Seelenvogel

Wortsonate

Mitglied
„Guten Tag, hier ist die Notaufnahme. Ihre Mutter ist bei uns eingeliefert wurden. Könnten Sie sofort kommen?“
So fing es an, dieser eine Anruf, der alles veränderte. Damals vor drei Jahren. Eine ernüchternde Diagnose: frontotemporale Demenz im fortgeschrittenen Stadium.
Ihre Mutter wälzte sich unruhig im Krankenhausbett hin und her. Offenbar wusste sie nicht wo sie sich befand. Auf die Familie wirkte sie völlig desorientiert und eine Reaktion auf anwesende Personen erfolgte nicht. Jenny war verstört über diesen Anblick, und bezweifelte eine Verbesserung des Gesundheitszustandes.
Die Ärzte erläuterten wenig, bereiteten die Angehörigen nicht darauf vor, wie gravierend die Veränderungen ihrer Mutter sein würden. Dazu gehörte eine schwerwiegende negative Persönlichkeitsentwicklung. Die Vorstellung darüber übertraf alles. Jenny und ihre Familie mussten während dieser Zeit schmerzlich erkennen das die sprachlichen Fertigkeiten rasch verlorengingen Jedoch sprengte das wechselnde Sozialverhalten die Belastbarkeit der Familie. Wie oft waren sie gezwungen zwischen dem Pflegepersonal und dem Krankenhaus zu schlichten. Die Beschwerden der Mitpatienten, die das ständige Rufen störte, das Nichtreagieren von ihr, forderte die Station heraus. Keiner war auf so eine Patientin vorbereitet.
Nach wie vor hofften die Angehörigen dass das alles eine vorübergehende Erkrankung war. Sie sprachen über die Möglichkeit ob eine Pflege zu Hause nicht besser wäre. Die Familie war fassungslos angesichts dessen, das für die Ärzte nur noch ein Pflegeheim in Betracht käme. Sie müssten doch verstehen, das ihre Mutter nicht mehr therapierbar ist und ihre Lebenszeigt auf wenige Monate begrenzt war.
In der Anfangsphase wünschte sich Jenny dass vielleicht Medikamente und Therapien eine Verbesserung bewirken. Die Wirklichkeit ernüchterte jedoch alle. ,“Was bringt das noch? „ wurden die Ablehnungen begründet.
Einen Hausarzt zu finden gestaltete sich schwierig, weil ihre Mutter pflegeintensiv war. Nach einigem Suchen erklärte sich eine Hausärztin bereit die Verordnungen zu verschrieben. Im Laufe der Behandlungen wurden winzige Fortschritte erreicht die Erleichterungen herbeiführten. Jenny fragte sich danach immer wieder, wäre es nicht besser gewesen sich die gegen Entscheidung der Ärzte zu wehren. Wie sehr musste sich ihre Mutter in die Zeit zurück versetzt gefühlt haben, in der als sie Vierjährige einen schweren Unfall hatte, der ihr ganzes weiteres Leben beeinflusste. In diesen Kriegszeiten war eine wirkliche medizinische Versorgung nicht möglich und keiner wusste damals wie die schwere Hirnverletzung behandelt werden sollte. Im Rückblick dachte Jenny durchlebte ihre Mutter diese traumatische Erfahrungen noch einmal.
Jenny fragte sich oft, ob nicht vorher irgendwelche Anzeichen darauf hindeuteten, das etwas nicht stimmte. Der Alltag schien so normal. Obwohl, gab es da nicht die aufkommende Aggression ihrer Mutter, das langsame Verwahrlosen. Freunde und Bekannte schoben dies auf das Alter, doch sie irrten sich gewaltig.
Die Phasen der Krankheit wechselten. Mal wirkte ihre Mutter völlig normal, mal reagierte sie überhaupt nicht.
In den ersten Monaten war ihrer Mutter bettlägerig und keiner glaubte so recht daran dass ein anderer Zustand möglich wäre. Durch Zufall erhielt Jenny eine Broschüre in der Gymnastik im Bett erklärte wurde. Jeden Tag übte sie mit ihrer Mutter wie man ein Bein hebt oder den Arm. Eines Nachmittags lag ihr Mutter freudestrahlend im Bett. Stolz streckte sie das rechte Bein unter Decke hervor. „Guck mal, geht doch“ drückte ihre Gesicht aus. War das nichts wert, dieser Augenblick der wieder Kraft gab. Alle wussten doch das diese Demenz rasch voranschritt. Aber bis dahin wollte die Familie trotzdem erreichen das ihre Mutter sich wohlfühlte auf ihre Weise. Einige Pfleger bemerkten wie die Pflege leichter wurde, weil sich ihre Mutter mehr bewegte. Infolgedessen wurden die Bettgitter hochgezogen um ein Herausfallen zu verhindern, weil ihre Mutter sich permanent von rechts nach links drehte. Eines Morgen setzen zwei Pflegerinnen ihre Mutter für zwei Stunden in den Rollstuhl setzten. Zunächst protestierte diese laut jedoch gefiel ihr es zunehmend darin. Anfangs hangelte sie sich an den Stangen im Flur entlang, dann wurde ihre Mutter sicherer und rollte mit den Füssen durch die Gänge. Jene kurzlebige Phase schöpfte ihre Mutter voll aus indem sie sich zum Waffelessen schieben ließ oder zum Singen oder an der Sitzgymnastik teilnahm.
