Schuld

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Hera Klit

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Schuld



Und dann erfuhr ich von meiner Mutter, dass Rainer an Multipler Sklerose erkrankt sei.
Sofort begrub ich meine alten Aversionen gegen ihn, die sich früher nicht selten zum blanken Hass hinaufgesteigert hatten. Ich konnte und durfte einen Kranken nicht verachten und ablehnen.


Ich hatte ihn jetzt seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen und er hatte mir auch gar nicht gefehlt. Kaum ein Mensch war mir je im Leben so auf die Nerven gegangen wie Rainer, aber er litt nun an einer Krankheit, deren Schrecken und Heimtücke ich genau kannte, weil auch meine liebe Schwester ein Opfer der gleichen Krankheit geworden war. Ihren stetigen Verfall über die letzten Jahrzehnte miterleben zu müssen war schrecklich gewesen.

Es waren doch auch schon lange zurückliegende Ereignisse, die mich Rainer hatten hassen lassen und die meine Schuldgefühle ihm gegenüber begründeten.

Wir kannten uns seit der Kindergartenzeit, aber ich nahm ihn erst richtig zur Notiz, als wir zusammen in die weiterführende Schule in der Kreisstadt aufgenommen wurden. Wir waren nur drei Jungs in diesem Jahrgang aus unsrem Dorf. Hans-Peter, Rainer und ich. Das Schicksal führte uns zusammen. Wir mussten miteinander auskommen, ob wir wollten oder nicht, hatten wir doch den gleichen Schulweg und die gleichen Unterrichtsstunden. Von nun an traf man uns fast nur zu dritt an, auch nachmittags beim Spielen. Eine richtige kleine Schicksalsgemeinschaft war entstanden. Nun ist die Drei aber in Beziehungsangelegenheiten eine recht unglückliche Zahl. Schulbänke, Ausflugsbusse und Stockbetten in Jugendherbergen etc. waren im Dualen System verhaftet. Es konnten nur immer zwei Freunde eng zusammensitzen oder übereinander nächtigen. Für einen dritten Freund war die Welt damals nicht geschaffen. Wie es heute ist, entzieht sich meiner Kenntnis, weil die besagte Welt mir seit Langem verschlossen ist. Ich befürchte mal, es hat sich nichts geändert.



Damals ging natürlich permanent das Gerangel los, weil sowohl Rainer als auch ich unbedingt neben dem Hans-Peter, den wir beide supersympathisch fanden, sitzen wollten.


Oft, für meine Begriffe viel zu oft, wurde ich von Rainer verdrängt und musste abseits sitzen oder liegen. Das war hart. Ich konnte nicht glauben, dass Rainer neben Hans-Peter sitzen durfte, weil Hans-Peter ihn evtl. lieber hatte als mich. Dies konnte und wollte ich nicht als Grund anerkennen. Das wäre zu viel für mich gewesen. Ich war überzeugt, dass Hans-Peter den drängelnden und aufdringlichen Rainer nur aus Höflichkeit neben sich ertrug und eigentlich lieber neben mir gesessen hätte.

Wenn wir nachmittags zusammen spielten, ergaben sich immer wieder Szenen, in denen sowohl Rainer als auch ich, den eher passiven, zurückhaltenden Hans-Peter durch unsere Geschicklichkeit, Schlauheit, Ausdauer und was auch immer Jungs in dem Alter als wichtige Eigenschaft erscheint, beeindrucken wollten. Fast war es, als würden zwei Jungs um ein Mädchen werben. Einmal spielten Rainer und ich Fußball auf dem Hof von Hans-Peters Elternhaus und wir versuchten uns gegenseitig den Ball abzuluchsen. Wir wollten beide eine gute Figur vor Hans-Peter machen und die Verbissenheit war groß. Davon konnte doch abhängen, wer im nächsten Schuljahr neben Hans-Peter sitzen durfte. Das hieß nichts weniger als ein freudiges Jahr in Seligkeit an der Seite des geliebten Freundes zu verbringen oder abgeschlagen neben irgendeinem unbekannten Unsympath ein ganzes Schuljahr dahin fristen zu müssen. Deswegen legten wir in diese Fußballszene sehr viel Vehemenz und Willen zum Sieg.



