Lena Rami-Bentigem
Mitglied
Draußen goss es wie aus Kübeln. Die Tropfen waren so groß, dass sie Blasen in der Pfütze zurückließen. Der Regen trommelte auf das Flachdach. Daheim tropft es jetzt bestimmt wieder vom kaputten Dachfenster auf mein Bett, dachte sie, als sie den Tropfen am Fenster zusah. „Lisa!?“ Frau Gebhardt schlug mit der flachen Hand vor ihr auf den Tisch. „Hörst du mir zu? So kann das einfach nicht weitergehen! Du lässt uns keine Wahl mehr.“ Am Fenster lief ein Tropfen langsam nach unten, vereinigte sich mit einem weiteren und noch einem, bis er immer größer und schneller wurde und schließlich in einem gekurvten Band aus Wasser die Scheibe hinunterlief. Sie hörte nicht wirklich zu. Sie kannte ja all das schon.
Nicht zum ersten Mal saß sie hier, in dem finsteren Büro der Direktorin mit der dunkelbraunen holzgetäfelten Decke und dem großen Gummibaum in der Ecke. Der Schreibtisch hatte Füße aus Messing, das im Laufe der Zeit schon unzählige blinde Flecken bekommen hatte. Wie viele Schüler waren über die Jahre wohl schon hier gesessen wie sie und hatten sich zusammenstauchen lassen müssen? Füße. Beine und Füße. Warum haben Tische eigentlich Beine?
„Schau Mädchen, ich will ja nur verstehen, warum du nicht in die Schule kommst. Hast du Probleme mit anderen Schülern? Deine Klassenlehrerin meint, du kommst eigentlich ganz gut mit allen in der 8b aus. Und deine Mutter hat mir gesagt, dass du jeden früh aus dem Haus gehst und zur Schule läufst. Nur, dass du die Hälfte der Zeit da eben nicht ankommst. Wenn dich die Polizei heute nicht auf dem Spielplatz aufgegriffen und dich doch noch hergebracht hätte, wärst du auch heute wieder nicht da gewesen. Elf Fehltage! Elf! Elfmal hast du seit den Ferien unentschuldigt gefehlt. Und dabei ist es gerade einmal Anfang Oktober … . Verdammt noch mal, jetzt sag auch endlich mal was! Warum kommst du nicht? Was ist denn bitte los mit dir? Du bist doch sonst so zuverlässig! Deine Hausaufgaben sind untadelig, deine Noten sind gut. Lisa? Antworte mir bitte!“
Doch Lisa schwieg. Wie jedes Mal, wenn die Direktorin sie in ihr Büro kommen ließ. Wie jedes Mal, wenn ihre Klassenlehrerin oder der Verbindungslehrer mit ihr sprachen. Eigentlich wollte sie es ihnen ja sagen, aber sie schämte sich so fürchterlich. Sie konnte es ihnen niemals sagen. Sie würden es ja doch nicht verstehen. Einmal hatte sie es versucht, aber das war ihr eine Lehre gewesen.
„Na gut. Du lässt mir keine andere Wahl. Ich werde den Disziplinarausschuss zusammenrufen und wir werden heute Nachmittag über deine Entlassung beraten. Du hattest mehr als eine Chance. Jeder ist eben seines eigenen Glückes Schmied.“ Sie stand auf und öffnete schweigend die Tür. Mit gesengtem Kopf verließ Lisa das Büro und ging den Gang hinunter.
Sie erinnerte sich an den Morgen. Da war es noch schön gewesen. Frühherbstlich warm. Einen goldenen Oktobermorgen hätten es ihre Lehrerin vermutlich genannt. Die Blätter der Bäume leuchteten rot und orange in der schrägen Morgensonne und sie lief durch das raschelnde Laub die Straße entlang. Sie war fast alleine auf der Straße. Die anderen Kinder waren vermutlich alle schon längst in der Schule.