Und am liebsten war sie draußen unterwegs. Die Familie arrangierten tägliche Spaziergänge, in denen ihre Mutter vollkommen entspannt war. Das Faible ihrer Mutter draußen unterwegs zu sein hatte viele Facetten. Manchmal schauten Vorbeigehende seltsam, andere wiederum machten bei ihren Späßen mit.
Jenny erinnerte sich an einen herrlich warmen Frühlingstag. Die Sonnenstrahlen wärmten die Haut und ihre Mutter wartete sehnsüchtig vor dem Aufzug im Pflegeheim. Da, die Aufzugstüre ging auf. Winkend begrüßte ihre Mutter Jenny. Unterdessen war sie ein wenig weiter weggerollt, weil ihre Unruhe ein ständiges Bewegen bewirkte. Zusammen in ihrem Zimmer zog Jenny geschwind ihr die schwarze Jacke an sowie ihre rote Wollmütze. Ohne diese ging ihre Mutter nicht hinaus.
Beide waren keine zwanzig Meter weit gekommen, da musste Jenny heftig abbremsen. Ihre Mutter saß mit ihren neunzig Kilo vornübergebeugt im Rollstuhl und versuchte den roten Ball aufzuheben, den sie erspäht hatte. Das war ihr neuester Zeitvertreib, die Straße aufzuräumen. Jenny nannte sie ein paar Monate Straßenkehrer, weil ihre Mutter alles aufheben wollte. Ob benutzte Taschentücher, oder Regenschirme, alles wollte ihre Mutter mitnehmen. Keiner konnte ihr mehr erklären das gewisse Gegenstände nicht zum Sammeln waren. Jedes Mal fing ihre Mutter dann aus Wut an zu schreien.
Der rote Ball jedoch war in Ordnung. Ein kleiner runder Ball mit Cars Auto als Motive. Vielleicht gehörte er einem Kind aus der Nachbarschaft. Oder vielleicht war er aus dem Kinderwagen gefallen? Egal, ihre Mutter hielt den Ball bis zur Rückkehr glücklich auf ihren Schoß. Zurück in ihrem Zimmer verstaute sie diesen in den Schrank zu den anderen gefundenen Sachen. Wo sie vergessen wurden.
Die Begegnungen mit den Hunden dagegen waren nicht einfach. Ihre Mutter wollte jeden Hund den sie sah streicheln und ein Leckerchen geben. Nicht jeder Besitzer erlaubte dies weil der Hund entweder auf Diät war oder keins haben durfte. Einen Narren allerdings fand ihre Mutter an dem Stationshund Dingo. Ihn verwöhnte sie über alle Maße. Jeder Bewohner hatte Angst vor dem schwarzen Hund. Nur ihre Mutter liebte ihn und das ging so weit das er in ihr Bett sprang. Das wiederum fanden die Pfleger nicht gut wegen der Hygiene.
Häufig setzte sich Jenny mit ihr auf die Wiese des Pflegeheims. Sie genoss die Sonne und schaute nach den Segelgleiter am Himmel zu.
„Schau, da ist ein Marienkäfer auf deiner Hand.“ Jenny zeigte auf ihre Hand. Ihre Mutter lugte kurz darauf doch ihr Blick ging wieder nach oben. Fasziniert beobachtete sie den Segelflieger über ihnen. Lautlos schwebte er über ihren Köpfen, und wechselte zu einer Schräglage um dann in Loopings überzugehen. Plötzlich tauchte ein zweiter auf der ebenfalls anfing Loopings zu ziehen. Ihre Mutter jauchzte vor Freude und sie konnte ihren Blick vom Himmel nicht lösen.
Besonders gerne erinnerte sich Jenny an das Stadtfest. Ihre Mutter schwärmte bis zum Schluss für Musik das besänftigte sie. An jenen Spätnachmittag spielte eine afrikanische Band. Begeistert feierte ihre Mutter im Rollstuhl mit. Fröhlich hopste sie darin herum und hatte ihren Spaß. Obwohl schon längst Abendbrotzeit im Pflegeheim war, ließ Jenny ihre Mutter gewähren. Den einen Moment wollte sie ihr nicht nehmen.
An einem anderen Tag fuhr ihre Mutter singend über den Flur. „Mein Vater war ein Wandersmann… mein Vater war ein Wandersmann…“ Und nochmal. Wie eine gesprungene Platte sang ihre Mutter immerzu. Einige Bewohner waren leicht genervt. „Ruhe. Halt die Schnauze„