Plötzlich, wir rannten eng gedrängt Schulter an Schulter, um den bescheuerten Widersacher vom Ball wegzudrängen, da gingen unsere beiden Schussfüße nach vorn und erwischten den Ball gleichzeitig so unglücklich, dass er einen Blumentopf von einer Außenfensterbank herunterholte. Der Topf zerschellte auf dem Boden und sofort bezichtigten sich Rainer und ich gegenseitig den Topf heruntergeschossen zu haben. Keiner von uns wollte freilich der Schuldige sein. Wie hätten wir denn bei Hans-Peter dagestanden? Womöglich hing nun von dieser einzigen Szene ab, ob man die nächsten Jahre neben Hans-Peter die Schulbank drücken durfte und ob man im Ausflugsbus neben ihm sitzen durfte und sogar, ob man mit ihm ein Stockbett teilen durfte. Also es hing von dieser ungeklärten Schuldfrage unheimlich viel ab. Die gesamte Möglichkeit zum Glück der nächsten Jahre mindestens.



Natürlich beschuldigten Rainer und ich uns gegenseitig mutwillig den Blumentopf von der Fensterbank gefegt zu haben. Wir konnten uns einfach nicht einigen. Langsam wurde uns beiden klar, nur Hans-Peter, der ja alles beobachtet hatte, war in der Lage zu beurteilen, wer von uns beiden sich schuldhaft verhalten hatte, und so wendetet wir uns schließlich wie auf ein Kommando mit fragenden Gesichtern zu diesem um und erwarteten sein Urteil höchst gespannt. Hans-Peter sagte lange nichts, aber ich war der Meinung, schon am Mienenspiel seines Gesichtes erraten zu können, er gäbe mir die Schuld und ich sei somit der Verdammte und Abgesonderte der nächsten Jahre. Da brannten mir leider die Sicherungen durch und ich sprang Rainer von der Seite an und packte ihn und nahm ihn in den Schwitzkasten. Irgendwie schien ich davon überzeugt, diese dumme Tat könne mir bei Hans-Peter einen Vorteil verschaffen, wo doch vernünftigerweise abzusehen war, dass genau das Gegenteil der Fall sein würde.

Aber ich drückte zu und Rainer sackte zusammen und ich drückte fester zu, denn ich hasste ja kaum einen Menschen mehr als Rainer, der mir die letzten Jahre schon so viele Niederlagen beigebracht hatte und immer wieder mehr in der Gunst von Hans-Peter stand als ich. All diese aufgetaute Wut und die Verzweiflung darüber nun auch wieder den Kürzeren zu ziehen, verlieh mir Löwenkräfte und machte mein Herz völlig mitleidlos dem armen Rainer gegenüber. Ich trieb es so weit, dass Hans-Peter rettend eingreifen musste und den inzwischen schon leicht bläulich angelaufen Rainer fast in letzter Sekunde noch rettete.



Unter dieser Szene litt ich mein gesamtes weiteres Leben, und obwohl Hans-Peter und auch Rainer in meinem späteren Leben quasi nicht mehr vorkamen, dachte ich oft daran zurück und fühlte mich dann miserabel. Wie hatte ich so die Nerven verlieren können? Natürlich saß ich die nächsten Jahre nie mehr neben Hans-Peter, diese Gunst wurde mir nie mehr gewährt, war ich doch ein potenzieller Mörder, den man nicht neben sich dulden will und kann.

Und nun erzählte mir meine Mutter Rainer sei an MS erkrankt und für mich wurde freilich schlagartig klar, dies könne mit meiner damaligen Schandtat zusammenhängen. Vielleicht war das durch den intensiven Schwitzkasten, in den ich ihn damals nahm, ausgelöst worden.
Ich betete, der Herr möge mir verzeihen und vergaß die Sache vorerst wieder. Ganz sicher erwiesen war ja meine Schuld auch nicht, vielleicht war ich ja auch nur überspannt.
So geriet Rainer wieder in Vergessenheit, bis zu dem Tag, als ich Mutter zum Einkaufen in meiner Heimatstadt begleitete. Schon beim Reingehen erkannte ich Rainer.
Er schob einen Einkaufswagen und er hinkte leicht beim Gehen, obwohl er ansonsten eigentlich recht gesund wirkte. Seine neue rumänische Partnerin, von der ich gehört hatte, sie versorge ihn liebevoll, folgte ihm in gebührendem Abstand.


