Schwärme

Zuerst war alles ruhig auf dem Schlossplatz. Es war der dreizehnte Krönungstag des Königs. Gelbe Fahnen, auf denen die schwarze Silhouette einer Eule prangte, wurden gehisst. Das königliche Wappen. Sie wehten leise im Wind. Eine große Tafel war vorbereitet, auf der nach und nach die köstlichsten Speisen drapiert wurden. Gaukler positionierten sich, um die bald eintreffenden Gäste zu unterhalten. Überall waren königliche Wachposten stationiert; kaum ein Winkel des Hofes blieb unbeobachtet.
Es war ein warmer Herbstmorgen mit blauem Himmel und strahlender Sonne, nur ein paar einsame weiße Schäfchenwolken zogen über das blaue Zelt nach Osten.
Hufgetrappel erklang dumpf aus der Ferne, wenig später fuhren die ersten Kutschen ein und die geladenen Adligen der Umliegenden Länder entstiegen ihnen in feierlichen Gewändern. Dennoch blieb alles ruhig. Die Anspannung lähmte jede Zunge. Sie alle warteten auf den Größten von ihnen; den, dem sie alle untertänig waren, ganz gleich ob Magd oder Gräfin, Stallbursche oder Freiherr.
Ein junger Mann mit einem Handkarren hinter sich eilte durch das Hoftor hinein. Er hatte frische Trauben, Äpfel und anderes Obst geladen, dass erst kurz zuvor auf den Schlosseigenen Plantagen gepflückt worden war. Seine sandfarbenen, fast halblangen Haare wippten auf und ab während er lief. Hinter ihm lief ein zweiter junger Mann, der darauf achtete, dass die Ware heil den Platz erreichte. Sein Haar war kürzer, als das des Karrenziehers und er trug ein ausgeblichenes rotes Tuch um die Stirn. Ein dunkelhaariges Mädchen, das gerade die letzten Blumengestecke angeordnet hatte, empfing sie und führte die beiden still Richtung Küche.
Als die Posaunen erklangen, standen alle Versammelten, wie auf ein geheimes Kommando stramm und richteten ihre Blicke auf das imposante Tor, das in die Eingangshalle des Schlosses führte. Langsam öffnete es sich und heraus schritt der König. Seine weinrote, seidene Robe schimmerte im Sonnenlicht. Sein braunes Haar glänzte unter der reich verzierten Krone und seinen Schnurrbart trug er stolz mit erhobenem Kinn in den Hof hinein. Alles schwieg. Auch die Posaunen waren verklungen. Da trat ein kleines blondes Mädchen mit zwei langen geflochtenen Zöpfen, die am Ende mit zwei kleinen blauen Schleifen zugebunden waren, aus der Menge hervor. Sie hielt eine Flöte in der Hand. Etwas nervös stellte sie sich in den Kreis, den die Umstehenden gebildet hatten, um den König zu empfangen. Sie hob ihre Flöte an den Mund, holte tief Luft und begann zu spielen. Eine liebliche, fröhliche Melodie. Der König lauschte. Er genoss es; ein Lied nur ihm zu Ehren, von einem so kleinen, süßen Mädchen gespielt. Sein Mund breitete sich zu einem zufriedenen, selbstgefälligen Grinsen.
Der letzte Ton lag lange in der Luft. Das war das Zeichen. Kaum ein Augenblick war vergangen, seit die Melodie verklungen war, da breiteten sich dichte, dunkelgraue Rauchwolken aus. Im nu war der ganze Hof vernebelt. Sofort waren einige Wachen zur Stelle, um den König in Sicherheit zu bringen. Die übrigen Wachmänner versuchten die Täter ausfindig zu machen, aber wegen der schlechten Sicht erkannten sie kaum die Hand vor Augen. Der Qualm stach in den Augen und biss in der Lunge. Hin und wieder huschte eine Gestalt durch die Schwaden, doch einfach angreifen wäre töricht, sie könnten Gäste verletzen - die allesamt von hohem Rang waren - oder Kameraden behindern. Ein Rascheln war zu hören, dann noch eines, doch immer noch war nichts zu erkennen. Eilige Schritte, zischelnde Worte; dann war alles wieder still. Nur langsam verzog sich der Rauch. Niemand schien verletzt zu sein. Lediglich einige Damen waren ohnmächtig geworden, doch sie wurden bereits mit Riechfläschchen von ihren Zofen versorgt. Hustend und keuchend saß der König, umringt von seinen Wachen, auf den Stufen zum Tor. Verängstigt sah er sich um. Das Mädchen mit der Flöte war verschwunden. Statt ihrer lag ein Zettel auf dem Pflaster: „Möge die weiße Krähe in den Himmel emporsteigen“. Verwirrt sah der König auf. Und was er nun sah, nahm ihm mehr den Atem, als es der Rauch getan hatte.
Ein Banner hing von dem hölzernen Umgang, der südlich in den Hof hineinragte. Mit roter Farbe war etwas darauf geschrieben: „Das Leittier eines Schwarms ist ein leichtes Ziel“.
 



 
Oben Unten