Schwiegersohn & Schwiegervater

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Die Schwiegereltern meines Vaters lebten lange Jahre im Dachgeschoss unseres Hauses. Es gab für alle nur ein Badezimmer. Wenn mein Großvater es benutzen wollte und auf dem Weg dorthin meinem Vater begegnete, grüßten sie sich knapp und kühl. Mein Vater hörte sich muffig an, bei dem Alten klang es gemessen. Sie redeten sonst nie miteinander. Ihre Charaktere, ihre Lebensgeschichten hätten nicht unterschiedlicher sein können.

Mein Großvater war Zeitungssetzer gewesen, Gewerkschaftsmitglied und jahrzehntelang auch in der KP. Er hatte eine Frau geheiratet, die von sich sagte: Ich habe von Anfang an nur SPD gewählt. Sie verwaltete die Kasse und brachte mit eisernem Sparen ein kleines Vermögen zustande, das vor allem in Grundeigentum bestand. So stiegen beide aus der proletarischen Schicht ins gut situierte Kleinbürgertum auf. Ihre Vorfahren, Bergleute und Hüttenarbeiter, waren aus verschiedenen Teilen Deutschlands zugewandert. Man wusste fast nichts von den Ahnen.

Die väterliche Familie dagegen hatte im Mannesstamm vielleicht schon seit der Völkerwanderung in unserer Gegend gelebt. Es waren überwiegend Bauern gewesen, in neuerer Zeit auch ein Lehrer darunter sowie ein Berufssoldat. Um 1900 scheint der Höhepunkt des Wohlstands erreicht worden zu sein. Man raunte später noch von einem Gut und zwei Miethäusern. Das 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen, Annexionen und Inflationen wurde zu einer langen, mühseligen Geschichte.

Mein Vater mühte sich redlich, den früheren Status wieder zu erreichen. Es gelang ihm nur teilweise. Für einen kleinen Landwirt war die Zeit nicht günstig und er auch zu schmächtig für harte Arbeit. Wenn ich die Kretschmersche Typenlehre zugrunde lege, war er der Leptosome und der Schwiegervater der Athlet. Der Alte trug gewöhnlich bequeme, weite Arbeitshosen und um sie einen Gürtel, den er nur Leibriemen nannte. Oft stand unter dem Gürtel der oberste Hosenknopf offen. Mein Vater dagegen bevorzugte engere Beinkleider und benutzte stets Hosenträger, nie einen Riemen. Sie rasierten sich auch auf unterschiedliche Weise. Mein Großvater verwendete noch das althergebrachte Rasiermesser, wogegen mein Vater sich mit dem damals neumodischen Nassrasierer schabte. Mein Vater hat niemals geraucht, dagegen der Alte unendlich viele Pfeifen und Selbstgedrehte und wurde dabei noch ein gutes Stück älter als sein ungeliebter Schwiegersohn.

Für das Wirtschaften meines Vaters hatte mein Großvater nur Spott übrig. Und die Großmutter sagte zu mir: Lern was, du siehst, wie es deinem Vater geht.

Vater und Großvater hatten auch Gemeinsames. Beide neigten zur genauen und kritischen Beobachtung ihrer Mitmenschen und bei beiden waren unverkennbar Ironie und Spottsucht vorhanden. Doch gerade das brachte sie einander nicht näher. Vielleicht lagen der Wahl meiner Mutter gerade diese wenigen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern zugrunde. Sie liebte ihren Vater mehr als ihre Mutter und kam ihm doch nicht wirklich nahe. Ihre Eltern konnten sich mit der Missheirat, als die sie die Verbindung betrachteten, niemals anfreunden. So ging ein allezeit spürbarer Riss durch die Familie. Wenn ich zu den Wiesen hinter dem Haus hinaufging, sah ich diese beiden Herkünfte dreidimensional vor mir: im Süden die von dichten Wäldern umgebene Stadt mit dem Eisenwerk und den Gruben und im Norden die offene bäuerliche Kulturlandschaft alten Stils.

Meine Großeltern waren nur meinetwegen zu uns gezogen. Aber ich verließ das Haus so früh wie möglich. Danach verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Generationen noch weiter. Die Kleinfamilie zerfiel endgültig und meine Großeltern zogen kurz vor dem Tod des Alten ein letztes Mal um.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

das ist sehr schön geschrieben.
Früher war eben doch nicht alles besser.

Liebe Grüße
Manfred
 
Vielen Dank, Franke, für das Lob. Ja, zur Verklärung eignet sich ein Großteil von Vergangenem eher nicht.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Lieber Arno,

das ist ein gelungenes kurzes Stück Prosa, das einen Lebensabschnitt dreier Generationen am Beispiel des Vaters und seines Schwiegervaters beschreibt. Es ist schon interessant, wie sehr sich seitdem die Welt verändert hat, obwohl die beschriebene Zeit noch gar nicht so lange zurückliegt. Ich glaube, das gäbe es heutzutage nicht mehr: drei Generationen unter einem Dach, die sich zwar arrangieren, aber mit dem Arrangement alle nicht wirklich glücklich sind, bis der Jüngste so bald wie möglich auszieht.
Das ist ein schönes Stück Zeitgeschichte zum darüber Sinnieren.

