Arno Abendschön
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Die Reisetasche war schon gepackt. Er – sein Name sei Falkenberg - stand am Hotelzimmerfenster und warf einen letzten Blick auf die breite Verkehrsachse da unten. Er war hier nur eine Nacht gewesen, bloß zu dem Notartermin heute angereist. Der Straßenverkehr ergoss sich Richtung Norderelbbrücke oder umgekehrt in die City herein. Die endlosen Kolonnen umspülten einen alten Wohnblock mit runder Ecke. Falkenberg wusste, es gab am entgegengesetzten Ende eine weitere konvexe Fassade. Existierte das Szenelokal dort noch? Es war bedeutungslos. Er verkehrte da seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr - und vorbei war auch die Zeit, in der er Gestalten und Episoden aus der Kneipe wiedererweckt hatte in einem langen Roman. Längst schon war dieses Epos im Internet zu lesen, auch gratis herunterzuladen. Das ging ihn, Falkenberg, nichts mehr an. Er griff nach der Tasche und verließ das Zimmer rasch.
Zur U-Bahn waren es nur wenige Schritte, der Hauptbahnhof war schon nach einer Station erreicht. Falkenberg deponierte die Tasche in einem Schließfach und strebte gleich wieder ins Freie. Auch dieser Bahnhof hatte eine Rolle gespielt im eigenen Leben wie im Roman. Es gab da nichts mehr zu durchdenken. Er wollte sich gerade heute nicht erinnern lassen an Situationen und Begegnungen, nicht ans Abreisen und Heimkommen, ans Abholen und Abgeholtwerden, nicht einmal an tausendmal gehetztes Umsteigen im Alltag damals. Er kehrte lieber zurück auf den Bahnsteig der U1. Es sah doch jetzt nicht wie Flucht aus? Er hatte sich längst gelöst und war endlich nach Berlin zurückgekehrt, heute wird hier nur ein Rest abgewickelt.
Es war ein dunkler, feucht-kühler Tag Ende November. Der Termin war erst um zwei Uhr nachmittags. Falkenberg wollte die Zeit einfach nur herumbringen. Er fuhr drei Stationen nach Osten und stieg an der Wartenau aus. Die Bäckerei hier war unverfänglich, es erinnerte ihn nichts an irgendetwas von Belang und er frühstückte dort nun wie in den alten Zeiten. Sein Plan war, den Rest des Vormittags per Bus durch die Stadt zu fahren, durch ältere Vorstädte, in denen sich sein privates Leben großenteils abgespielt hatte. Er würde dies und das noch einmal kurz erblicken und es würde sich ihm, indem der Bus weiterrollte, schmerzlos gleich wieder entziehen – Drehbühne des Lebens.
Er nahm den Fünfundzwanziger Richtung Norden. Allmählich verschwanden die Gründerzeitfassaden, er sah jetzt auch Rotklinkerhäuser, inzwischen schon bejahrte Nachkriegsbauten. Hatte nicht Hubert Fichtes Mutter in diesem Viertel gelebt? Falkenberg erinnerte sich an die Seiten, auf denen ein Besuch von Jäcki und Irma bei ihr beschrieben wird, bissig und dennoch auch liebevoll.