Es war viel zu schön heute, um sich sinnlos abzuhetzen. Beim Losrennen war sie noch voller Wut gewesen. Wütend auf ihre rücksichtlosen Geschwister, wütend auf ihre verständnislose Mutter, wütend auf die stinkende heruntergekommene Wohnung, wütend auf sich. Jeden Morgen dasselbe. Immer war sie die letzte, die ins Bad durfte. „Deine Geschwister gehen vor“, pflegte ihr Mutter zu sagen. „Sie sind älter und haben mehr Pflichten als du!“ Das verstand sie ja auch, aber mit nur einem kleinen Bad und sieben Leuten daheim, war sie immer die Letzte. Und damit die Letzte in der Schule. Ihr blieb keine Wahl, als entweder ungewaschen und mit wilden Haaren zu gehen oder gar nicht.
Aber mittlerweile fühlte sie sich besser. Der wunderschöne Morgen und die aufgehende Herbstsonne löste die Wut genauso auf wie den trüben Morgennebel. Als sie am Park vorbeikam, ging sie nicht weiter die Allee entlang in Richtung der Schule, sondern bog auf den Kiesweg ab, der längs des Flusses in den Park führte. Am Spielplatz angekommen, zog sie ihre nach ihrem schimmeligen Zimmer stinkende Jacke aus und warf sie zusammen mit ihrer Schultasche auf eine Bank neben dem Sandkasten. Sie begann, auf das große Kletternetz zu steigen. Höher, immer höher. Bis ganz nach oben. Wie sie dieses Netz liebte. Eine Pyramide aus Seilen, die an einem zentralen Mast befestigt war und ganz oben eine Art Baumhaus aus Gummimatten hatte, die zwischen den Maschen des Netzes gespannt waren.
Als sie klein war, hatte sie gedacht, dass man von dort oben die ganze Stadt sehen müsste, so hoch war ihr die Pyramide vorgekommen. Allerdings hatte sie sich damals nie bis ganz nach oben getraut. Sie hatte viel zu viel Angst gehabt, hinunterzufallen. Aber jetzt kletterte sie, so hoch sie konnte. Die ganzen 12 Meter. Oben angekommen setzte sie sich auf eine der Gummimatten, schloss die Augen und ließ sich die warme Sonne ins Gesicht brennen. Sie atmete tief durch und fühlte sich das erste Mal an diesem Tag frei und sorglos. Der Wind raschelte in den Blättern und im Laub. Die Kirchturmuhr schlug drei Mal. 8:45 Uhr. Die anderen hatten jetzt Mathe.
Unten auf der Bank neben ihrer Schultasche saß plötzlich jemand. Sie hatte es nicht bemerkt. Eine alte Frau in einem leuchtend orangenen Cordmantel. Sie blickte zu ihr hoch. Sofort schämte sich Lisa wieder. Doch gerade, als sie den Blick abwenden wollte, sah sie, dass die alte Frau breit lächelte. Lisa lächelte zurück. „Weißt du, wie gerne ich hoch zu dir kommen würde?“ rief die alte Frau nach oben. „Leider geht das in meinem Alter nicht mehr. Die Leute würden mich sonst sofort in die Klapsmühle einliefern lassen.“ Sie kicherte laut. „Aber früher hättest du mich von dem Ding nicht runtergekriegt. Leider gab es so was in meiner Jugend aber nicht. Dafür bin ich auf sämtliche Bäume geklettert. Immer ganz bis oben.“
Lisa schwieg. Die alte Frau ließ sich davon aber nicht stören. „Ein paarmal bin ich auch runtergefallen, aber das gehört dazu. Nirgendwo sonst fühlt man sich so gut, wie oben, oder?“ Sie öffnete ihre Tasche und kramte eine Tupperdose heraus. „Selbstgemachte Haferkekse. Willst du?“ Sie hielt Lisa die Schale entgegen. Lisa überlegte. Sie hatte wirklich Hunger und ein paar Kekse wären jetzt nicht schlecht.
