Sein und Vergehen

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poetix

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Sein und Vergehen


Was soll nur werden, was, aus unserm Sein?
Das Sein vergeht, das sich ins Meer ergießt,
wo schließlich alles Menschliche zerfließt.

Denn dies verteilt sich mehr mit jeder Welle,
zu Wasser wunderwandelt sich der Wein.
Beschritten ist der Weg vom Ich zum Wir,
das will man nicht und klammert sich ans Hier.

Mein enger Geist! - Es ist so schwer zu fassen:
Am Ende kehren wir zurück zur Quelle,
doch müssen wir erst alles gehen lassen.
 
Hallo poetix,

mit großer Freude versuche ich deine Reime zu entschlüsseln.

Was soll nur werden, was, aus unserm Sein?
Das Sein vergeht, das sich ins Meer ergießt,
wo schließlich alles Menschliche zerfließt.
Was soll daraus werden?
Ich lese aus deinen Zeilen das Unvergängliche des Seins. Damit bewegst du dich in guter Nachbarschaft: sowohl das individuelle Selbst (atman) als auch der `ewige Urgrund` (brahman) sind in der hinduistischen Philosophie, nach meinem Verständnis, eins.
Oder, wie Freidrich Rückert es ausdrückt, `… so fühle auch in deinem leine Ich des großen Iches Hauch` (Die Weisheit der Brahmanen).
Auch Platos Weltseele, so wie ich seine Auffassung verstehe, sieht wohl eine Analogie zwischen dem Kosmos und dem Individuum.

Also, das Zerfließen ist möglicherweise gar nicht so tragisch - eben eine Rückkehr. Und diese Rückkehr drückst du folgendermaßen aus:
Denn dies verteilt sich mehr mit jeder Welle,
zu Wasser wunderwandelt sich der Wein.
Beschritten ist der Weg vom Ich zum Wir,
das will man nicht und klammert sich ans Hier.
Bei diesen Zeilen denke ich an die Vorstellung vom Milchozean der hinduistischen Schöpfungsmythos. Das `Quirlen des Milchozeans` bringt den Unsterblichkeitstrank hervor. Es geht also immer weiter. :)
Der Weg vom Ich zum Wir ist eine interessante Version von dir; vom Ich zum Wir oder vom Ich zum Es?

Mein enger Geist! - Es ist so schwer zu fassen:
Am Ende kehren wir zurück zur Quelle,
doch müssen wir erst alles gehen lassen.
Ein schöner Reim in einer langen Dichtertradition: „Eins muss er wieder lernen, fallen, geduldig in der Schwere ruh`n …“.

Also, du hast ein feines Werk voller Anregungen verfasst. Herzlichen Glückwunsch!
Liebe Grüße. Rhondaly.
 

Ralf Langer

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ein streitbarer text, den inhalt betreffend:
ich glaube nicht, das wir zur quelle zurückkehren.

leben ist strömen,
ein weißer, ein blauer nil
die quellen versunken
vom ersten tag an
ist nur vergessen:
leben ist strömen
zum ende, zum ziel.

gerne mitgedacht

ralf
 

poetix

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Hallo Rhondaly,
vielen Dank für deinen Kommentar. Du hast dich ja wirklich mit der Sache beschäftigt. Der Bezug zum Hinduismus ist da, wenn auch indirekt. Das Atman-Brahman-Motiv ist nämlich schon älter. Es taucht schon im altindischen Advaita-Vedanta-System auf. Und: Ja, dieses Motiv hat mich beeinflusst. Das Meer ist bei mir ein Bild, teilweise für das Brahman, teils werden hier auch christliche Motive wie die wundersame Wandlung von Wasser zu Wein (hier umgekehrt) aufgerufen.
Viele Grüße
poetix
 

poetix

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Hallo Ralf,
vielen Dank für Kommentar und Gedicht, das in mir Erinnerungen an Heraklits "panta rhei" hervorruft. Ein Strom kann auch ein Kreis sein, ein Stromkreis. Für mich ist das kein Widerspruch, da der beschriebene Zustand des Seins aus der Zeit herausgenommen ist. Zwischen Anfang und Ende kann man nicht mehr unterscheiden. Aber ich beschreibe hier nur Visionen (nicht dass ich die wirklich hätte, aber so kann man sie sich ausmalen). Jeder kann da seine eigenen Bilder haben.
Viele Grüße
Christoph
 

Carol-Eliza

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Hallo poetix,
die große Frage, woher kommen wir, wohin gehen wir- das können wir nur mit Ablenkung im Hier ertragen. Und tröstlich für mich als Atheistin die Vorstellung im Meer aufzugehen. Ein schönes, philospohisches Gedicht.
Lieben Gruß
Carol- Eliza
 

poetix

Mitglied
Hallo Carol-Eliza,
vielen Dank für den Kommentar. Ich hatte gehofft, dass das Gedicht die Vostellungskraft anregt. Das wünscht man sich bei philosophischen Bildern, dass sie einen auch emotional ansprechen. Freut mich, wenn das geklappt hat.
Viele Grüße
poetix
 

Perry

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Hallo Christoph,

die große Frage des Seins und Werdens lasse ich mal beiseite und greife mir lieber die Schlussfrage heraus:

"doch müssen wir erst alles gehen lassen."

"Müssen" tun wir schon, schließlich wartet am irdischen Ende der Tod. Ich denke, wenn wir das "alles" auf einiges reduzieren, dann können wir vielleicht im Kleinen etwas bewirken, um die Welt "besser" zu machen.

Im Klartext, mir ist der Text etwas zu "groß und allgemein" angelegt, um wirklich berühren zu können.

LG
Manfred
 

poetix

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Hallo Manfred,
vielen Dank für deinen Kommentar. Natürlich müssen wir spätestens im Tod sowieso alles gehen lassen. Die Weisheit liegt darin, schon vorher damit anzufangen. Hier klingt ein wenig der Buddhismus an: die Scheinwelt als solche zu erkennen und sie hinter sich zu lassen. Und: Auch die großen Gedanken müssen gedacht werden, da ist jeder für sich selbst gefordert.
Viele Grüße
Christoph
 



 
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