Der Bus hielt wieder, diesmal länger, viele stiegen aus oder ein. Rechts die weißen Türme der Mundsburg, links die alte Hochbahnstation. In dieser Gegend ist Falkenberg vor Jahrzehnten bei einem Besuch der Stadt einmal lange herumspaziert, nur um Zeit totzuschlagen. Vor der Rückfahrt nach Berlin muss Harro, damals der Fahrer, unbedingt noch den Nachmittag in der Uhlenhorst-Sauna verbringen. Falkenberg macht sich nichts aus Nacktheit, weder bei Frauen noch bei Männern, und stromert lieber stundenlang draußen herum. Es war Winter und kalt gewesen, erinnerte er sich jetzt. Der Trip mit Harro war festgehalten in einer Erzählung, die vor dem Saunabesuch aufhört. Soll er sich noch einmal über sie machen, die Geschichte fortsetzen? Es lag ihm fern. Dann kam ihm René in den Sinn, über den er gern mehr schreiben würde. René, für ihn eine selten positive Figur, war bisher zu knapp behandelt worden. Eine Abrechnung schreibt sich eben leichter als etwas Hymnisches. Falkenberg sah den lockenköpfigen René wieder vor sich, wie er einmal nachmittags vor ihm die Hochbahntreppe da drüben abwärtsgeht, nicht ahnend, wer ihm zufällig folgt. Dass René um diese Zeit ganz in Leder ist, spricht dafür, dass er eine Verabredung hat oder von einer kommt. Er geht auf eines der weißen Hochhäuser zu und Falkenberg bleibt an der Bushaltestelle zurück, auf dem Heimweg von der Arbeit.
Es war dieselbe Busroute wie damals, wenn auch mit neuer Liniennummer. Sie fuhren geradeaus über die große Kreuzung und bogen ein paar hundert Meter weiter links ab. Rechts wäre es in Saschas Wohnviertel gegangen. Sascha war so kurz nach seinem Umzug lieber in Berlin geblieben, Falkenberg würde demnächst wohl auch die leere Wohnung allein übergeben müssen. In ihm immer wieder das Bild von vor vier Wochen: Wie sie nach der Räumung bei strömendem Regen vom Haus weggehen, Richtung Bahnhof. Es ist schon dunkel und Falkenberg spürt das Einschneidende, den Bruch mit der Vergangenheit und dass ihm einer anvertraut ist.
Hin und wieder kam nun die Schauseite der Stadt ins Blickfeld. An den Kanälen, die zur Alster führten, reihten sich alte Villen auf, eingerahmt von Hausgärten. Neu in Hamburg hatte Falkenberg den Anblick sehr genossen - und die Wasserflächen später nur noch als Hindernis betrachtet. Durchquert man die Stadt von Ost nach West oder umgekehrt, muss man sich vorher entscheiden: Fährt man oben oder unten herum (nämlich um die Außenalster)?
Der Bus passierte die Mühlenkampbrücke und fuhr die lange Geschäftsstraße jenseitig ab. Wieder Gründerzeit- und Jugendstilfassaden, auch in den Seitenstraßen. Das Viertel war von Jahrzehnt zu Jahrzehnt populärer geworden. Man sieht den Häusern nicht auf den ersten Blick die mickrige Bausubstanz an, der Etepetete-Stil verdeckt sie eine Zeitlang. Falkenberg kannte das Innenleben, die maroden Bruchsteinwände. Zwischen ihnen hatte er in einem Eckhaus dieser Mainstreet seine ersten Hamburger Jahre verlebt und viel später zwischen ähnlichen in einer Seitenstraße seine letzte große Leidenschaft hinter sich gebracht. Er sah nur sekundenlang in die unverändert wirkende schmale Straße hinein. Ob Julian am Leben geblieben war? Es war eine Liebe wie von Swann und Stefan, damals in einer anderen Seitenstraße ansässig, nannte ihn, wenn sie über ihn sprachen, gern Odette. Von Stefans Tod hatte Falkenberg zufällig erfahren: Eine Buchneuerscheinung war in memoriam dem kurz vorher Verstorbenen gewidmet. Der Bus beschleunigte nach der Ampel, raste fast den Rest der Straße hinunter. Am Goldbekplatz hatten sie die unheilschwangeren Häuser schon hinter sich.