Wie immer hatte sie keine Zeit für ein Frühstück gehabt. Aber sie hatte auch die Erfahrung gemacht, dass Erwachsenen sie sofort fragen würden, warum sie nicht in der Schule sei. Einige hatten sogar die Polizei gerufen. Auf Erklärungen und Schuldgefühle hatte sie absolut keine Lust. Auf die Polizei und die Direktorin schon gar nicht. Aber sie hatte wirklich Hunger. Und nach einer kurzen Abwägung siegte schließlich der Hunger über die Angst. Sie beschloss, dass von der alten Dame keine unmittelbare Gefahr ausging und begann, von der Kletterpyramide herunterzusteigen. Die letzten zweieinhalb Meter sprang sie. Sie landete gekonnt im Sand und setzte sich neben die Frau.
Die Kekse waren dick und knusprig und schmeckten nach Honig, Orange und Mandeln. Schweigend saßen sie nebeneinander in der Oktobersonne und kauten. Lisa aß fast die gesamte Schüssel leer, aber die alte Dame sagte kein Wort. Erst nach einer ganzen Weile begann sie. „Weißt du, ich war sehr neidisch, als ich dich da oben sitzen gesehen habe. So frei. So jung. Und so hübsch.“ „Ich bin nicht hübsch!“, grummelte Lisa wütend. Die alte Frau drehte sich zu ihr und zum ersten Mal sahen sich die beiden direkt an. Sie hatte hellblaue wässrige Augen und tiefe Lachfalten in ihrem runzligen Gesicht. „Doch, das bist du.“, sagte sie sanft, aber bestimmt. „Ich hab Ahnung davon und die Erfahrung dazu.“, lachte sie. „Lass dir von niemandem anderen das Gegenteil einreden. Wer sagt denn so einen Blödsinn überhaupt?“ Sie reichte ihr abermals die Tupperschüssel und schwieg wieder.
Im Beet neben der Bank summten einige letzte Bienen um die letzten blühenden Sonnenhüte. Vielleicht war es ihr Schweigen oder ihr breites freundliches Lächeln. Vielleicht waren es die Bienen oder die Sonne. Sie konnte später nicht genau sagen, warum. Aber plötzlich begann Lisa zu reden. Sie erzählte von sich, von ihrem Zimmer, von ihren Geschwistern, von der Schule. Es strömte wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Die Dame saß nur da, hörte zu und kaute an den Keksen.
Es dauerte eine lange Zeit, bis Lisa wieder schwieg. Die Bienen summten, ein Vogel rief. Dann nahm die alte Frau Lisas Hand und blickte ihr sehr ernst direkt in die Augen. Einen Augenblick lang konnte Lisa nichts in dem zerfurchten Gesicht lesen. Doch dann blitzten die Augen der Frau plötzlich auf und sie setzte wieder dieses breite, freche Lächeln auf. „Es war sehr nett, dich kennen zu lernen, Lisa. Ich muss jetzt aber los, ich habe noch was zu erledigen.“ Sie stand auf, packte die Tupperdose in ihre Handtasche, nahm den orangenen Cordmantel und stand auf. „Ach, wie heißt du denn eigentlich mit Nachnamen?“, fragte sie dabei beiläufig und ohne hinzusehen. „Mayer“, antwortete Lisa, ohne groß darüber nachzudenken. „Und, in welche Schule gehst du?“
Sofort strömte ihr die Wärme des Schams und der Angst über die Schultern in Ohren und ins Gesicht und in ihrem Bauch zog sich ein kalter kneifender Knoten fest zusammen. Sie senkte Kopf und Schultern und ohne zu Antworten zeigte sie nur über den Fluss in die Richtung des Flachbaus in der Ferne. Die alte Dame sah sie an, als wollte sie noch etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf und ging. Auf dem Kiesweg knirschten ihre Stiefel. Lisa war wütend. Wütend auf sich selbst. Sie hatte sich einlullen lassen. Einen dummen dummen Fehler gemacht.