Wie das so ist, wenn man jemandem gerne aus dem Weg gehen möchte, trafen wir uns an mehrere Stellen im Markt ständig wieder, aber weder Rainer noch ich ließen uns anmerken, einander zu kennen. Ich bereitete mich innerlich darauf vor, mit ihm ins Gespräch zu kommen und ich überlegte hin und her, was ich sagen sollte und wie ich mich am besten geben würde, um dem Kranken den gebührenden Respekt entgegenzubringen und gleichzeitig eine für meine damalige Schandtat um Verzeihung bittende Haltung und Ausstrahlung anzunehmen. Es schien mir unbedingt nötig, sanft und liebevoll wirken zu müssen, so als sei ich nie und nimmer mehr in der Lage und fähig ihm gegenüber auch nur den geringsten Anflug von Aggression in mir zu hegen. Ich war ja auch durch die jahrzehntelangen Schuldgefühle geläutert und fühlte mich dadurch würdig genug, mit ihm wieder in Kontakt treten zu dürfen.



Mutters Einkäufe waren fast erledigt und wir orientierten uns schon zur Kasse und zum Ausgang hin. Es schien, als ginge der Kelch noch mal an mir vorüber. Fast bedauerte ich es etwas nicht die Chance zu bekommen, mit Rainer endlich reinen Tisch machen zu können.

Da bog Rainer in unseren Regalgang ein. Es war ein sehr langer Gang und Rainer kam vom ganz anderen Ende leicht hinkend seinen Wagen schiebend auf mich zu. Zunächst wollte ich mich abwenden und so tun, als suche ich ganz geschäftig irgendetwas Besonderes im Regal.
Aber dann beschloss ich der Sache ins Auge zu sehen und wandte mich um und blickte dem heranschlurfenden Rainer offen und ehrlich ins Gesicht. Dieser allerdings hatte seinen Kopf majestätisch gehoben und blickte schräg nach oben, gar nicht zu mir herunter.


Sein Blick traf mich nicht, aber sein ganzer Gesichtsausdruck schien lächelndes Desinteresse auszudrücken. Als er so den endlos langen Gang herankam und schließlich wie in Zeitlupe an mir, dem völlig Unbeachteten vorbeizog, verlieh ihm die Aura der unheilbaren Krankheit eine Ausstrahlung der Weltüberwundenheit, wie ich sie zuletzt nur bei dem Dalai Lama gesehen hatte. Seine Frau, die ihm in gebührendem Abstand folgte, kam mir vor wie ein nachschreitender Engel, der seine unsichtbare Schleppe trägt.

Als die ganze Erscheinung vorüber war, wusste ich, ich würde meine Schuld auch weiterhin alleine tragen müssen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hey, Hera!

Ist ja nicht immer klar ersichtlich, wo autobiographisch geschrieben wird und wo nicht, aber wenn man deine Texte aneinanderlegt, ergibt sich schön langsam sowas wie ein Entwicklungsroman.
Je mehr man von dir liest, umso besser glaubt man dich und deinen speziellen Werdegang persönlich zu kennen. Deine Offenheit, deine authentisch wirkenden Selbstreflexionen machen dich dabei menschlich sympathisch und es regt sich stets Verständnis für die Beweggründe deiner Ich-Figur, wenngleich sich diese oft widersprüchlich und suboptimal verhält.

Stilistisch beschreibst du alltägliche Szenen wirklich gekonnt und reizvoll, verwebst im rechten Augenmaß Gegenwart mit Vergangenheit und inneren Betrachtungen, kommst immer so auf einen (Höhe)Punkt, dass der Text spannend zu lesen ist und trotzdem eine tiefere Ebene hat.
Kein Wort zu viel, keins zu wenig.

Daumen hoch von

Erdling
 

Hera Klit

Mitglied
Hey, Hera!

Ist ja nicht immer klar ersichtlich, wo autobiographisch geschrieben wird und wo nicht, aber wenn man deine Texte aneinanderlegt, ergibt sich schön langsam sowas wie ein Entwicklungsroman.
Je mehr man von dir liest, umso besser glaubt man dich und deinen speziellen Werdegang persönlich zu kennen. Deine Offenheit, deine authentisch wirkenden Selbstreflexionen machen dich dabei menschlich sympathisch und es regt sich stets Verständnis für die Beweggründe deiner Ich-Figur, wenngleich sich diese oft widersprüchlich und suboptimal verhält.

Stilistisch beschreibst du alltägliche Szenen wirklich gekonnt und reizvoll, verwebst im rechten Augenmaß Gegenwart mit Vergangenheit und inneren Betrachtungen, kommst immer so auf einen (Höhe)Punkt, dass der Text spannend zu lesen ist und trotzdem eine tiefere Ebene hat.
Kein Wort zu viel, keins zu wenig.

Daumen hoch von

Erdling
Vielen Dank, lieber Erdling.


Liebe Grüße
Hera
 



 
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