Schwarze Sonne

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Mimi

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Vom kleinen Balkon meiner Dachgeschosswohnung im vierten Stockwerk, kann ich das tägliche Treiben auf der Straße gut beobachten.
Meistens ist der Ausblick auf die Hauptstraße recht langweilig und monoton.
Heute ist es ein völlig anderer Ausblick.
Ich sehe eine wabernde Masse aus Körpern und geschwenkten Fahnen, sehe wie sie sich ausdehnt und umstrukturiert, bis sie den Asphalt der Straße vollkommen überdeckt.
Die vielen Stimmen und Rufe, die alle anderen Geräusche der Stadt übertönen, vermischen sich zu einem einzigen Chor.
Selbst die Sirenen der Polizeiautos, sind nur noch ein verschlucktes Hintergrundgeräusch.
Der Duft von Rosmarin und Lavendel aus meinen Balkonkästen umhüllt mich. Er wirkt wie ein unsichtbarer Puffer zur Außenwelt.
Ich sauge den Duft der Kräuter tief meine Lunge ein, halte mich dabei mit beiden Händen am Balkongeländer fest.
Ein Gesicht hebt sich aus der Menschenmenge hervor.
Nicht weil es viel anders aussieht als die anderen Gesichter. Nein, das ist es nicht.
Das Gesicht des Mannes schaut nach oben in meine Richtung und unsere Blicke treffen sich.
Er gehört nicht dort hin.
Ich weiß es. Und eigentlich weiß er es auch.
Er gehört nicht zu dieser grölenden Masse, ist kein Teil von ihr.

Gestern noch, saß er neben mir auf meinem Balkon.
Wir saßen auf Klappstühlen, dicht beieinander und tranken eiskaltes Bier, rauchten Shisha mit Zitrone-Minze Aroma, während wir die Wärme des Sommerabends genossen.
Er pflückte eine Lavendelblüte aus einem der Blumenkästen, steckte sie mir ungeschickt in die Haare, fuhr sich mit der rechten Hand über den kahlrasierten Schädel und lächelte mich an.
Was ist der Unterschied zwischen einer deutschen und einer kurdischen Frau?
Eigentlich hatte ich diesen Satz nur laut gedacht. Ich hatte keine Antwort von ihm erwartet, wollte vielleicht überhaupt keine Antwort auf diese unsinnige Frage, die in meinem Kopf manchmal hallte.
Für einen kurzen Moment schien er darüber nachzudenken, schaute dabei auf die Lavendelblüte in meinem Haar.
Eine Fotze ist eine Fotze. Da gibt's keinen Unterschied.
Er hatte dabei gelacht und mich an sich gezogen.
Ich legte meine Hände auf seine nackte Brust. Sie bildeten einen Kontrast zu seiner hellen Haut. Ich fuhr mit meinen Fingern über das Muster der zwölfarmigen schwarzen Sonne, die seine gesamte Brust bedeckte.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie seine Brust ohne dieses Symbol aussehen würde. Wäre sie dann reiner oder unbeschwerter?

Jetzt schaut er, zwischen dem Wirrwarr aus brüllenden Gesichtern, zu mir hoch, während ich auf meinem Balkon stehe und sehe wie ihn die Masse mit sich reißt.
Er ist kein Teil dieser Masse und doch verlieren sich unsere Blicke in ihr.
Er wird verschluckt von Körpern, Fahnen und Bannern, bis ich ihn darin nicht mehr erkennen kann.
Ich löse meinen Blick vom Treiben der Menge, schaue auf den kleinen Balkontisch, auf dem noch seine leere Bierflasche von gestern Abend steht.
Ich gehe in die Küche und stelle zwei Flaschen Bier in den Kühlschrank.
Irgendwann wird es sich aus der Masse befreien können, aber ich werde warten.
Vielleicht auf eine bessere Antwort.
 
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