Sie sah der Frau hinterher und, wie um sie zu bestätigen, sah sie, wie die Frau ihr Handy aus der Manteltasche nahm und telefonierte. Warum war sie so blöd gewesen? Warum hatte sie ihr das alles gesagt? Warum hatte sie ihr vertraut? Man konnte Erwachsenen eben nicht trauen, auch wenn sie noch so nett taten. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, schrie sie laut. Lisa war zum Heulen zumute. Sie kämpfte gegen die Wut und die Tränen und packte schnell ihre Jacke und ihre Schulsachen und begann zu laufen. In die entgegengesetzte Richtung. Weg vom Fluss. Weg von der Schule. Sie hatte den Park verlassen und wollte gerade über die Straße, als genau vor ihr der Streifenwagen hielt und sofort die Tür aufflog. „Guten Morgen junge Dame. Wo wolln mer denn so schnell hie? Bleib doch bitte mal da, wir hätten da ein paar Fragen an dich.“
Jetzt saß Lisa im Klassenzimmer der 8b und die Blicke der anderen brannten ihr wie Feuer auf dem Hinterkopf. Der Geo-Lehrer hatte nur kurz hochgeblickt, als sie das Klassenzimmer betrat und sie ansonsten ignoriert. In der letzten Reihe tuschelten die Mädchen. Bestimmt über sie. Wahrscheinlich wieder, wie furchtbar ihre Haare aussahen. Was sie wieder Unpassendes anhatte oder wie ungewaschen sie aussah. Kannte man ja alles schon. Lisa zog die Schultern hoch wie ein Schutzschild und starrte auf ihre dreckigen Schuhe.
Kurz vor Ende der Stunde knackste der Lautsprecher und die Sekretärin sagte über die Anlage: „Lisa Mayer, Klasse 8b, bitte jetzt sofort im Direktorat melden. Lisa Mayer 8b, bitte ins Direktorat.“ Lisa sog tief die Luft ein, wischte sich über das Gesicht, nahm ihre Jacke und Tasche und verließ ohne ein Wort und ohne den Blick vom Boden zu heben das Klassenzimmer. Die Blicke der Schüler und des Lehrers folgten ihr.
Auf dem Weg in den Verwaltungstrakt hatte sie in ihrer Verzweiflung kurz erwogen, einfach die Ausgangstür aufzudrücken, rauszugehen und dann zu verschwinden. Aber vermutlich hätte man ihr dann wieder sofort die Polizei hinterhergeschickt. Wieder kämpfte sie mit den Tränen. Das war es jetzt also. Jetzt würde sie fliegen. Zum zweiten Mal heute betrat sie das Büro der Direktorin. Drinnen warteten diese, der Konrektor, der Verbindungslehrer und ihre Klassenlehrerin schon auf sie. Die drei saßen in einer Reihe hinter dem breiten Schreitisch, ihre Lehrerin stand daneben. Es sah aus wie in einer Gerichtsverhandlung. Das hohe Gericht. Das Exekutionskommando. „Bitte setz dich Lisa.“, die Direktorin deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Also gut, wenn schon, dann würde sie mit Würde untergehen.
Als sie zu reden begann, hörte Lisa nur am Anfang zu. Eigentlich war es ihr egal. Sollten sie sie doch rauswerfen. Was macht das schon aus? Sie sah niemanden der Anwesenden an. Ihr Blick glitt im Zimmer umher und blieb mit plötzlich am Jackenständer neben der Tür hängen. Davor stand eine große Handtasche und am Hacken hing ein leuchtend orangener Cordmantel.