Dann kam ein langer Abschnitt, so gut wie frei von Erinnerungen. Der Bus rollte von Winterhude hinüber nach Eppendorf und hielt auch am Universitätskrankenhaus. Falkenberg stellte befriedigt fest, es nie in Anspruch genommen zu haben. Er hatte nicht einmal einen anderen dort besuchen müssen. Doch dann fiel ihm der junge Assistenzarzt ein: mit Ende zwanzig an Aids gestorben. Könnte man nur das Schicksal irgendwo verklagen - wenn so einer jung sterben muss … Falkenberg hatte ihn nicht näher gekannt, ihn nur in den Bars als ebenso freundlich wie hübsch wahrgenommen. Einmal, auf einer Informationsveranstaltung, wendet sich dieser UKE-Arzt aus dem Publikum an die Medizinstudenten auf dem Podium: „Ich will jetzt nur eins wissen: Ist Küssen auch riskant?“ Das kommt so knabenhaft heraus, dass viele unter den zweihundert Besuchern lachen. Die meisten kennen weder seinen Beruf noch den Hintergrund der Frage. Nimmt keiner unter der Treuherzigkeit das Gequälte wahr?
Weiter, immer weiter nach Südwesten. Linkerhand trat das Generalsviertel heran. Da hatte eine ältere Kollegin lange gewohnt und er sie auch einmal besucht. (Lauter gelebtes Leben, vorbei, nur noch im Plusquamperfekt eine Scheinexistenz führend?) Er erinnerte sich an ihren herrlichen Blumengarten. Sie war Anthroposophin gewesen, hatte manchmal für ihn Befremdliches geäußert und doch waren sie gut miteinander ausgekommen.
Sie näherten sich der Osterstraße. Falkenberg dachte an Hans Henny Jahnn, dessen Oberschule nahebei gewesen war. Linkerhand, am Kaiser-Friedrich-Ufer! Auf der anderen Seite stieg die Osterstraße leicht an zum Zentrum der Vorstadt – o du mein Eimsbüttel! Da hatte er selbst es vierzehn Jahre ausgehalten. Sie fuhren so schnell über die Kreuzung, dass er nicht viel wahrnehmen, kaum etwas sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Seltsam, fast alle Bezugspunkte für ihn hatten östlich der Alster gelegen (ausgenommen sein Arbeitsplatz). Da lagen die Bars, von da kamen Sascha und die anderen, Sascha stand einmal frühmorgens als Opfer eines Raubüberfalls vor seiner Tür … Und immer die Frage: Fährt man oben oder unten herum? Falkenberg löste wenigstens dieses Problem, indem er aufs Land zog und die letzten Jahre stattdessen hinein- und herausfuhr.
Hinter dem Bahnhof Holstenstraße erinnerte er sich jetzt an ein missliches Erlebnis. Eben hier hatte seinerzeit ein Fahrgast den Bus vollgekotzt, er war geräumt worden. Fährt man so wie er heute in einem großen Halbkreis von der Elbe nach Norden und nach der Alsterquerung zurück zum Strom, lernt man die unterschiedlichsten Milieus der Stadt flüchtig kennen. Es beginnt proletarisch, wird erst klein-, dann ein wenig großbürgerlich und sinkt wieder herab übers Spießige bis hin zum reinen Elend.
Geschafft nach einer knappen Stunde, Bahnhof Altona, Endstation. Falkenberg vertrat sich die Beine, sah hinüber nach Ottensen: früher proletarisch gewesen und Mottenburg genannt, heute ist da ambitioniertes Bildungskleinbürgertum anzutreffen. Da ist ihm mal Olaf Scholz über den Weg gelaufen, der Minister für Arbeit und Soziales. Und ganz in der Nähe hat es diesen reizvollen, noch sehr jungen Halbspanier gegeben – auch vorbei.
