzten Reste seines übervertrauten Selbst abzustreifen, sollten sie hier in der brennenden Sonne zerfließen und sich vom moosigen Boden aufsaugen lassen, er würde bald keine Namen mehr brauchen.

Schließlich hob er den Blick. Gleich war er am Waldsaum angelangt. Nur ihn musste er noch durchqueren, dann würde ihn nurmehr die Länge eines letzten tapferen Entschlusses trennen vom Reich der Wildnis, dessen dunkel-weißgrau melierte Felsen hinter den Tannenwipfeln jäh und drohend aufragten und ihm gleichzeitig süße Verheißungen zuraunten. Ein leichtes Brennen begann sich zu regen, aus tieferen Gründen als denen seines Herzens jetzt. Es schwoll an zu dem kitzelnden Schmerz, den Sehnsucht zu nennen er noch immer sich weigerte. Als Karl schließlich spürte, wie die kühlenden Schatten der ersten Fichten ihn einzuhüllen begannen, schien es ihm, als würden sie ihm dabei mit leichtem Finger die Bürde der Entscheidungsmacht von der Seele streifen. Überrascht stellte er fest: Es blieb nichts mehr, das noch aufzugeben wäre.
 

Kaetzchen

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Hi Patrick
Mir gefallen deine Naturbeschreibungen sehr gut. Sie beschwören eine Sehnsucht herauf nach Alleinsein in der Natur.
LG Kaetzchen
 

Patrick M.

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Hallo Kätzchen,
danke für das Feedback.
Alleinsein in der Natur - ja, das fehlt einem, wenn man zu lange in der Großstadt hockt.

Viele Grüße,
Patrick
 



 
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