In diesem Moment ging die Tür auf: „Ah, Frau Mayer. Ich wollte Lisa gerad erklären, wie wir weiter vorgehen. Lisa, deine Oma hat uns alles sehr ausführlich erklärt. Ich finde es ja wirklich toll, dass du ihr geholfen hast, als es ihr nicht gut ging. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du uns das nicht gesagt hast. Das ist doch kein Grund, sich zu schämen. Ganz im Gegenteil. Und deine Oma war auch ganz erstaunt, dass du uns nichts davon gesagt hast. Wir werden deshalb den Disziplinarausschuss absagen. Aber du musst uns versprechen, ab jetzt immer pünktlich zum Unterricht zu kommen. Frau Mayer hat zugesagt, in Zukunft deine Hilfe nur noch anzunehmen, wenn dafür kein wichtiger Unterricht mehr ausfällt.“ Lisa stand der Mund offen. Sie sah zur Direktorin, zum Konrektor, dann wanderte ihr Blick über den Verbindungslehrer und ihre Klassleiterin weiter nach rechts. Wieder dieses spitzbübische Lächeln. Lisa stand auf und viel ihr um den Hals. Und dann flüsterte sie „Danke, OMA!“
Nicht zum ersten Mal saß sie hier, in dem finsteren Büro der Direktorin mit der dunkelbraunen holzgetäfelten Decke und dem großen Gummibaum in der Ecke. Der Schreibtisch hatte Füße aus Messing, das im Laufe der Zeit schon unzählige blinde Flecken bekommen hatte. Wie viele Schüler waren über die Jahre wohl schon hier gesessen wie sie und hatten sich zusammenstauchen lassen müssen? Füße. Beine und Füße. Warum haben Tische eigentlich Beine?
„Schau Mädchen, ich will ja nur verstehen, warum du nicht in die Schule kommst. Hast du Probleme mit anderen Schülern? Deine Klassenlehrerin meint, du kommst eigentlich ganz gut mit allen in der 8b aus. Und deine Mutter hat mir gesagt, dass du jeden früh aus dem Haus gehst und zur Schule läufst. Nur, dass du die Hälfte der Zeit da eben nicht ankommst. Wenn dich die Polizei heute nicht auf dem Spielplatz aufgegriffen und dich doch noch hergebracht hätte, wärst du auch heute wieder nicht da gewesen. Elf Fehltage! Elf! Elfmal hast du seit den Ferien unentschuldigt gefehlt. Und dabei ist es gerade einmal Anfang Oktober … . Verdammt noch mal, jetzt sag auch endlich mal was! Warum kommst du nicht? Was ist denn bitte los mit dir? Du bist doch sonst so zuverlässig! Deine Hausaufgaben sind untadelig, deine Noten sind gut. Lisa? Antworte mir bitte!“
Doch Lisa schwieg. Wie jedes Mal, wenn die Direktorin sie in ihr Büro kommen ließ. Wie jedes Mal, wenn ihre Klassenlehrerin oder der Verbindungslehrer mit ihr sprachen. Eigentlich wollte sie es ihnen ja sagen, aber sie schämte sich so fürchterlich. Sie konnte es ihnen niemals sagen. Sie würden es ja doch nicht verstehen. Einmal hatte sie es versucht, aber das war ihr eine Lehre gewesen.
„Na gut. Du lässt mir keine andere Wahl. Ich werde den Disziplinarausschuss zusammenrufen und wir werden heute Nachmittag über deine Entlassung beraten. Du hattest mehr als eine Chance. Jeder ist eben seines eigenen Glückes Schmied.“ Sie stand auf und öffnete schweigend die Tür. Mit gesengtem Kopf verließ Lisa das Büro und ging den Gang hinunter.
Sie erinnerte sich an den Morgen. Da war es noch schön gewesen. Frühherbstlich warm. Einen goldenen Oktobermorgen hätten es ihre Lehrerin vermutlich genannt. Die Blätter der Bäume leuchteten rot und orange in der schrägen Morgensonne und sie lief durch das raschelnde Laub die Straße entlang. Sie war fast alleine auf der Straße. Die anderen Kinder waren vermutlich alle schon längst in der Schule.
Es war viel zu schön heute, um sich sinnlos abzuhetzen. Beim Losrennen war sie noch voller Wut gewesen. Wütend auf ihre rücksichtlosen Geschwister, wütend auf ihre verständnislose Mutter, wütend auf die stinkende heruntergekommene Wohnung, wütend auf sich. Jeden Morgen dasselbe. Immer war sie die letzte, die ins Bad durfte. „Deine Geschwister gehen vor“, pflegte ihr Mutter zu sagen. „Sie sind älter und haben mehr Pflichten als du!“ Das verstand sie ja auch, aber mit nur einem kleinen Bad und sieben Leuten daheim, war sie immer die Letzte. Und damit die Letzte in der Schule. Ihr blieb keine Wahl, als entweder ungewaschen und mit wilden Haaren zu gehen oder gar nicht.