Der Notartermin kam näher. Falkenberg nahm den Hundertzwölfer, Richtung Innenstadt. Dann flogen vorbei Reeperbahn und Wallanlagen. Er stieg am Stephansplatz aus, ging langsam zum Gänsemarkt, war zu früh in der Kanzlei, plauderte mit den Käufern. Der Makler kam in letzter Minute. Der Akt verlief routiniert wie gewöhnlich, schnelles, monotones Herunterlesen des Vertrags, Unterschreiben in Schönschrift – das war’s. Der Makler erklärte sich spontan bereit, die Übergabe termingerecht für Falkenberg zu besorgen. Er brauche nicht noch einmal von Berlin herzukommen. Überrascht und dankbar nahm Falkenberg an.
Erst draußen war ihm damit klar, dass er gerade zum letzten Mal in dieser Freien und Hansestadt herumging, zumindest auf unabsehbar lange Zeit. Sein Zug fuhr erst in zweieinhalb Stunden. Was anfangen mit dieser allerletzten Frist? Im Verhältnis zu den hier verlebten Jahrzehnten war sie ein Nichts. Er war, stellte er. wiederum überrascht, fest, auf die Situation innerlich doch nicht vorbereitet. So nahm er erneut einen Bus und ging am Hauptbahnhof chinesisch essen. Danach wollte er ein letztes Mal die Mönckebergstraße hinuntergehen und sah nach fünfzig Metern das Vergebliche daran ein. Er kannte hier jede Hausfassade, jeden Ladeneingang, selbst die Unterschiede im Straßenbelag und der Wegpflasterung. Die Passantenströme schoben und mischten sich wie immer. Er nahm sich aus ihnen heraus - nein, hatte sich längst herausgenommen - und ging zum Hauptbahnhof zurück, holte die Reisetasche, fuhr mit der S-Bahn zum Dammtorbahnhof. Dort brachte er die letzte Stunde mit Warten auf den ICE zu, ohne jetzt viel zu denken. Er fühlte sich entrückt, beinahe entleert von allen Empfindungen. Bei der langsamen Zugfahrt über die Lombardsbrücke huschten die Augen kurz nach rechts und nach links: Binnen- und Außenalster, auch abgehakt. Der Kampf der im Hauptbahnhof Zugestiegenen um noch freie Sitzpätze ließ erst recht keine Wehmut aufkommen. Es war inzwischen Abend geworden. Der Zug erhöhte laufend sein Tempo. Rothenburgsort lag schon hinter ihnen, sie zischten gerade an Billwerder vorbei und in die offenen Vier- und Marschlande hinein. Falkenberg war sich jetzt sicher: Er musste diese Stadt nicht wiedersehen, er hatte sein Hamburg im Kopf, Erinnerung an Erinnerungen.
Zur U-Bahn waren es nur wenige Schritte, der Hauptbahnhof war schon nach einer Station erreicht. Falkenberg deponierte die Tasche in einem Schließfach und strebte gleich wieder ins Freie. Auch dieser Bahnhof hatte eine Rolle gespielt im eigenen Leben wie im Roman. Es gab da nichts mehr zu durchdenken. Er wollte sich gerade heute nicht erinnern lassen an Situationen und Begegnungen, nicht ans Abreisen und Heimkommen, ans Abholen und Abgeholtwerden, nicht einmal an tausendmal gehetztes Umsteigen im Alltag damals. Er kehrte lieber zurück auf den Bahnsteig der U1. Es sah doch jetzt nicht wie Flucht aus? Er hatte sich längst gelöst und war endlich nach Berlin zurückgekehrt, heute wird hier nur ein Rest abgewickelt.
Es war ein dunkler, feucht-kühler Tag Ende November. Der Termin war erst um zwei Uhr nachmittags. Falkenberg wollte die Zeit einfach nur herumbringen. Er fuhr drei Stationen nach Osten und stieg an der Wartenau aus. Die Bäckerei hier war unverfänglich, es erinnerte ihn nichts an irgendetwas von Belang und er frühstückte dort nun wie in den alten Zeiten. Sein Plan war, den Rest des Vormittags per Bus durch die Stadt zu fahren, durch ältere Vorstädte, in denen sich sein privates Leben großenteils abgespielt hatte. Er würde dies und das noch einmal kurz erblicken und es würde sich ihm, indem der Bus weiterrollte, schmerzlos gleich wieder entziehen – Drehbühne des Lebens.
