Seine Majestät, der König im Advent

Petra

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Seine Majestät, der König im Advent


"Mein Herr!", rief der König, als er eintrat. "Was unternehmen, bitte sehr, Sie denn da?"
Er hatte, während er des Nachts in den Federn lag und schlaflos sich von einer Seite auf die andere wälzte, ein gewisses Gefühl des Hungers verspürt, und war, teils aus diesem doch im Grunde recht unangenehmen Gefühl heraus, teils auch, weil ihm die umwälzende Tätigkeit auf Dauer langweilig geworden, alle Stockwerke heruntergeklettert bis ins Parterre. Dort nun hatte er die Tür zum hinteren Teil des Gebäudes, durch welche die Dienstboten mit und ohne Tabletts immerfort diensteifrig verschwanden und - kurze Zeit darauf - aufs Neue wiederkehrten, geöffnet und war in diesen Teil seines Schlosses eingetreten, den er selbst niemals zuvor je betreten hatte. Daraufhin war er noch ein paar Male mehr links und rechts der Gänge gelaufen, die sich vor ihm auftaten, auch stieg er noch eine weitere Treppe hinab, um schließlich in der Küche anzulangen, in der seltsamerweise - der König wußte sich nicht zu erklären, warum es sich solcherart verhielt - noch Licht brannte. Aber nicht die Deckenleuchte etwa, die mit ihrem grellen Scheine den gesamten Raum erhellt hätte. Vielmehr eine Laterne brannte, wie man sie im Mittelalter in der Hand getragen hatte - jedenfalls dann, wenn man Turmwächter und gezwungen gewesen war, des Nachts, in mitternächtlicher Schwärze, seinen Weg sich durch die Straßen zu suchen. Eine ganz normale Leuchte denn also, mit einem Metallgestell und eingefügten Glasscheibchen versehen und einer Kerze in der Mitte, die konzentrisch strahlend, jedoch eher verhalten schüchtern, ihr Licht abgab, das den Raum der Küche mild durchflutete.
Neben dieser Laterne nun, die auf einem Stuhl am Fenster abgestellt schien, stand ein Mann, der sich - auch diesen Sachverhalt wußte der König sich nicht zu erklären - über die Schuhe und Stiefel beugte, die dort aufgereiht, paarweise zusammen und ein Paar neben dem anderen, standen, und diese nachdenklich betrachtete. Er schickte sich an, sie immer und immer wieder zu zählen, ohne hingegen vom Resultat seiner Tätigkeit letztendlich sonderlich angetan zu sein. Bei der Stimme des Königs schrak er zusammen, faßte sich jedoch sogleich, hüstelte einmal kurz und wünschte guten Abend.
"Gut, daß jemand kommt," meinte er dann und blickte den König, der im Nachtgewand und ohne Krone auf der Schwelle stand, freundlich an und diesem unverwandt in die Augen. "Hätten Sie bitte die Freundlichkeit, mir zu helfen?", fragte er, und ohne eine wie auch immer geartete Erwiderung seines Gegenübers auch nur in den Anfängen abzuwarten, fuhr er fort: "Wo, bitte, finden sich Ihrer Meinung nach die Schuhe des Königs?"
Der Angesprochene, dieserart direkte Ansprachen keineswegs gewohnt und schon gar nicht um diese Stunde, der überdies nun ein erneutes Grummeln in der Magengegend vernahm und im Augenblick an ein gebratenes Hasenfilet dachte, zog unwillig die Augenbrauen zusammen und wippte auf den Zehenspitzen. Dann warf er einen raschen Blick auf besagtes Schuhwerk, zu dem hinunter der Mensch sich soeben noch tief gebeugt hatte, und verhielt staunend den Atem. Aus einem jeden lugte etwas hervor. Eine Orange, Äpfel, Lebkuchen, Nüsse, Zuckerstangen. Der König, der durchaus nicht begriff, worum es sich hier im eigentlichen handelte, zupfte sich am linken Ohr, während der andere seine Frage nach den königlichen Schuhen wiederholte. Der König jedoch machte keinerlei Anstalten, dem Unbekannten antworten zu wollen.
