Sein Haben

He de Be

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"Was liest du da?" hatte sie ihren Mann gefragt, der ständig in irgendwelchen Büchern nach Antworten suchte auf Fragen, die er ihr gegenüber nicht einmal zu stellen gewagt hätte.

"Mmh", machte er nur, ungehalten darüber, bei der Lektüre gestört zu werden.

"Ja!" rief sie, "Frau sein oder Frau haben, das macht doch wirklich einen Unterschied!"

"Du wieder!" raunzte er und warf ihr einen Blick über den Rand seiner Lesebrille zu.
"Du kannst doch gar nichts ernst nehmen!" fügte er hinzu, "deshalb kann man dich auch nicht ernst nehmen! Und jetzt lass mich in Ruhe. Kannst ja deinen Rosalinde-Schmulcher-Schmarren lesen!"

Sie hatte verstanden. War selber schuld, dass er sich nicht ernsthaft mit ihr unterhalten wollte.
"Ich bin sowieso zu müde!" murmelte sie, "aber das verstehst du ja nicht. Kannst dich am Abend ja in der Kneipe ausruhen und morgens länger ausschlafen!"

"Du hast doch gar keine Ahnung, was es bedeutet, auch am Gemeindeleben teilzunehmen!" fuhr er sie an, "was denkst du, wie das aussieht, wenn ich nach der Sitzung sofort nachhause renne?! Und meinst du, dass ich das alles nur zum Spaß mache?! Das ist meine Pflicht!" rief er.

"Ist gut", sagte sie nur, und: "Gute Nacht!"

"Gute Nacht!" antwortete er, und versuchte weiter zu lesen. Es fiel ihm sowieso schon schwer genug. Er war der Erste, der sich fragte, was das nun ihn anginge, das Hin-und-her-Wenden von Gedanken, die sich wie Schneebälle zu immer größeren Klumpen ausgedehnt hatten, je mehr man sie im Schnee hin und her rollte. Sein. Haben. Haha. Wer war er schon? Und was hatte er? Und irgendwie ließ ihn die Bemerkung seiner Frau dann doch nicht mehr los: Ein Mann sein oder einen Mann haben, was war da wohl die bessere Variante? Schon wieder ein Gedanke, eine Frage! Er konnte sich nicht retten vor Gedanken, vor gar keinem. Er musste lesen, um sich vor weiteren Gedanken zu schützen, seinen eigenen vielleicht, Gedanken an sein Leben, sein Handeln oder auch nicht-gehandelt haben, damals zum Beispiel, und dann auch damals und wann überhaupt am meisten?! Schon überrollte ihn die Welle, und er ging in den Fluten unter. Das hatte sie eben wieder geschafft. Ihr aber würde so etwas nicht passieren. 'Sie wird nicht von Gedanken heimgesucht', dachte er, 'genauso wenig wie vom Heiligen Geist! Sie hat ja auch ihre Kinder von mir empfangen - ha!' tönte es dann auch schon wieder in ihm auf: 'Empfangen'. Wie schön man das alles doch umschreiben kann! Als hätte sie einen Brief in Empfang nehmen dürfen oder was?! - dann brach er den Gedanken ab, konnte jedoch nicht verhindern, zu denken, dass seine Mutter vielleicht aus diesem Grund so stolz darauf war, an „Mariä Empfängnis“ zur Welt gekommen zu sein und daher Maria getauft worden war wie die "Mutter Maria", die "Heilige Jungfrau", die allenfalls vom Heiligen Geist geschwängert worden war anstatt von einem Mann. Davon träumt das Huhn! dachte er dann auch noch. Dass es zuerst da war, und dann erst das Ei! Dass dieses sich auch das ohne Hahn zum Küken auswachsen könnte, wenn es denn sein müsse. Hat man ja gehört: Parthogenese. Verrückt, so was. Verrückt. Etliche hatten das schon vor Tausenden von Jahren beobachtet, bei den Truthühnern zum Beispiel, und dann auch auf die menschlichen Weibchen übertragen. Wieso sollten die nicht können, was Hühner und Haie längst vollbracht hatten? Dann fiel sein Blick wieder auf das Buch in seiner Hand. Tja, fromm sein oder Fromm haben, was?! Er hatte Fromm, seine Mutter war es, sein Vater noch mehr. Das Buch in seiner Hand aber konnte er jetzt nicht mehr ernst nehmen, kein Satz, bei dem er nicht sofort an völlig andere Dinge gedacht hätte.

"Gute Nacht", sagte er daher noch einmal und strich seiner Frau zärtlich über die kalte Schulter, die sie ihm zugewandt hatte. Dann schlief er ein.
 



 
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