Gut das sie kommen.“ Pflegerin Beatrice blickte Jenny böse an. „Seit zwei Stunden geht das so, pausenlos. „Rasch schob Jenny ihre Mutter ins Zimmer damit sich alle beruhigten.
Vor allem liebte ihre Mutter die Stunden mit dem Ergotherapeuten. Neben dem Massagegerät für die Hände das sie besänftigte, übte er mit ihr Schreiben. Ein paar Worte krakelte ihre Mutter vor sich hin wie ihren Namen. Sie hockte in ihrem im Rollstuhl und versuchte sich einen winzigen Augenblick zu konzentrieren. Abends zeigte sie zufrieden Jenny das Blatt und wollte weiterschreiben.
In der Zeit aß ihre Mutter viel und gerne. Jenny erinnerte sich an die Kaffeezeit im Heim. Die Bewohner schlurften zu ihren Plätzen. Beatrice verteilte für jeden das Stück Käsesahnetorte mit einem Klecks Sahne drauf.
„Mehr“, rief ihre Mutter. Ihre Mutter begehrte über alles Sahne. Das gefiel ihr am besten wenn das Kuchenstück in der Sahne ertrank. „Mehr“. Jetzt wurde sie ungeduldiger. „Mehr.“ Ihr Tonfall veränderte sich. Langsam steigerte sich ihre Mutter ins Schreien um das Gewünschte endlich zu bekommen. Jedoch blieb der erwünschte Effekt aus. Wutentbrannt warf sie die Gabel auf die Erde.
Manchmal schob die Betreuerin drei Bewohner in den Mini-Nutzgarten. Ihre Mutter liebte diesen Moment, weil irgendwo tief im Innern erinnerte sie sich wohl an ihren kleinen Garten. Jeder versuchte nach seinen Möglichkeiten ein paar Tomaten zu pflücken. Genauso gerne half ihre Mutter in der Küche des Wohnbereichs. Ordentlich räumte sie die Spülmaschine aus und trocknete das Geschirr ab. Die Pfleger staunten über den reibungslosen Ablauf. Anscheinend erkannte ihre Mutter darin etwas wieder.
Die guten Tage wechselten mit den schlechten. Keiner von den Angehörigen wusste vorher was ihn beim Besuch erwartete. Manchmal war ihre Mutter nicht gewillt irgendetwas zu unternehmen. Da wurde sie bockig wie eine Dreijährige. Die Familie lernte mit der Zeit viel Geduld aufzubringen. Manchmal saß ihre Mutter ein zwei Stunden einfach so da, ohne das irgendetwas passierte. Tragisch waren auch die Folgen. Ihre Mutter verlernte wie eine Wasserflasche geöffnet wurde. Ihr musste auf Dauer ein Schnabelbecher gereicht werden. Ob sie wirklich durstig war wusste keiner. Aber wehe ihre Mutter erhielt das Gewünschte nicht dann wurde sie ungehalten. Entweder fing ein dauerhaftes Schreien an oder sie weinte drauflos. Obwohl ihre Stimme nur noch ein undeutliches kindliches Brabbeln war, konnte ihre Mutter schreien, das es einem durch Mark und Bein ging. Die Seele schrie sie sich aus dem Leibe, als ob sich von den Qualen befreien wollte. Diese unglaubliche Kraft, die war ihr geblieben, um zeigen, dass sie etwas noch konnte
Dann gab es diese Tage wo ihre Mutter im Pflegebett lag, und meinte sie gehe jetzt zur Schule. Jenny spürte das sie weit weg. Sie spielte mit. Na, dann holen wir mal die Schultüte. Obwohl sie wegen des Unfalls nie zur Schule gegangen war offenbarte sich jetzt ein heimlicher Wunsch von ihr. Ihre Mutter schien das alles nicht wahrzunehmen, denn sie rief permanent das Gleiche und lächelte still vor sich
Die Phasen im Krankenhaus wurden länger. Langsam zersetzte sich der Körper, wurde schwächer und schwächer. Es war furchtbar mitanzusehen, wie der gesundheitliche Abbau voranschritt. Die Verschlechterung war nicht mehr zu übersehen. Gnadenlos schritten die Merkmale der Krankheit voran Mal war sie am Lachen, machte mit den Pflegepersonal Späße, mal schreite ihre Mutter die ganze Station zusammen.
Das vermehrte Schlafbedürfnis führte immer mehr zur Bettlägerigkeit. Auch nahm ihre Mutter immer weniger am Leben im Wohnbereich teil. Stück für Stück wurde sie schwächer. Unwiderruflich gingen die Fähigkeiten verloren. Einfach vergessen. Wie war das mit dem Trinken? Und warum soll ich Abendessen, wo ich doch gerade erst gefrühstückt habe. Immer mehr überforderten sie die einfachsten Dinge. Entglitten ihr, in eine Welt der Leere. Ihre Mutter wirkte zunehmend trauriger und unsicherer.

