Seine eigene Grabrede

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Der Tod, dachte Manfred, ist heute angeblich ein Tabu - und doch ist er in vielen Wohnzimmern zu Hause, er ist ein Hauptmittel der Unterhaltung geworden. Wie vieles im heutigen Leben ist er stark ästhetisiert, ist schon etwas künstlich geworden. Er ist den Existenz- und Produktionsbedingungen der Zeit unterworfen - unbefriedigend. Vielleicht müsste man den Tod wahrhaft tabuisieren, spekulierte er, das heißt dem Leben entrücken, ihn nicht humanisieren und zivilisieren wollen?

Manfred war in der U-Bahn sitzen geblieben, dabei den Brief von Max lesend und nachdenkend. Schon rollte der Zug über den Viadukt, die Türme der Mundsburg glitten vorbei, banal wie ein Tod, der es sich im Leben gemütlich eingerichtet hat. Eine Station weiter stieg er aus und ging auf die Brücke hinauf, über die die Fußgänger zum Einkaufszentrum gelangen. Unter ihm spieen die Vorstädte ihren Verkehr Richtung Innenstadt. Er blieb auf der Brücke stehen. Am liebsten hätte er den letzten Teil des Briefes hier laut vorgelesen. Da hat er doch den Beweis, wie der Tod missbraucht wird. Sie benutzen ihn, um Macht, Ansehen, Einfluss zu behalten, über den Tod hinaus. So versauen sie alles.

Max verfolgte also ein neues Projekt, die Gestaltung seiner eigenen Leichenfeier. Nur das Datum blieb noch offen.

Max schrieb, er wolle vorsorgen. Er habe, besonders in letzter Zeit, an zu vielen Leichenfeiern teilgenommen, die ihn geradezu erbittert hätten. Es seien immer die Leichenreden: Pfarrermund tut niemals Wahrheit kund. Und wenn einer nicht in der Kirche war, engagiert die Familie einen freikirchlichen oder Sektenprediger oder sonst einen obskuren Berufsredner. Die einen wie die anderen verfälschen gewöhnlich die Persönlichkeit, die sie würdigen sollen. Sie sind entweder auf die eigene Heilsbotschaft fixiert, für deren Propaganda der Todesfall nur ein Anlass ist, oder sie erkundigen sich bei der Familie nach Details aus dem Leben des Verstorbenen, die sie dann nicht einordnen können. Um eine Lücke zu schließen, begehen diese Verlegenheitsgrabredner die gröbsten Schnitzer. Da ruft ein Erweckter einem toten Atheisten nach: Lazarus, stehe auf! Oder ein stadtbekannter Hurenbock scheint außer der Philatelie, der er als Achtjähriger gefrönt hat und die jetzt über Gebühr ausgeschlachtet wird, keine Leidenschaft gehabt zu haben.

Ach, Max, das ist nun einmal so: Zur Beerdigung gehören Blumen, Missverständnisse, gemischte Gefühle. Sie sind Teile der einsetzenden Verwesung. Es kümmerte Manfred nicht, es war ihm ebenso gleichgültig wie Form des Grabsteins, den sie ihm setzen würden. Nur verbrennen sollten sie seine Leiche später nicht.

Max wünschte ausdrücklich Einäscherung. Er bedauerte, aus den bekannten Gründen keine Organe zur Verfügung stellen zu können, und überlegte noch, wie er als Toter der Wissenschaft dienen könne. Vor allem sorgte er sich um seinen Ruf späterhin, den er sich nur als Nachruhm vorstellen konnte. Max wollte das Echo und fürchtete es zugleich. Insoweit misstraute er seinen Freunden. Von ihnen sollte keiner Rederecht bekommen. Der Freund schweige in der Trauergemeinde.