Aber mittlerweile fühlte sie sich besser. Der wunderschöne Morgen und die aufgehende Herbstsonne löste die Wut genauso auf wie den trüben Morgennebel. Als sie am Park vorbeikam, ging sie nicht weiter die Allee entlang in Richtung der Schule, sondern bog auf den Kiesweg ab, der längs des Flusses in den Park führte. Am Spielplatz angekommen, zog sie ihre nach ihrem schimmeligen Zimmer stinkende Jacke aus und warf sie zusammen mit ihrer Schultasche auf eine Bank neben dem Sandkasten. Sie begann, auf das große Kletternetz zu steigen. Höher, immer höher. Bis ganz nach oben. Wie sie dieses Netz liebte. Eine Pyramide aus Seilen, die an einem zentralen Mast befestigt war und ganz oben eine Art Baumhaus aus Gummimatten hatte, die zwischen den Maschen des Netzes gespannt waren.
Als sie klein war, hatte sie gedacht, dass man von dort oben die ganze Stadt sehen müsste, so hoch war ihr die Pyramide vorgekommen. Allerdings hatte sie sich damals nie bis ganz nach oben getraut. Sie hatte viel zu viel Angst gehabt, hinunterzufallen. Aber jetzt kletterte sie, so hoch sie konnte. Die ganzen 12 Meter. Oben angekommen setzte sie sich auf eine der Gummimatten, schloss die Augen und ließ sich die warme Sonne ins Gesicht brennen. Sie atmete tief durch und fühlte sich das erste Mal an diesem Tag frei und sorglos. Der Wind raschelte in den Blättern und im Laub. Die Kirchturmuhr schlug drei Mal. 8:45 Uhr. Die anderen hatten jetzt Mathe.
Unten auf der Bank neben ihrer Schultasche saß plötzlich jemand. Sie hatte es nicht bemerkt. Eine alte Frau in einem leuchtend orangenen Cordmantel. Sie blickte zu ihr hoch. Sofort schämte sich Lisa wieder. Doch gerade, als sie den Blick abwenden wollte, sah sie, dass die alte Frau breit lächelte. Lisa lächelte zurück. „Weißt du, wie gerne ich hoch zu dir kommen würde?“ rief die alte Frau nach oben. „Leider geht das in meinem Alter nicht mehr. Die Leute würden mich sonst sofort in die Klapsmühle einliefern lassen.“ Sie kicherte laut. „Aber früher hättest du mich von dem Ding nicht runtergekriegt. Leider gab es so was in meiner Jugend aber nicht. Dafür bin ich auf sämtliche Bäume geklettert. Immer ganz bis oben.“
Lisa schwieg. Die alte Frau ließ sich davon aber nicht stören. „Ein paarmal bin ich auch runtergefallen, aber das gehört dazu. Nirgendwo sonst fühlt man sich so gut, wie oben, oder?“ Sie öffnete ihre Tasche und kramte eine Tupperdose heraus. „Selbstgemachte Haferkekse. Willst du?“ Sie hielt Lisa die Schale entgegen. Lisa überlegte. Sie hatte wirklich Hunger und ein paar Kekse wären jetzt nicht schlecht.
Wie immer hatte sie keine Zeit für ein Frühstück gehabt. Aber sie hatte auch die Erfahrung gemacht, dass Erwachsenen sie sofort fragen würden, warum sie nicht in der Schule sei. Einige hatten sogar die Polizei gerufen. Auf Erklärungen und Schuldgefühle hatte sie absolut keine Lust. Auf die Polizei und die Direktorin schon gar nicht. Aber sie hatte wirklich Hunger. Und nach einer kurzen Abwägung siegte schließlich der Hunger über die Angst. Sie beschloss, dass von der alten Dame keine unmittelbare Gefahr ausging und begann, von der Kletterpyramide herunterzusteigen. Die letzten zweieinhalb Meter sprang sie. Sie landete gekonnt im Sand und setzte sich neben die Frau.