„Ich erforsche die Gesichter. Was will die Person von mir? Wie ging das noch? Ach, so vieles habe ich vergessen. Ich bin traurig, über das was ich Verloren habe. Wieder taucht das Gesicht auf. Ich kann es nicht zuordnen, war die schon mal hier? Ja, doch, das ist doch meine Freundin. Die zieht mich doch immer so nett an. Das war mir früher immer wichtig. Sauber und ordentlich, so habe ich es gelernt.“

Manchmal schien sie so unnahbar, der Blick teilnahmslos, suchend in die Welt starrend. Wo war dieser Mensch geblieben der sie einst war, ihren Humor, ihr Lachen, all das was ihre Mutter ausmachte. Ein Mensch der einen geboren, und großgezogen hatte wird wieder zum Kind. Jenny fühlte sich beklommen, wie sollte sie das aushalten, verstehen was da mit ihrer Mutter geschah. Die Plaques fraßen immer mehr vom Gehirn auf und zerstörten Stück für Stück alles. Die Finsternis wuchs in ihr, einzig die Liebe schien sie am Leben zu halten.
Jenny weinte heimlich um ihrer Mutter um nicht zu zeigen, wie erschüttert sie darüber war. Wie lange wird es noch dauern? Wann wird sie erlöst?
Sie war hin-und hergerissen. Auf der einen Seite wünschte sie ihrer Mutter die Erlösung, auf der anderen Seite trug sie die stille Hoffnung in sich, das es vielleicht besser wird.
Jennys Gedanken schwirrten von all den Grübeleien. In den schlaflosen Nächten versuchte sie auf die vielen Fragen eine Antwort zu finden. Wie fühlte sich dieser Mensch? Oder blockierten die starken Medikamente alle Empfindungen ab? Wieviel nahm sie wirklich wahr? Oder ahmte ihre Mutter einfach alles nach, in der Hoffnung das es das Richtige war. Die Familie fungierte mittlerweile als Sprachrohr ihrer Mutter und vertraute darauf das ihre Einschätzung passte.

Und dann kam Corona, keiner ahnte wie dramatisch die Verschlechterung sein würde. Das dreimonatige Besuchsverbot verschlimmerte die Demenz so rapide, das ihre Mutter nach sechs Monaten verstarb
Wenn Jenny auf diese drei Jahre zurückblickte, so wurden ihnen noch wunderbare Augenblicke geschenkt. Niemand glaubte in der Anfangsphase daran, das ihre Mutter ein gutes Jahr im Rollstuhl verbringen würde. Diese Stärke zeichnete sie ihre ganzes Leben aus. Ihre Lebensgeschichte war geprägt durch die Kriegsjahre. Ein Leben von schweren Schicksalsschlägen, von Neuanfängen und Glücksmomenten. Von Durchhaltevermögen und Widerstandskraft.

All dies wird in Erinnerung bleiben.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Wortsonate,

toll, dass du den Weg zur LeLu gefunden hast, aber bitte kloppe deinen Text über eine Rechtschreibprüfung, bevor du ihn veröffentlichst. Ich bin zwar kein Rechtschreib-Grammatik-Papst, konnte allerdings die Fehler im ersten Absatz nicht mehr zählen – wollte es nicht, habe dieses meinen Editor überlassen. Über 120 Fehler ist einfach zu viel.
Ich kann dir LanguageTool empfehlen, das ist für kurze Texte kostenfrei. ;)

Gruß
Ahorn
 



 
Oben Unten