Es gab nur eine Lösung: Man musste für sich selbst sprechen. Er feilte seit Wochen an seiner eigenen Leichenrede. Er würde demnächst eine Kassette besprechen und sie an einem sicheren Ort verwahren und eine Kopie an einem anderen Ort hinterlegen. Es war eine posthume Römerbergrede, mit der er für ein modernes Walhall kandidierte. Er sah sich auf einem günstigen Listenplatz.

Er charakterisierte sich so, wie Manfred ihn ungefähr auch sah: schwach, verletzlich, ehrgeizig, zäh, dankbar. Doch diese Züge erschienen für ihn in einer besonderen Beleuchtung, die er der Wirkung jener Eigenschaften auf Mitwelt und Nachwelt zuschreiben wollte. Es war nicht paradox. Die Wirkung strahlte nach seiner Meinung auf ihn zurück und umgab seinen Namen und seine Eigenschaften mit Licht. Sie rechtfertigte erst seine Eigenart und um sie wollte er durch falsche Töne bei der Leichenfeier nicht gebracht werden. War es denn nicht so gewesen: Wundervolle Freundschaften kennengelernt, das Aufwachsen von Nichte und Neffen fördernd begleitet, die Modernisierung der Gesellschaft ein Stück weit vorangebracht! Die Mitwelt geriet zu einem Spiegel, der Tod durfte ihm diesen Spiegel nicht aus der Hand nehmen. Sein unbewusstes Credo war: Ich bin, das heißt ich lebe, da ich widergepiegelt werde, und er war auch bereit, die Tönung dieses Spiegels mit allen Mitteln günstig zu beeinflussen. Selbst der Tod wurde zu einem solchen Mittel, da er in der Rede in den Ideenzusammenhang von Kampf, Heroismus und Opferung hineingezogen wurde. Das war weder originell noch wahrhaftig.

Manfred empfand sich selbst als Spiegel, der immer nur das andere reflektierte. Er war nur Spiegel. Der Tod würde ihn vielleicht erblinden lassen. Es änderte kein Jota an der Welt. Er ging nun weiter, in das Einkaufszentrum hinein.
 
Der Tod, dachte Manfred, ist heute angeblich ein Tabu - und doch ist er in vielen Wohnzimmern zu Hause, er ist ein Hauptmittel der Unterhaltung geworden. Wie vieles im heutigen Leben ist er stark ästhetisiert, ist schon etwas künstlich geworden. Er ist den Existenz- und Produktionsbedingungen der Zeit unterworfen - unbefriedigend. Vielleicht müsste man den Tod wahrhaft tabuisieren, spekulierte er, das heißt dem Leben entrücken, ihn nicht humanisieren und zivilisieren wollen?

Manfred war in der U-Bahn sitzen geblieben, dabei den Brief von Max lesend und nachdenkend. Schon rollte der Zug über den Viadukt, die Türme der Mundsburg glitten vorbei, banal wie ein Tod, der es sich im Leben gemütlich eingerichtet hat. Eine Station weiter stieg er aus und ging auf die Brücke hinauf, über die die Fußgänger zum Einkaufszentrum gelangen. Unter ihm spieen die Vorstädte ihren Verkehr Richtung Innenstadt. Er blieb auf der Brücke stehen. Am liebsten hätte er den letzten Teil des Briefes hier laut vorgelesen. Da hat er doch den Beweis, wie der Tod missbraucht wird. Sie benutzen ihn, um Macht, Ansehen, Einfluss zu behalten, über den Tod hinaus. So versauen sie alles.

Max verfolgte also ein neues Projekt, die Gestaltung seiner eigenen Leichenfeier. Nur das Datum blieb noch offen.