Die Kekse waren dick und knusprig und schmeckten nach Honig, Orange und Mandeln. Schweigend saßen sie nebeneinander in der Oktobersonne und kauten. Lisa aß fast die gesamte Schüssel leer, aber die alte Dame sagte kein Wort. Erst nach einer ganzen Weile begann sie. „Weißt du, ich war sehr neidisch, als ich dich da oben sitzen gesehen habe. So frei. So jung. Und so hübsch.“ „Ich bin nicht hübsch!“, grummelte Lisa wütend. Die alte Frau drehte sich zu ihr und zum ersten Mal sahen sich die beiden direkt an. Sie hatte hellblaue wässrige Augen und tiefe Lachfalten in ihrem runzligen Gesicht. „Doch, das bist du.“, sagte sie sanft, aber bestimmt. „Ich hab Ahnung davon und die Erfahrung dazu.“, lachte sie. „Lass dir von niemandem anderen das Gegenteil einreden. Wer sagt denn so einen Blödsinn überhaupt?“ Sie reichte ihr abermals die Tupperschüssel und schwieg wieder.
Im Beet neben der Bank summten einige letzte Bienen um die letzten blühenden Sonnenhüte. Vielleicht war es ihr Schweigen oder ihr breites freundliches Lächeln. Vielleicht waren es die Bienen oder die Sonne. Sie konnte später nicht genau sagen, warum. Aber plötzlich begann Lisa zu reden. Sie erzählte von sich, von ihrem Zimmer, von ihren Geschwistern, von der Schule. Es strömte wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Die Dame saß nur da, hörte zu und kaute an den Keksen.
Es dauerte eine lange Zeit, bis Lisa wieder schwieg. Die Bienen summten, ein Vogel rief. Dann nahm die alte Frau Lisas Hand und blickte ihr sehr ernst direkt in die Augen. Einen Augenblick lang konnte Lisa nichts in dem zerfurchten Gesicht lesen. Doch dann blitzten die Augen der Frau plötzlich auf und sie setzte wieder dieses breite, freche Lächeln auf. „Es war sehr nett, dich kennen zu lernen, Lisa. Ich muss jetzt aber los, ich habe noch was zu erledigen.“ Sie stand auf, packte die Tupperdose in ihre Handtasche, nahm den orangenen Cordmantel und stand auf. „Ach, wie heißt du denn eigentlich mit Nachnamen?“, fragte sie dabei beiläufig und ohne hinzusehen. „Mayer“, antwortete Lisa, ohne groß darüber nachzudenken. „Und, in welche Schule gehst du?“
Sofort strömte ihr die Wärme des Schams und der Angst über die Schultern in Ohren und ins Gesicht und in ihrem Bauch zog sich ein kalter kneifender Knoten fest zusammen. Sie senkte Kopf und Schultern und ohne zu Antworten zeigte sie nur über den Fluss in die Richtung des Flachbaus in der Ferne. Die alte Dame sah sie an, als wollte sie noch etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf und ging. Auf dem Kiesweg knirschten ihre Stiefel. Lisa war wütend. Wütend auf sich selbst. Sie hatte sich einlullen lassen. Einen dummen dummen Fehler gemacht.