Stattdessen marschierte er mit majestätischen Schritten um den Tisch herum, hinter dem dieser fremde Mensch sich positioniert hatte und wo dieser sich noch immer hartnäckig hielt und von wo aus der nun sowohl Gebahren als auch Gedanklichkeit des Königs beobachtete, und Letzterer warf einen eingehenderen, wenngleich noch immer unverständig staunenden Blick auf die gefüllten Schuhe, dann auf den Unbekannten, schließlich auf die Schuhe zurück. Da erst erblickte er einen Sack, der - geöffnet - ganz in der Nähe stand und gefüllt war mit allerlei Leckereien.
"Was, bitte, machen Sie hier?", wiederholte stirnrunzelnd der König, als er des Sackes ansichtig geworden war, sich aber noch immer vergeblich das Gehirn nach einer auch nur halbwegs befriedigenden Erklärung dieser seltsamen Vorgänge zermarterte, und seine Stimme verriet ein gewisses Ungehaltensein. "Wollen Sie mir bitte schleunigst antworten! Ich habe Hunger. Und außerdem fröstelt es mich! Und - bitte: was beabsichtigen Sie mit den Stiefeln des Königs?"
"Oh!", erwiderte der Unbekannte, der höflich und mit geradezu ungemein stoischer Ruhe gewartet hatte, bis die Rede des Königs zu Ende geführt war. "Sie kennen mich nicht? Dies allerdings ist seltsam, denn um genau zu sein: ein jedes Kind kennt mich!"
"Ich verbitte mir das!", wies ihn der König zurecht. "Und bitte etwas zügiger mit der Antwort!"
Der Unbekannte lief nach diesem kurzen Wortwechsel, der ihm selbst tief im Innern doch recht unerquicklich vorkam, zu seinem Sack und entnahm ihm eine Kleinigkeit - der König vermochte nicht zu erkennen, um was es sich da im einzelnen handelte; dann wandte jener sich zurück und hielt dem König mit freundlichem Strahlen eine Lakritzstange entgegen.
Der König zierte sich und erklärte, insgeheim eher an einen Hasenbraten gedacht zu haben. "Süßes", deklamierte er, "macht die Zähne kaputt und außerdem fett." Bei diesen Worten strich er sich über seinen kugelrunden Bauch, ließ dies allerdings umgehend wieder sein aus Gründen eines gewissen Peinlichseins, denn er mußte die vollständige Sinnlosigkeit seiner Äußerung einsehen. Er wünschte, wenigstens sein Haushofmeister wäre jetzt zugegen, stünde neben ihm, um ihm hier wie überhaupt unter die Arme greifen zu können, aber dieser schlummerte zur Stunde in den seligsten Träumen, wie zu vermuten war, und so mußte er, der König, nun wohl oder übel allein durch diese peinliche und mindestens ebenso lästige wie überhaupt unangenehme Situation sich hindurchfinden.
Der Unbekannte nun hatte ihm zunächst noch immer die Lakritze hingehalten, ließ aber peu à peu den Arm sinken. "Hasenbraten?", besann er sich. "Mit Prinzeßkartoffeln?"
Der König zuckte die Schultern und erklärte, dies sei ihm so gut wie einerlei. "Hauptsache", meinte er, "dieses Magendrücken findet sein Ende."
Der Unbekannte rührte sich nicht von der Stelle. "Tut mir leid," meinte er schließlich. "Aber damit, sei es nun mit oder ohne Kartoffeln, mein Herr, kann ich nicht dienen. Aber wie wäre es nun schließlich mit dieser Lakritze? Sonst stecke ich sie wieder ein. Andere Kinder freuen sich darüber!"
Der König wiederholte mißmutig, kein Kind sein zu wollen, und nahm eine leicht wütende Färbung an. Der andere lachte, schien etwas erwidern zu wollen, schwieg dann aber doch und händigte dem König die Lakritze aus, die dieser mit einer umgehenden Schnelligkeit, die an und für sich betrachtet nun auch schon wieder ihre eigene Peinlichkeit hatte, in den Mund steckte und lutschte.
"Nun?", beharrte der andere abermals - oder, wenn man es genau betrachtete, noch immer höflich lächelnd, denn bislang hatte er nichts anderes als eben dies getan. "Wie verhält es nun mit den Stiefeln des Königs?"
Der König biß ein Stückchen von der Lakritze ab, denn das pure Lutschen befriedigte ihn nicht sonderlich, wenngleich es besser war, als nichts zu haben, wie er sich sogleich eingestand. Noch zu lebendig waren ihm die Zeiten des tagtäglichen Hungerns und der Entbehrungen im Gedächtnis, schon Jahre, ja Jahrzehnte lag es zurück, er selbst hatte seither einen weiten Weg zurückgelegt, aber ihm war es, als sei es gestern oder erst vorgestern gewesen, daß er all die Qualen erlitten hatte, und er wußte durchaus zu schätzen, wie gut es ihm ging. "Mein verehrter Herr," meinte er sodann, um sich selbst abzulenken von seinen doch recht argen Gedanken, die ihn ab und an - wenn schon nicht mit regelmäßiger Berechenbarkeit, so doch mit einer gewissen, periodisch wiederkehrenden relativen Regelmäßigkeit - anwandelten, und fiel in einen brüskeren Ton, als ihm selbst eigentlich lieb war. "Es scheint, daß Sie mich nicht kennen!"
"Mein verehrter Herr auch Sie," konterte der andere weit höflicher und nicht im mindesten weniger heiter, als vom Beginne her gewohnt. "Es scheint, Sie haben recht. Das macht jedoch nichts weiter. Hauptsache, ich gehe meinen angestammten Pflichten nach und finde besagtes Schuhwerk. Im übrigen - wer auch immer Sie sein mögen -", hier machte er eine kurze Pause, es hatte aber nicht den Eindruck, als ob er sich erst auf seine Worte würde besinnen müssen, und fuhr fort: "Auch Sie scheinen mich nicht zu kennen."
Der König blickte sein Gegenüber schweigsam an und fuhr fort, an seiner Lakritze zu lutschten, sodann wippte er erneut auf den Zehenspitzen, was er im übrigen immer tat, wenn ihm die Nerven einen Streich spielten und er sich nicht explizit klar darüber war, was des weiteren zu geschehen hatte. Schließlich erklärte er: "Sie mögen recht haben. Nun, dann stellen Sie sich einmal vor!"
Der andere verbeugte sich kurz. "Gestatten - Nikolaus!"
Der König nahm die Lakritzstange aus dem Mund, verbeugte sich ebenfalls und sprach: "Gestatten - König dieses Landes, Herr dieses Hauses und Besitzer ebendieser Stiefel, die Sie suchen."
"Oh!", erstaunte sich der Nikolaus und erklärte mit einem Blick auf den Morgenmantel des Königs, dies sei nicht zu erkennen gewesen.
"Nun ja, nun ja", meinte seine Majestät abwehrend und behauptete, mit Krone ließe es sich nicht so gut schlafen. "Des Nachts", sprach er, "pflege ich sie abzulegen."
Der Nikolaus nickte.
"Des Nachts," fuhr der König, nun einmal in Fahrt, fort in seinen Belehrungen; es war im übrigen oft so, daß seine Rede kein Ende fand, wenn er erst einmal den Anfang gefunden hatte, "Des Nachts steht sie entweder - auf Hochglanz poliert - unter meinem Bett, liegt - in ebensolchem Zustande - auf meiner Nachtkommode oder - weit bequemer - unter einem meiner Kopfkissen."
Dem anderen erschien dies recht gefährlich, der König verneinte dies jedoch. Es habe, so erklärte er, sich noch niemals ein Dieb unterstanden, bei ihm einzubrechen, und demjenigen, der es sich einfallen ließe, sich dies einfallen zu lassen, werde dieser Scherz recht schlecht bekommen.
Der Unbekannte schwieg einen Augenblick lang. "Dürfte ich wohl -", begann er schüchtern, ja beinah kindlich, und seine Augen nahmen einen unscheinbaren Glanz an, einen undefinierbaren Glanz, und der Blick war, als ginge er in die Ferne. "Dürfte ich wohl die Krone mir ein einziges Mal besehen? Ich würde liebend gerne einmal eine Krone betrachten! Ach, -", hier rang er die Hände, und ein Seufzer aus fernen Kindertagen entrang sich seiner Brust, "wie lang habe ich schon davon geträumt!"
"Selbstverständlich!", erklärte der König weit nüchterner, und gemeinsam gingen die beiden Herren, der Nikolaus gewappnet mit seinem Sack und der Laterne, all die Treppen wieder empor ins Schlafgemach seiner Majestät, des Königs, wo nach nicht allzu langem Suchen die Krone samt Zepter sich tatsächlich unter dem zweiten Kopfkissen anfand. Ein Gebilde ganz aus Gold, mit funkelnden Edelsteinen besetzt, von schier unermeßlichem Wert. Der König entzündete eine Kerze, die zusätzlich zur Laterne ihr flackerndes Licht auf die Krone warf, welches sich nun vielfach in den facettenreichen Kostbarkeiten brach und an den dem Licht abgewandten Stellen der Ornamente dunkle Schlagschatten warf. Der Nikolaus, ergriffen, bewunderte das verzierungsverschmückte Gebilde ausgiebig. Mit dem Finger fuhr er die Erhebungen und Vertiefungen entlang, er fuhr über die Rubine, Smaragde und Saphire. Er durfte sie sich sogar auf einen Augenblick aufsetzen und merkte bei dieser Gelegenheit, wie schwer sie wog, und ganz steif - damit die Krone nicht herunterfiele und Schaden nähme - setzte er sich auf das Bett, auf dem der König schmunzelnd bäuchlings lag, und probierte, wie es sei, König zu sein. "Wunderbar!", seufzte der Nikolaus und verdrehte verzückt die Augen und rang - ein weiteres Mal - die Hände.
"Ach," erwiderte der König lakonisch. "Langweilig! Jeden Tag ein- und dieselbe Krone! Ein- und derselbe Thron, ein- und derselbe Thronsaal, ein- und dieselben Minister. Keine Abwechslung! König zu sein macht keine Freude! Früher nicht. Und heute schon erst gar nicht."
Der Nikolaus seufzte noch einmal. "Ach, ich wär schon gerne König!"
Den König, nun seinerseits auch zu träumen aufgelegt, wandelte eine Idee an. "Kommt schlicht und ergreifend ein- oder anderntags vorbei!", schlug er vor. "Ihr könntet mich ablösen, Euch in den Thronsaal begeben, an meiner Stelle Hof halten - und ich meinerseits", an dieser Stelle wurde seine Stimme nun gewissermaßen elegisch, "würde im Garten spazieren gehen, mit den Vögeln singen, Blumen pflücken! Ach, was wäre das herrlich!"
Der Nikolaus zog die Stirn in Falten und belehrte, daß man im Winter schwerlich werde Blumen pflücken und mit den Vögeln singen können.
Verärgert über soviel Unsinnigkeit, schüttelte der König unwillig den Kopf und erklärte, im Winter jedoch Vögel füttern zu wollen. Das ginge sehr wohl. Doch der Nikolaus schüttelte nun seinerseits den Kopf.
Die Augenbrauen des Königs zogen unwillig sich zusammen.
"Ich werde nicht kommen können!", erklärte der Nikolaus.
Der König, der mit dieser Vorstellung große Hoffnungen verbunden hatte, bemühte sich erst gar nicht, von seinem Gesicht den Unmut über diese Absage, die ihm schwerwog wie eine Majestätsbeleidigung, zu verbannen. Er erkundigte sich nach dem Grund.
"Ich habe keine Zeit!"
Der König legte den Kopf schief, dann blinzelte er mit den Augen. Unter Aufbietung all seiner Phantasie versuchte er sich vorzustellen, welche Pflichten dem Nikolaus oblägen, schwieg aber eine geraume Zeit, ohne etwas zu äußern - und er fuhr fort, auch überhaupt zu schweigen. Der Nikolaus - sein Gegenüber, das nichts davon wahrzunehmen schien, beobachtend - wartete einen Augenblick in der Erwartung, der König werde diesem Schweigen alsbald ein Ende setzen.
Dem jedoch war nicht so. "Mein Name", wiederholte er deshalb schließlich langsam und bedeutungsvoll, "ist Nikolaus!"
"Ich weiß, ich weiß," stieß der König hervor. "Das sagtet Ihr bereits. Es ist zwar ein durchaus seltsamer Name, aber ich habe nichts dagegen, daß Ihr so heißt."
Der andere fand diese Art der Generosität recht reizend, behielt dies aber für sich. "Ich heiße nicht nur Nikolaus," beschränkte er sich deshalb zu sagen, "ich bin der Nikolaus!"
"Welcher Nikolaus?", fragte der König zurück.
"Der Nikolaus!", und die akustische Betonung des ersten Wörtchens, dieses Der, schien dem nachfolgenden, während es ausgesprochen wurde, die eigentliche Bedeutung - und damit die Betonung selbst - beizumessen.
"Aha", meinte der König.
"Ihr kennt mich wirklich nicht?", fragte der Nikolaus nach einer Weile, als der König fortfuhr, ihn indifferent und unausgesetzt schweigend anzusehen. Dieser schüttelte den Kopf und fragte, ob er zu regieren habe.
"Nein", erklärte der Nikolaus wahrheitsgemäß und hätte, überrascht von der unglaublichen Naivität seiner Majestät, die er im übrigen einem Staatsmann nicht zugetraut haben würde, wenn die gerade erfolgte und schon fast grotesk anmutende Szene er nicht soeben selbst erlebt hätte, beinahe laut aufgelacht, nahm sich aber meisterlich zusammen und unterdrückte jedweden Anflug von Heiterkeit, soweit ihm das möglich war. "Das nun nicht gerade. Aber ich durchreise Anfang Dezember die Welt und beschenke die Kinder, indem ich ihnen Süßigkeiten und, was sie sonst noch brauchen können, in Schuhe, Stiefel und Strümpfe stecke."
"Aha", erklärte der König noch einmal, ohne sich hingegen um einen Deut klüger zu fühlen. Er selbst hatte vom Nikolaus - solange er zurückdenken konnte, und er war sich sicher, daß seine Gedanken bis tief in die Vergangenheit zurückreichten - noch niemals etwas gehört, und er vermochte sich auch nicht daran zu erinnern, daß sein Haushofmeister oder einer seiner Minister jemals von einem Herrn Nikolaus, der zudem noch Schuhe bestückte, berichtet hätten. "Und", fragte er sodann. "Was wollt Ihr dann mit den Stiefeln des Königs?"
"Auch diese befüllen!"
"Aha!", erklärte der König ein letztes Mal. "In diesem Fall müssen wir sie suchen. Zu meiner Schande muß ich gestehen: ich weiß leider selber nicht, wohin selbige sich verlegt haben!" Und beide Herren machten sich auf die Suche. Sehr ausgiebig und höchst konzentriert suchten sie in allen Schränken, Kisten und Schubladen, hinter allen Türen und in allen Schächtelchen. Sie durchkämmten jedes Stockwerk, guckten hinter jeden Sessel und unter jedes Bett, durchsuchten das Bad, den Dachboden und den Keller. Sie fanden sie nicht. Zu guter Letzt befragten sie auch das Schloßgespenst um Rat, doch auch dieses wußte keine Auskunft zu geben und schlief, da man sich unterstanden hatte, es noch vor der Geisterstunde zu wecken, sogleich und darüber hinaus auch ein wenig ärgerlich wieder ein - nicht ohne den Deckel der Truhe, in der es sich zur Nacht gebettet hatte, recht laut niederkrachen zu lassen.
Müde und mit hängenden Schultern kehrten die Herren zurück in des Königs Schlafgemach.
Seine Majestät öffnete nun die Balkontüre in der Absicht, hinaus in die kühle Mondnacht zu treten, denn er erhoffte sich von der Frische der Nacht, sie werde ihren erhitzten Gemütern ein wenig Linderung verschaffen; da stolperte er über etwas, das ihm im Wege stand. Er hob, fluchend, den Gegenstand auf, befühlte ihn ausgiebig, doch erst im Schein der Laterne, die der Nikolaus heranbrachte, erkannte er staunend einen der königlichen Stiefel. Den anderen fanden sie auch sehr bald. "Hier treibt Ihr Euch also herum!", murmelte der König mit einem Mißmut, den er nur mit Mühe zu unterdrücken verstand. "Was macht Ihr denn in dieser Kälte auf meinem Balkon?" Und hätten die Stiefel Münder gehabt, so würden sie dem König berichtet haben, daß der Haushofmeister höchstpersönlich die Stiefel am Abend zuvor an genau dieser Stelle hinterlegt hatte, damit der Nikolaus, von dessen Kommen er im Gegensatz zum König durchaus unterrichtet war, sie füllen konnte, ohne allzu weite Strecken zurücklegen zu müssen. Beide Männer, der König sowohl als auch der Nikolaus, waren sehr zufrieden ob der nunmehr beendeten Suche, und so wurden die Stiefel des Königs ebenfalls mit allerlei Leckereien gefüllt und zurück auf den Balkon gestellt, wo sie in aller Stille verharrten, als sei ihnen nicht das mindeste geschehen.
