Schuhe

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petrasmiles

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Ich taumle durch den Schnee wie in einem bösen Traum.
Wie nackt, grau bis auf die Knochen.
Durch einen Schleier von Tränen, stumm schreiend.
Mein Herz ist mir erfroren.
Ich handle vollkommen irrational.
Ich sollte meine Ahnung ignorieren; mich vor der Wahrheit verstecken.
Aber die Schuhe!
Fein säuberlich ... wie für die Ewigkeit abgestellt neben dem Spind. Weitere Benutzung nicht mehr vorgesehen.
Ich konnte nicht anders. Ich musste dorthin laufen. Wie magisch angezogen stolpere ich auf die Menschenmenge zu. Mich streifen die Blicke der fassungslos Herumstehenden. Eine ältere Frau tritt verständnisvoll zur Seite als ich mich nähere; sie weiß, ohne zu wissen.
Die Menge teilt sich, wortlose Verständigung.
Dort liegt Sabine, das Gesicht wie schlafend wären da nicht die grotesk verdrehten Glieder.
Ich hatte sie so glühend beneidet um die Aufmerksamkeit von Rolf. Wir alle haben geschwärmt und phantasiert, wie er wohl schmeckt, der Kuss des Vorarbeiters.
War das erst vor drei Monaten? Aber das war doch alles nur Spiel?! Warum hat sie nichts gesagt? Sie war doch meine beste Freundin! Haben wir sie zu sehr aufgezogen?
Sie hat nicht mehr gespielt.
Und wir haben nicht verstanden, was es heisst, zu wissen. Ich habe nicht gewusst, dass er tödlich sein kann, ein Kuss.
Die Werkssirene geht.
Irgendjemand wird etwas tun müssen.
Die Menge teilt sich. Strebt zum Ausgang, in die Werkshalle.
Ich werde nie wieder lachen.
Ich werde mich nie wieder verlieben.
Ich werde nie wieder unschuldig sein können.
Ich werde nie wieder nicht wissen, dass ich je unschuldig war.
Ich presse die Schuhe an meine Brust, als könnte ich sie so lebendig machen.
 



 
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