Er nahm den Fünfundzwanziger Richtung Norden. Allmählich verschwanden die Gründerzeitfassaden, er sah jetzt auch Rotklinkerhäuser, inzwischen schon bejahrte Nachkriegsbauten. Hatte nicht Hubert Fichtes Mutter in diesem Viertel gelebt? Falkenberg erinnerte sich an die Seiten, auf denen ein Besuch von Jäcki und Irma bei ihr beschrieben wird, bissig und dennoch auch liebevoll.
Der Bus hielt wieder, diesmal länger, viele stiegen aus oder ein. Rechts die weißen Türme der Mundsburg, links die alte Hochbahnstation. In dieser Gegend ist Falkenberg vor Jahrzehnten bei einem Besuch der Stadt einmal lange herumspaziert, nur um Zeit totzuschlagen. Vor der Rückfahrt nach Berlin muss Harro, damals der Fahrer, unbedingt noch den Nachmittag in der Uhlenhorst-Sauna verbringen. Falkenberg macht sich nichts aus Nacktheit, weder bei Frauen noch bei Männern, und stromert lieber stundenlang draußen herum. Es war Winter und kalt gewesen, erinnerte er sich jetzt. Der Trip mit Harro war festgehalten in einer Erzählung, die vor dem Saunabesuch aufhört. Soll er sich noch einmal über sie machen, die Geschichte fortsetzen? Es lag ihm fern. Dann kam ihm René in den Sinn, über den er gern mehr schreiben würde. René, für ihn eine selten positive Figur, war bisher zu knapp behandelt worden. Eine Abrechnung schreibt sich eben leichter als etwas Hymnisches. Falkenberg sah den lockenköpfigen René wieder vor sich, wie er einmal nachmittags vor ihm die Hochbahntreppe da drüben abwärtsgeht, nicht ahnend, wer ihm zufällig folgt. Dass René um diese Zeit ganz in Leder ist, spricht dafür, dass er eine Verabredung hat oder von einer kommt. Er geht auf eines der weißen Hochhäuser zu und Falkenberg bleibt an der Bushaltestelle zurück, auf dem Heimweg von der Arbeit.
Es war dieselbe Busroute wie damals, wenn auch mit neuer Liniennummer. Sie fuhren geradeaus über die große Kreuzung und bogen ein paar hundert Meter weiter links ab. Rechts wäre es in Saschas Wohnviertel gegangen. Sascha war so kurz nach seinem Umzug lieber in Berlin geblieben, Falkenberg würde demnächst wohl auch die leere Wohnung allein übergeben müssen. In ihm immer wieder das Bild von vor vier Wochen: Wie sie nach der Räumung bei strömendem Regen vom Haus weggehen, Richtung Bahnhof. Es ist schon dunkel und Falkenberg spürt das Einschneidende, den Bruch mit der Vergangenheit und dass ihm einer anvertraut ist.
Hin und wieder kam nun die Schauseite der Stadt ins Blickfeld. An den Kanälen, die zur Alster führten, reihten sich alte Villen auf, eingerahmt von Hausgärten. Neu in Hamburg hatte Falkenberg den Anblick sehr genossen - und die Wasserflächen später nur noch als Hindernis betrachtet. Durchquert man die Stadt von Ost nach West oder umgekehrt, muss man sich vorher entscheiden: Fährt man oben oder unten herum (nämlich um die Außenalster)?