Sie sah der Frau hinterher und, wie um sie zu bestätigen, sah sie, wie die Frau ihr Handy aus der Manteltasche nahm und telefonierte. Warum war sie so blöd gewesen? Warum hatte sie ihr das alles gesagt? Warum hatte sie ihr vertraut? Man konnte Erwachsenen eben nicht trauen, auch wenn sie noch so nett taten. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, schrie sie laut. Lisa war zum Heulen zumute. Sie kämpfte gegen die Wut und die Tränen und packte schnell ihre Jacke und ihre Schulsachen und begann zu laufen. In die entgegengesetzte Richtung. Weg vom Fluss. Weg von der Schule. Sie hatte den Park verlassen und wollte gerade über die Straße, als genau vor ihr der Streifenwagen hielt und sofort die Tür aufflog. „Guten Morgen junge Dame. Wo wolln mer denn so schnell hie? Bleib doch bitte mal da, wir hätten da ein paar Fragen an dich.“
Jetzt saß Lisa im Klassenzimmer der 8b und die Blicke der anderen brannten ihr wie Feuer auf dem Hinterkopf. Der Geo-Lehrer hatte nur kurz hochgeblickt, als sie das Klassenzimmer betrat und sie ansonsten ignoriert. In der letzten Reihe tuschelten die Mädchen. Bestimmt über sie. Wahrscheinlich wieder, wie furchtbar ihre Haare aussahen. Was sie wieder Unpassendes anhatte oder wie ungewaschen sie aussah. Kannte man ja alles schon. Lisa zog die Schultern hoch wie ein Schutzschild und starrte auf ihre dreckigen Schuhe.
Kurz vor Ende der Stunde knackste der Lautsprecher und die Sekretärin sagte über die Anlage: „Lisa Mayer, Klasse 8b, bitte jetzt sofort im Direktorat melden. Lisa Mayer 8b, bitte ins Direktorat.“ Lisa sog tief die Luft ein, wischte sich über das Gesicht, nahm ihre Jacke und Tasche und verließ ohne ein Wort und ohne den Blick vom Boden zu heben das Klassenzimmer. Die Blicke der Schüler und des Lehrers folgten ihr.
Auf dem Weg in den Verwaltungstrakt hatte sie in ihrer Verzweiflung kurz erwogen, einfach die Ausgangstür aufzudrücken, rauszugehen und dann zu verschwinden. Aber vermutlich hätte man ihr dann wieder sofort die Polizei hinterhergeschickt. Wieder kämpfte sie mit den Tränen. Das war es jetzt also. Jetzt würde sie fliegen. Zum zweiten Mal heute betrat sie das Büro der Direktorin. Drinnen warteten diese, der Konrektor, der Verbindungslehrer und ihre Klassenlehrerin schon auf sie. Die drei saßen in einer Reihe hinter dem breiten Schreitisch, ihre Lehrerin stand daneben. Es sah aus wie in einer Gerichtsverhandlung. Das hohe Gericht. Das Exekutionskommando. „Bitte setz dich Lisa.“, die Direktorin deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Also gut, wenn schon, dann würde sie mit Würde untergehen.
Als sie zu reden begann, hörte Lisa nur am Anfang zu. Eigentlich war es ihr egal. Sollten sie sie doch rauswerfen. Was macht das schon aus? Sie sah niemanden der Anwesenden an. Ihr Blick glitt im Zimmer umher und blieb mit plötzlich am Jackenständer neben der Tür hängen. Davor stand eine große Handtasche und am Hacken hing ein leuchtend orangener Cordmantel.
In diesem Moment ging die Tür auf: „Ah, Frau Mayer. Ich wollte Lisa gerad erklären, wie wir weiter vorgehen. Lisa, deine Oma hat uns alles sehr ausführlich erklärt. Ich finde es ja wirklich toll, dass du ihr geholfen hast, als es ihr nicht gut ging. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du uns das nicht gesagt hast. Das ist doch kein Grund, sich zu schämen. Ganz im Gegenteil. Und deine Oma war auch ganz erstaunt, dass du uns nichts davon gesagt hast. Wir werden deshalb den Disziplinarausschuss absagen. Aber du musst uns versprechen, ab jetzt immer pünktlich zum Unterricht zu kommen. Frau Mayer hat zugesagt, in Zukunft deine Hilfe nur noch anzunehmen, wenn dafür kein wichtiger Unterricht mehr ausfällt.“ Lisa stand der Mund offen. Sie sah zur Direktorin, zum Konrektor, dann wanderte ihr Blick über den Verbindungslehrer und ihre Klassleiterin weiter nach rechts. Wieder dieses spitzbübische Lächeln. Lisa stand auf und viel ihr um den Hals. Und dann flüsterte sie „Danke, OMA!“
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator: