Seewinter (1995)

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Tenebrula

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Seewinter

Lang, daß die letzte Graugans fortgezogen,
führt mich mein Weg durch frischgefallnen Schnee
noch einmal an den grauen Saum der See,
um Trost zu suchen bei den kalten Wogen.

Was kannst du, See, für Freude mir bereiten!
Es knacken Muscheln unter meinem Fuß
bei jedem Schritt, der Einsamkeit zum Gruß.
Der Nebel steigt und führt mich aus den Zeiten.

Die Fischerboote liegen festgefroren,
die Poller stehn wie ein entlaubter Wald.
Die rostzerfressne Mole lächelt kalt
und fragt mich: Kind, was hast du hier verloren?

Was ich verloren, treibt an manchen Tagen
auf diesen Wogen wie ein welkes Blatt.
Der Wind zerzaust die Vögel überm Watt
und ohne Laut stimm ich in ihre Klage.

Jedoch am Abend, wenn die Möwen schweigen,
färbt sich der Westen rot, es löst sich auf
der Wolken Schwere, und der Sterne Lauf
will im Zenit sich schemenhaft mir zeigen.



(Strophe 4, Vers 1+2 sind von Yeti. Mit großem Dank! )
 
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Yeti

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Hallo Tenebrula!

BILDGEWALTIG !!

Ich schließe die Augen und befinde mich in einem Gemälde von William Turner oder Caspar David Friedrich!
Das ist stark. Und wunderschön gedichtet. Deine Worte bilden eine Einheit und wogen wie die See.

Für mich gibt es nur eine Klippe die Du nicht so sauber umschifft hast: In S3, V4 taucht eine Frage auf,
die Du in S4, V1+V2 nur umstellst, anders formulierst. Anstatt sie so stehen zu lassen, oder zu beantworten,
läßt Du Dich auf sie ein. Das klingt nach Diskussion oder Selbstgespräch, passt meiner Meinung nach nicht in ein Bild
und unterbricht den Fluß. Ich finde das schade.

Ich habe mal versucht auf diese Frage aus S3, V4 zu antworten:

Die Fischerboote liegen festgefroren,
die Poller stehn wie ein entlaubter Wald.
Die rostzerfressne Mole lächelt kalt
und fragt mich: Kind, was hast du hier verloren?

Was ich verloren, treibt an manchen Tagen
auf diesen Wogen wie ein welkes Blatt.
Der Wind zerzaust die Vögel überm Watt
und ohne Laut stimm ich in ihre Klagen.

Ich weiß natürlich nicht ob ich Deine Intention halbwegs getroffen habe,
aber vielleicht ist ein Ansatz für Dich.

Liebe Grüße,
Yeti
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Yeti!

Dankeschön für deine Gedanken!
Ich freue mich immer so über die Resonanz, die durch Lyrik hervorgerufen wird: Stimmungen, Bilder, Klänge, so viel mehr wird übermittelt, trotz -- oder gerade wegen -- der engen Bindung an Metrum und Reimschema.

Deswegen stelle ich hier auch meine älteren Gedichte ein und hoffe, dies ist kein No-Go.
Das lyrische Ich ist 18. Deswegen gibt es diese trotzige
(treffend benannt!)
des Liebeskummers in S4, V1+2.

Aber jetzt gibt es ein Problem ;-)
Die Änderung, die du vorschlägst, hebt das ganze Gedicht auf eine andere Ebene. Nicht der (egozentrische) Verlust eines Partners, sondern eine universelle Traurigkeit und gleichzeitig Zuversicht, es hier wiederzufinden, treibt das lyrische Ich an. Du hast es da wirklich punktgenau abgeholt!

Das Gedicht sagt mir mit deinen Änderungen in der Mitte des Lebens viel mehr als das Original; es ist erwachsen geworden.

Für junge Leser aber ist der trotzige Aufschrei ein wahrhaftiger Zwischenruf in die graue Harmonie. Es ist ein Zeugnis der Jugend. Lässt man das besser so als Zeitzeugnis, oder verbessert man, verliert aber dadurch Information?

Je älter man wird, desto mehr Menschen verliert man nicht mehr an das Leben, sondern an Krankheit und Tod. Wird das dann wieder so ein Aufschrei:
Wen ich verloren habe, ist die Frage!
... Dann ist das Original wieder realistischer. Oder wird das alles zu einer stoischen Ruhe führen? Dann ist deine Version weiterführender.

Und zuletzt: Wenn ich deinen Verbesserungsvorschlag übernehme, ist das dann noch mein Gedicht? Co-Autorschaft find ich höchst spannend! Wie kann man hier Werke kennzeichnen, so dass ersichtlich ist, dass ein Schreiber*innen-Kollektiv am Werke war?
Dann würde ich deine Zeilen sehr gerne einflechten :)


Danke abermals für diese Reise durch die Zeit, die mich noch länger beschäftigen wird.
und liebe Grüße,
Tenebrula
 
Zuletzt bearbeitet:

anbas

Mitglied
Hallo Tenebrula,

wie Du an meiner Wertung schon gesehen hast, gefällt mir dieses Gedicht auch sehr gut.

Doch nun zu diesem Punkt:
Und zuletzt: Wenn ich deinen Verbesserungsvorschlag übernehme, ist das dann noch mein Gedicht? Co-Autorschaft find ich höchst spannend! Wie kann man hier Werke kennzeichnen, so dass ersichtlich ist, dass ein Schreiber*innen-Kollektiv am Werke war?
Die Leselupe ist ein Forum, in dem es vor allem um Textarbeit und somit auch die Weterentwicklung der eigenen "Schreibe" geht. Somit hat die Übernahme von Ideen und Anregungen nichts mit einer Co-Autorenschaft zu tun, sondern ist das Ergebnis von Textarbeit.

Und natürlich kann man auch ältere Werke einstellen. Von mir haben hier auch einige Texte aus längst vergangenen Tagen eine sehr gute Auffrischung erhalten.

Also, nur zu ;).

Liebe Grüße

Andreas
 

James Blond

Mitglied
Hallo Tenebrula!

Ich sehe es auch so wie Yeti: Ein etwas unschöner Bruch in S4 durch den inneren Monolog, der von der äußeren Betrachtung wegführt, die sich dann aber doch weiter fortsetzt und mit der Dämmerung ihren passenden Abschluss findet. Ich denke, man sollte sich ganz auf die Wirkung der Bilder konzentrieren und die Verlustempfindungen dem Leser überlassen. Der jugendliche Zorn kommt hier ohnehin nicht recht zum Ausdruck.

Noch'n vorsichtiger Vorschlag:

Die rostzerfressne Mole lächelt kalt
und fragt mich: Kind, was hast du hier verloren?

Doch weiß ich keine Antwort auf die Frage
und auch nicht, wer mich hier verloren hat!



Auch V1S2 ist ein wenig irritierend:

Was kannst du, See, für Freude mir bereiten!

Das klingt zunächst wie ein ungestümer Freudenausbruch, wird aber durch den weiteren Verlauf eher zu einer sarkastisch-ironischen Ansprache. Ich vermute, es sollen hier Erwartung und Hoffnung zum Ausdruck gebracht werden, allerdings klingt die Anrede "du, See," etwas (unfreiwillig) komisch, zumal es hier um "die See" und nicht um "den See" geht. Auch hier stört mich das Monologische, das (mit sich selbst) Gesprochene. Besser die Hybridisierung meiden: Die Bilder sollten für sich (und für dich sprechen).

Beides sind aber nur Randnotizen. Ein schönes Gedicht, das ich gern wiederholt gelesen habe!

Grüße
JB
 

Yeti

Mitglied
Hallo Tenebrula!
sondern eine universelle Traurigkeit
Diese 'universelle' Traurigkeit läßt dem Betrachter auch mehr Freiraum. Das sächliche Fragewort ermöglicht auch die Antwort
'Die Liebe meines Lebens' (und die Erinnerung daran) und schon ist auch: er war 'die...' und sie war 'die...' in diesem Bild vorhanden.
Präziser aber, und einfacher für den Leser, ist natürliche Deine Darstellung. Und vollkommen legitim natürlich sowieso.

Liebe Grüße,
Yeti
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Molly,

Hab vielen Dank für die Bewertung. Ja, ich finde auch, alte Gedichte sollen nicht in der Schublade dahindämmern. Wie schön, das es diesen Ort gibt, wo sie weiterleben können und sich auch noch entwickeln. Ich hoffe, dass auch noch wieder neue, würdige, nachwachsen.

Lieben Gruß,
Tenebrula
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo James Blond,

Mit deinem Einwand zu V1S2 hast du wirklich recht. Zumal, da ich nun den zweiten "versuchten jugendlichen Zornausbruch" eliminiert habe, steht diese (tatsächlich sarkastisch gemeinte) Wendung nun ganz alleine als Störton da. Ich werde mir was einfallen lassen. Vielleicht so:

Mein Weg verliert sich in des Strandes Weiten.
Es knacken Muscheln unter meinem Fuß
bei jedem Schritt, der Einsamkeit zum Gruß.
Der Nebel steigt und führt mich aus den Zeiten.

Herzlichen Dank dir!
und lieben Gruß,
Tenebrula
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Yeti,

ich musste einmal drüber schlafen und habe mich dann für deine "universelle Traurigkeit" entschieden.

ich glaube, das ist gut so. Rückblickend wäre das auch absolut im Sinne des lyrischen Ichs :)

Lieben Gruß,
Tenebrula
 



 
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