See. Traum. - Sonett

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Walther

Mitglied
See. Traum.

Du hast ein Bild vom See in dir verborgen
Und kennst ihn nicht einmal mit seinem Namen.
Die Maste zählst du, willst mit Strichen rahmen,
Was du nicht siehst und nicht verstehst. Schon morgen

Schlägst du dich in die Büsche deines Alltags,
Reist aus dem Traum in eine Wahrheit, kalt
Ist sie und voller Winde. Du wirst alt
In ihnen. Widerstehen: Wer vermag's?

Noch windest du dir weiche Wellen um
Dein Knie, willst dich ins Uferbild verstecken!
Der Bogen deiner Brauen malt sich krumm,

Geschürzt sind dein Lippen, rund die Ecken,
Dass an ihnen nichts verkantet. Recken
DIe Farben sich? Bist du ihr Eigentum?
 
Zuletzt bearbeitet:

kakadu

Mitglied
Hallo Walther,

schönes Gedicht! Der Metrumwechsel in V13 hat was! Aber der Reim:

deines Alltags (weibliche Kadenz)
Wer vermag's? (männliche Kadenz)

klingt nicht, weil "tags" gegen "All" unbetont ist. Das mag ich nicht, schon gar nicht im Sonett.

LG Claudi
 

sufnus

Mitglied
Hi Walther (hi Claudi :) ),
der Reim "Alltags - vermag's" ist halt ein Augenreim - ein durchaus statthafter Reim in der großen, weiten Welt der Endreime, unter denen der "klassische" Endreim (Gleichklang ab dem Vokal der letzten betonten Silbe) nur einer von vielen Vertretern ist. Klangschön im engeren Sinn ist so ein Augenreim natürlich nicht - und soll er auch genau nicht sein. Und das ist natürlich auch der Grund, warum dieser Angehörige der Reimzunft, Dir gar nicht mal so zusagt, Claudi, die Du eben auf klanglich und rhythmisch wohlverarbeitete Fugenmaße stehst. :)
Mich stört dieser V-Effekt jetzt nicht und die rhythmische Verscherung, Claudi hat das ja schon angedeutet, in V13 ist offensichtlich eine Reverenz gegenüber dem verkanteten Inhalt.
Was mich bei dem Gedicht insgesamt aber nicht so abholt ist, dass mir durch das "Du" hier ein bisschen was übergeholfen wird, das mich irgendwie etwas blöd dastehen lässt.
Im Prinzip ist das "Du" hier wahrscheinlich eher eine Art "ich" oder auch ein "man". So eine Verkehrung von 2. und 1. oder 3. Person Singular gibt es auch in der mündlichen Rede ("das war dann so ein Moment, da weißt Du einfach - jetzt gilts" o. ä.)... ich mags da schon nicht so... wenn ich was von "Du" höre, fühl ich mich halt einfach angesprochen... der Verstand erklärt mir, dass es anders gemeint ist, aber das Gefühl stellt sich quer. ;)
LG!
S.
 

kakadu

Mitglied
der Reim "Alltags - vermag's" ist halt ein Augenreim - ein durchaus statthafter Reim in der großen, weiten Welt der Endreime, unter denen der "klassische" Endreim (Gleichklang ab dem Vokal der letzten betonten Silbe) nur einer von vielen Vertretern ist.
Hi Sufnus,

es gibt ja auch Gedichte fürs Auge, die sinnerfassend zu lesen sind. Da sind solche Augenreime für mich statthaft. In Gedichten, die fürs Ohr bestimmt sind, wie insbesondere ein Sonett, finde ich sie unpassend. Aber gut, als Stilmittel, um einen Bruch herbeizuführen, der auf eine Unstimmigkeit aufmerksam machen soll, finde ich den Augenreim natürlich geeignet. Danke für das gute Argument!

Walther, nichts für ungut! Im Kontext mit "Widerstehen" kann ich den Bruch akzeptieren. Du arbeitest ja auch öfter mit Hebungsprallen, daher glaube ich dir, wenn du sagst, dass es Absicht war. Trotzdem fand ich es nicht verkehrt, dies mal anzusprechen, denn in gefühlt 99% der Fälle nerven mich solche Reime. Auch glaube ich, dass sie nicht selten aus Unwissenheit verwendet werden.

LG Claudi
 

sufnus

Mitglied
Hi Ihr :) ,

ja - also ich denke, das ist halt wirklich eine Frage des Geschmacks (wobei ich finde, dass dieses Argument bei Lyrik zu häufig verwendet wird, im Sinne einer jede ästhetische oder inhaltliche Profilbildung zukleisternden Soße) - aber hier kann man (nicht: ich) schon sagen: hey, ich (nochmal: was hier nicht *mich* meint) finde diese bewusst eingesetzten, verstandwachrüttelnden V-Effekte ("schräge" Reime oder rhythmische Verscherungen) in vielen Sonetten von Walther total clever und im objektiven Korridor guter Technik verortet, aber auf der subjektiven Ebene ist das halt ein bisschen kantig. :)

Ich (jetzt mein ich mich) würds etwas wohlgefälliger aufnehmen und finde, dass diese kleinen Anti-Belcanto-Elemente eigentlich ganz cool sind.

Was mich (jetzt meine ich: mich) subjektiv hingegen dann und wann etwas außerhalb der Begeisterungszone lässt, ist eine für mein Dafürhalten manchmal etwas ins Unverspielte spielende Kopflastigkeit in Deinen Versen, lieber Walther.

Der Angang in Deiner Titel-Komposition (hoher Wiedererkennungswert - daher grundsätzlich gar nicht verkehrt) ist trotz des parenthetisch anerkannten Pluspunktes, für mich ein bisschen ein unsinnliches Sinnbild hierfür, denn es erinnert ja an eine bis heute virulente Mode der 0er-Jahre auf Menükarten von ambitionierten Restaurants, wo anstelle des etwas schlackenhaften "Bretonischer Hummer mit Safranbisque auf Austernrisotto " dann meinethalben "Hummer. Austern. Reis." steht. Häufig weisen solche kernzutatszentrierten Beschreibungen eines Gerichts auf eine gewisse Neigung zu (mehr oder weniger) verkopfter Dekonstruktion (auch so ein Warnwort) hin, die mit einem Mangel an Sinnlichkeit (bei Nahrung: einem Mangel an Leckerness) einhergeht (gehen kann).

LG!

S.
 

Walther

Mitglied
Hey ihr lieben!
danke für die geduld. war am schwäbischen meer urlauben.
sehr interessante debatte, die zum teil meiner fehlerhaften erstversion geschuldet ist, die ich einfach ins netz gepostet habe, anstatt sie vorher sauber zu ende zu bearbeiten. sollte man nicht tun. :) die bugs (danke @Scal, @kakadu und @sufnus für die offenen und versteckten hinweise) dürften jetzt weitgehend draußen sein.
nun zum stein des anstoßes. darf man einen nicht so ganz sauberen reim in einem sonett verwenden? nein, das darf man nicht. und wenn man es doch tut? bekommt man die hosen langgezogen.
darauf gibt es insgesamt drei antworten:
  1. ob ein sonett sich reimt oder nicht, ist nebensache. der schlagende beweis: https://gedichte.xbib.de/Gryphius,+Christian_gedicht_Ungereimtes+Sonnett.htm
    es gibt auch noch weitere beispiele (z.B. von Paul Fleming etc.pp.) Schlegel hat daher nicht recht.
  2. ein sonett ist nur eins, wenn es diese endreim-struktur aufweist: abba abba cdc dcd und 5hebige jamben hat sowie 14 verse. Schlegel und Co. KG vertreten das. Shakespeare war anderer meinung. wer kennt heute noch Schlegel?
  3. wenn reime, dann bitte mindestens weibliche kadenzen und wenn schon männliche, dann aber müssen bitte die reimpaare das gleiche geschlecht haben.
    ja, die position kann man einnehmen. habe ich lange strikt gemacht. mea culpa, wenn ich jemandem das unter die nase rieb. jetzt habe ich mich selbst ins knie geschossen.
nun macht dieser mensch das, also meiner einer, da oben genau das falsch. August Wilhelm dreht sich im grab herum. je länger ich argumentiere, desto schneller dreht er sich. wenn ich so weitermache, entsteht dort eine magnetfeldanomalie, und es steigt rauch auf.

nun haben wir mal im kunstunterricht gehabt, dass die form niemals den inhalt erschlagen soll. l'art pour l'art - so wie in den Platen-Sonetten -, nä, dat wolln wir so nich. und jetzt? jetzt habe ich den salat und stelze darin herum wie der bewusste storch.

jedenfalls danke ich @kakadu und @sufnus für die wirklich tiefgreifenden und auch -schürfenden gedanken. ich habe - wie immer, wenn fachleute etwas beitragen - einen haufen neue aspekte gelernt (und auch sonst wieder eine menge).

dem Bodensee sei lob, preis und dank. er war es, der dieses sonett angestiftet hat.

lg W.

der dichter dankt @Scal und @Chandrian für die sehr freundliche leseempfehlung!
 

mondnein

Mitglied
wer kennt heute noch Schlegel?
meinst Du den Altphilologen August, der das erste Indologische Universitäts-Institut Deutschlands in Bonn gegründet hat? oder seinen jüngeren Bruder Fritz, den Freund von Novalis? Wohl letzteren, denn der war litaraturhistorisch weit gefächert. Andererseits war August Wilhelm mit dem Dichter Tieck zusammen der klassische Shakespeare-Übersetzer.

Beide bzw. alle vier genannten waren mit den Philosophen Fichte, Schelling und Schleiermacher (dem klassischen Platon-Übersetzer) zusammen im Frühromantiker-Kreis. Ein überaus fruchtbares Grüppchen.

grusz, hansz
 

Walther

Mitglied
meinst Du den Altphilologen August, der das erste Indologische Universitäts-Institut Deutschlands in Bonn gegründet hat? oder seinen jüngeren Bruder Fritz, den Freund von Novalis? Wohl letzteren, denn der war litaraturhistorisch weit gefächert. Andererseits war August Wilhelm mit dem Dichter Tieck zusammen der klassische Shakespeare-Übersetzer.

Beide bzw. alle vier genannten waren mit den Philosophen Fichte, Schelling und Schleiermacher (dem klassischen Platon-Übersetzer) zusammen im Frühromantiker-Kreis. Ein überaus fruchtbares Grüppchen.

grusz, hansz
Lieber Hansz,
es dreht sich selbstredend um August-Wilhelm. wie ich oben bereits ausführte. :)
lg W.
 



 
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