LG SilberneDelfine
 
Vielen Dank, liebe Delfine, für die freundliche Aufnahme des Textes. Ich denke jetzt über folgende Bemerkung von dir nach:

Ich glaube, das gäbe es heutzutage nicht mehr: drei Generationen unter einem Dach
Ja, die Generationen sind seitdem gewiss räumlich stärker getrennt. Das ist jetzt der Normalfall in Deutschland. Dennoch mag es ein solches Zusammenwohnen hier und da immer noch geben. Groß genug sind ja viele der in jüngerer Zeit errichteten Eigenheime. Und in vielen anderen Ländern, Italien etwa, ist der Mehrgenerationenhaushalt weiterhin stark verbreitet, von Ostasien ganz zu schweigen.

Dass der Stoff autobiographisch ist, muss ich wohl nicht versichern. Nur zur Abrundung: Als die Großeltern, tief zerstritten mit meinen Eltern, noch einmal umzogen, stand er im Neunzigsten. Ich habe noch den Brief, in dem er mir das Chaos des Umzugs und seine Selbstmordgedanken beschrieb. Drei Monate später war er tot. Das Elend meiner Großmutter währte noch drei weitere Jahre und endete katastrophal. Ich werde vielleicht einmal meinen letzten Besuch bei ihr beschreiben.

Schönen Sonntagsgruß
Arno Abendschön
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Arno,

Ich erinnere mich noch gut an einen Text von Dir, in dem du eine Zugfahrt machst und in dein Elternhaus zurückkehrst. Hier nun wieder, ein Stück Familien-Geschichte, das mich fasziniert hat, wenn ich an meine Familie denke. Und wie Franke sagt: Sehr schön geschrieben.

Arno schrieb: Und in vielen anderen Ländern, Italien etwa, ist der Mehrgenerationenhaushalt weiterhin stark verbreitet, von Ostasien ganz zu schweigen.

Ja, in Italien ist die nonna immer noch die Beste und der nipotino, heilig. Und nicht selten: alle unter einem Dach.

LG, Ji
 
Danke auch an Ji Rina für die so positive Resonanz. Was die Familiengeschichte generell angeht, so scheint mir meine eigene einen Großteil der Disharmonien und Brüche des vorigen Jahrhunderts aufzuweisen. Hoffentlich kommen solche Abläufe heute nur noch ganz ausnahmsweise vor.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Dass der Stoff autobiographisch ist, muss ich wohl nicht versichern. Nur zur Abrundung: Als die Großeltern, tief zerstritten mit meinen Eltern, noch einmal umzogen, stand er im Neunzigsten. Ich habe noch den Brief, in dem er mir das Chaos des Umzugs und seine Selbstmordgedanken beschrieb. Drei Monate später war er tot. Das Elend meiner Großmutter währte noch drei weitere Jahre und endete katastrophal. Ich werde vielleicht einmal meinen letzten Besuch bei ihr beschreiben
Wenn man sich mit 90 Jahren entscheidet, noch einmal umzuziehen, muss man schon sehr gewichtige Gründe haben.... Mich würde dein letzter Besuch bei deiner Großmutter interessieren.

LG SilberneDelfine
 
Danke, Delfine, für das Interesse am weiteren Stoff. Die Ausarbeitung ist bisher nur angedacht. Mein letzter Besuch war zu Weihnachten. Damals wohnte ich fast 1000 km entfernt und kam nur einmal pro Jahr nach Hause. Sie war achtzig und erkannte mich anfangs weder am Aussehen noch an der Stimme. (Wir hatten sonst immer ein enges, herzliches Verhältnis gehabt.) Sie beklagte sich anhaltend und lautstark über meine Mutter und mich, da wir sie so enttäuscht hätten. Ein Gespräch scheiterte schon daran, dass ich den heimatlichen Dialekt nicht mehr beherrschte und sie, wohl auch schwerhörig, offenkundig kaum noch Hochdeutsch verstand. Am Schluß meinte sie, ich wäre besser nicht gekommen, wollte aber dennoch wissen, ob ich den Besuch während meines Aufenthaltes wiederholen würde. Ich war von der Situation so überfordert, dass mir herausrutschte: Nicht, wenn er dir so unangenehm ist. Dann ging ich (für immer, wie sich zeigte), während sie mehr wie ein wildes Tier als wie ein Mensch hinter mir herschrie. So etwas vergisst man nie. Im Jahr darauf dann die Diagnose Demenz, Pflegeheim, Nervenheilanstalt und fürchterlicher Todeskampf.

LG Arno Abendschön
 
Lieber Arno,

das klingt wirklich schlimm. Eine solche Situation vergisst man sicher nie, auch wenn man aufgrund der wohl zu dem Zeitpunkt schon vorhandenen Demenz davon ausgehen kann, dass sie wahrscheinlich gar nicht mehr wusste, was sie sagte oder wie sie schrie. Damit wäre wohl jeder überfordert gewesen. Es tut mir leid, dass dein letzter Besuch so erschütternd verlaufen ist.

Liebe Grüße
SilberneDelfine
 



 
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