Der Bus passierte die Mühlenkampbrücke und fuhr die lange Geschäftsstraße jenseitig ab. Wieder Gründerzeit- und Jugendstilfassaden, auch in den Seitenstraßen. Das Viertel war von Jahrzehnt zu Jahrzehnt populärer geworden. Man sieht den Häusern nicht auf den ersten Blick die mickrige Bausubstanz an, der Etepetete-Stil verdeckt sie eine Zeitlang. Falkenberg kannte das Innenleben, die maroden Bruchsteinwände. Zwischen ihnen hatte er in einem Eckhaus dieser Mainstreet seine ersten Hamburger Jahre verlebt und viel später zwischen ähnlichen in einer Seitenstraße seine letzte große Leidenschaft hinter sich gebracht. Er sah nur sekundenlang in die unverändert wirkende schmale Straße hinein. Ob Julian am Leben geblieben war? Es war eine Liebe wie von Swann und Stefan, damals in einer anderen Seitenstraße ansässig, nannte ihn, wenn sie über ihn sprachen, gern Odette. Von Stefans Tod hatte Falkenberg zufällig erfahren: Eine Buchneuerscheinung war in memoriam dem kurz vorher Verstorbenen gewidmet. Der Bus beschleunigte nach der Ampel, raste fast den Rest der Straße hinunter. Am Goldbekplatz hatten sie die unheilschwangeren Häuser schon hinter sich.
Dann kam ein langer Abschnitt, so gut wie frei von Erinnerungen. Der Bus rollte von Winterhude hinüber nach Eppendorf und hielt auch am Universitätskrankenhaus. Falkenberg stellte befriedigt fest, es nie in Anspruch genommen zu haben. Er hatte nicht einmal einen anderen dort besuchen müssen. Doch dann fiel ihm der junge Assistenzarzt ein: mit Ende zwanzig an Aids gestorben. Könnte man nur das Schicksal irgendwo verklagen - wenn so einer jung sterben muss … Falkenberg hatte ihn nicht näher gekannt, ihn nur in den Bars als ebenso freundlich wie hübsch wahrgenommen. Einmal, auf einer Informationsveranstaltung, wendet sich dieser UKE-Arzt aus dem Publikum an die Medizinstudenten auf dem Podium: „Ich will jetzt nur eins wissen: Ist Küssen auch riskant?“ Das kommt so knabenhaft heraus, dass viele unter den zweihundert Besuchern lachen. Die meisten kennen weder seinen Beruf noch den Hintergrund der Frage. Nimmt keiner unter der Treuherzigkeit das Gequälte wahr?
Weiter, immer weiter nach Südwesten. Linkerhand trat das Generalsviertel heran. Da hatte eine ältere Kollegin lange gewohnt und er sie auch einmal besucht. (Lauter gelebtes Leben, vorbei, nur noch im Plusquamperfekt eine Scheinexistenz führend?) Er erinnerte sich an ihren herrlichen Blumengarten. Sie war Anthroposophin gewesen, hatte manchmal für ihn Befremdliches geäußert und doch waren sie gut miteinander ausgekommen.
Sie näherten sich der Osterstraße. Falkenberg dachte an Hans Henny Jahnn, dessen Oberschule nahebei gewesen war. Linkerhand, am Kaiser-Friedrich-Ufer! Auf der anderen Seite stieg die Osterstraße leicht an zum Zentrum der Vorstadt – o du mein Eimsbüttel! Da hatte er selbst es vierzehn Jahre ausgehalten. Sie fuhren so schnell über die Kreuzung, dass er nicht viel wahrnehmen, kaum etwas sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Seltsam, fast alle Bezugspunkte für ihn hatten östlich der Alster gelegen (ausgenommen sein Arbeitsplatz). Da lagen die Bars, von da kamen Sascha und die anderen, Sascha stand einmal frühmorgens als Opfer eines Raubüberfalls vor seiner Tür … Und immer die Frage: Fährt man oben oder unten herum? Falkenberg löste wenigstens dieses Problem, indem er aufs Land zog und die letzten Jahre stattdessen hinein- und herausfuhr.