Max schrieb, er wolle vorsorgen. Er habe, besonders in letzter Zeit, an zu vielen Leichenfeiern teilgenommen, die ihn geradezu erbittert hätten. Es seien immer die Leichenreden: Pfarrermund tut niemals Wahrheit kund. Und wenn einer nicht in der Kirche war, engagiert die Familie einen freikirchlichen oder Sektenprediger oder sonst einen obskuren Berufsredner. Die einen wie die anderen verfälschen gewöhnlich die Persönlichkeit, die sie würdigen sollen. Sie sind entweder auf die eigene Heilsbotschaft fixiert, für deren Propaganda der Todesfall nur ein Anlass ist, oder sie erkundigen sich bei der Familie nach Details aus dem Leben des Verstorbenen, die sie dann nicht einordnen können. Um eine Lücke zu schließen, begehen diese Verlegenheitsgrabredner die gröbsten Schnitzer. Da ruft ein Erweckter einem toten Atheisten nach: Lazarus, stehe auf! Oder ein stadtbekannter Hurenbock scheint außer der Philatelie, der er als Achtjähriger gefrönt hat und die jetzt über Gebühr ausgeschlachtet wird, keine Leidenschaft gehabt zu haben.

Ach, Max, das ist nun einmal so: Zur Beerdigung gehören Blumen, Missverständnisse, gemischte Gefühle. Sie sind Teile der einsetzenden Verwesung. Es kümmerte Manfred nicht, es war ihm ebenso gleichgültig wie Form des Grabsteins, den sie ihm setzen würden. Nur verbrennen sollten sie seine Leiche später nicht.

Max wünschte ausdrücklich Einäscherung. Er bedauerte, aus den bekannten Gründen keine Organe zur Verfügung stellen zu können, und überlegte noch, wie er als Toter der Wissenschaft dienen könne. Vor allem sorgte er sich um seinen Ruf späterhin, den er sich nur als Nachruhm vorstellen konnte. Max wollte das Echo und fürchtete es zugleich. Insoweit misstraute er seinen Freunden. Von ihnen sollte keiner Rederecht bekommen. Der Freund schweige in der Trauergemeinde.

Es gab nur eine Lösung: Man musste für sich selbst sprechen. Er feilte seit Wochen an seiner eigenen Leichenrede. Er würde demnächst eine Kassette besprechen und sie an einem sicheren Ort verwahren und eine Kopie an einem anderen Ort hinterlegen. Es war eine posthume Römerbergrede, mit der er für ein modernes Walhall kandidierte. Er sah sich auf einem günstigen Listenplatz.

Er charakterisierte sich so, wie Manfred ihn ungefähr auch sah: schwach, verletzlich, ehrgeizig, zäh, dankbar. Doch diese Züge erschienen für ihn in einer besonderen Beleuchtung, die er der Wirkung jener Eigenschaften auf Mitwelt und Nachwelt zuschreiben wollte. Es war nicht paradox. Die Wirkung strahlte nach seiner Meinung auf ihn zurück und umgab seinen Namen und seine Eigenschaften mit Licht. Sie rechtfertigte erst seine Eigenart und um sie wollte er durch falsche Töne bei der Leichenfeier nicht gebracht werden. War es denn nicht so gewesen: Wundervolle Freundschaften kennengelernt, das Aufwachsen von Nichte und Neffen fördernd begleitet, die Modernisierung der Gesellschaft ein Stück weit vorangebracht! Die Mitwelt geriet zu einem Spiegel, der Tod durfte ihm diesen Spiegel nicht aus der Hand nehmen. Sein unbewusstes Credo war: Ich bin, das heißt ich lebe, da ich widergepiegelt werde, und er war auch bereit, die Tönung dieses Spiegels mit allen Mitteln günstig zu beeinflussen. Selbst der Tod wurde zu einem solchen Mittel, da er in der Rede in den Ideenzusammenhang von Kampf, Heroismus und Opferung hineingezogen wurde. Das war weder originell noch wahrhaftig.

Manfred empfand sich selbst als Spiegel, der immer nur das andere reflektierte. Er war nur Spiegel. Der Tod würde ihn vielleicht erblinden lassen. Es änderte kein Jota an der Welt. Er ging nun weiter, in das Einkaufszentrum hinein.

(Auszug aus dem Roman "Der Cousin")
 



 
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