Hinter dem Bahnhof Holstenstraße erinnerte er sich jetzt an ein missliches Erlebnis. Eben hier hatte seinerzeit ein Fahrgast den Bus vollgekotzt, er war geräumt worden. Fährt man so wie er heute in einem großen Halbkreis von der Elbe nach Norden und nach der Alsterquerung zurück zum Strom, lernt man die unterschiedlichsten Milieus der Stadt flüchtig kennen. Es beginnt proletarisch, wird erst klein-, dann ein wenig großbürgerlich und sinkt wieder herab übers Spießige bis hin zum reinen Elend.
Geschafft nach einer knappen Stunde, Bahnhof Altona, Endstation. Falkenberg vertrat sich die Beine, sah hinüber nach Ottensen: früher proletarisch gewesen und Mottenburg genannt, heute ist da ambitioniertes Bildungskleinbürgertum anzutreffen. Da ist ihm mal Olaf Scholz über den Weg gelaufen, der Minister für Arbeit und Soziales. Und ganz in der Nähe hat es diesen reizvollen, noch sehr jungen Halbspanier gegeben – auch vorbei.
Der Notartermin kam näher. Falkenberg nahm den Hundertzwölfer, Richtung Innenstadt. Dann flogen vorbei Reeperbahn und Wallanlagen. Er stieg am Stephansplatz aus, ging langsam zum Gänsemarkt, war zu früh in der Kanzlei, plauderte mit den Käufern. Der Makler kam in letzter Minute. Der Akt verlief routiniert wie gewöhnlich, schnelles, monotones Herunterlesen des Vertrags, Unterschreiben in Schönschrift – das war’s. Der Makler erklärte sich spontan bereit, die Übergabe termingerecht für Falkenberg zu besorgen. Er brauche nicht noch einmal von Berlin herzukommen. Überrascht und dankbar nahm Falkenberg an.
Erst draußen war ihm damit klar, dass er gerade zum letzten Mal in dieser Freien und Hansestadt herumging, zumindest auf unabsehbar lange Zeit. Sein Zug fuhr erst in zweieinhalb Stunden. Was anfangen mit dieser allerletzten Frist? Im Verhältnis zu den hier verlebten Jahrzehnten war sie ein Nichts. Er war, stellte er. wiederum überrascht, fest, auf die Situation innerlich doch nicht vorbereitet. So nahm er erneut einen Bus und ging am Hauptbahnhof chinesisch essen. Danach wollte er ein letztes Mal die Mönckebergstraße hinuntergehen und sah nach fünfzig Metern das Vergebliche daran ein. Er kannte hier jede Hausfassade, jeden Ladeneingang, selbst die Unterschiede im Straßenbelag und der Wegpflasterung. Die Passantenströme schoben und mischten sich wie immer. Er nahm sich aus ihnen heraus - nein, hatte sich längst herausgenommen - und ging zum Hauptbahnhof zurück, holte die Reisetasche, fuhr mit der S-Bahn zum Dammtorbahnhof. Dort brachte er die letzte Stunde mit Warten auf den ICE zu, ohne jetzt viel zu denken. Er fühlte sich entrückt, beinahe entleert von allen Empfindungen. Bei der langsamen Zugfahrt über die Lombardsbrücke huschten die Augen kurz nach rechts und nach links: Binnen- und Außenalster, auch abgehakt. Der Kampf der im Hauptbahnhof Zugestiegenen um noch freie Sitzpätze ließ erst recht keine Wehmut aufkommen. Es war inzwischen Abend geworden. Der Zug erhöhte laufend sein Tempo. Rothenburgsort lag schon hinter ihnen, sie zischten gerade an Billwerder vorbei und in die offenen Vier- und Marschlande hinein. Falkenberg war sich jetzt sicher: Er musste diese Stadt nicht wiedersehen, er hatte sein Hamburg im Kopf, Erinnerung an Erinnerungen.