Durch die winterkalte Luft auf dem Balkon, beschienen vom Mond und zahlreichen Sternen, war den beiden kalt geworden. So befeuerten sie, kaum daß sie wieder herinnen waren, den Ofen, daß es behaglich warm wurde, setzten sich aufs Bett und begannen, einander Geschichten zu erzählen, Geschichten aus der Vergangenheit, Geschichten aus den Mythen, Geschichten aus den Zeiten dieser Welt. Nach einer Weile - die Zeiger der Uhr waren kontinuierlich weitergerückt und standen nun zu vorgerückter Stunde - entdeckte der Nikolaus in der hintersten Ecke des königlichen Schlafgemachs, dort, wohin der flackernde Schein der entzündeten Kerze auf dem Nachttische nur mühsam drang, und die infolgedessen in tieferes Halbdunkel gehüllt war, eine Eisenbahn mit dazugehöriger Landschaft. Die Herren setzten sich auf den Boden, ließen die Eisenbahnen laufen, setzten Signale, gähnten ab und an herzhaft und nickten ein. Dann weckten sie einander. Dieserart verspielten sie die Zeit. Letztlich jedoch hatte der König seiner Müdigkeit nicht mehr Einhalt gebieten können, sie hatte ihn vollständig übermannt, und er war gänzlich eingeschlafen. Der Nikolaus selbst und das Gespenst, das just in jenem Moment zur Tür hereintrat, hoben ihn aufs königliche Bett; das Gespenst sank, in Anbetracht der frühen Morgenstunden übernächtigt, schläfrig auf die Kissen nieder und schlummerte, neben dem König liegend, auf der Stelle ein. Der Nikolaus deckte beide recht ordentlich zu, dann trat er hinaus in die kalte Nacht, um weitere Häuser zu besuchen und geputztes und bereit gestelltes Schuhwerk zu füllen.
Als der König nun am nächsten Morgen aufwachte, schneite es schon geraume Zeit dicke Flocken und auch kleinere. Die Landschaft war mit einer dicken Puderschicht überzogen. Die Luft war klar. Die Gedanken der vergangenen Nacht spukten seiner Majestät noch im Kopf herum, ähnlich den Flocken vor seinem Fenster vollführten sie einen Tanz, kopflos, tollkühn, und er wußte nicht zu sagen, ob es Traum oder Wirklichkeit war, an das er mit einem wohligen Schauer zurückdachte. Jedenfalls öffnete er aus einem Grund heraus, den er selber nicht näher zu bezeichnen imstande gewesen wäre, die Balkontür, trat barfuß in den Schnee hinaus und schimpfte, weil es ihm an den Füßen - er hatte in der Eile vergessen, seine königlichen Hausschuhe anzuziehen - kalt war. Dann entdeckte er seine gefüllten Stiefel, die über Nacht zugeschneit waren, freute sich sehr und ging wieder nach drinnen.
Hier allerdings roch es irgendwie eigenartig. Er warf einen Blick auf den Ofen, auf dessen oberer Platte - der König staunte, denn das war durchaus nicht üblich - ein Topf sich fand, in dem es vor sich hinkochte und brodelte. Er hob - einen bereitliegenden Topflappen zur Hand nehmend - den Deckel und entdeckte im Innern einen knusprigen Hasenbraten mit leckeren Kartoffeln. "Oh! Welch Festtagsschmaus zum Frühstück!", rief der König da erfreut. Das Gespenst hingegen, das er zu wecken versuchte, drehte sich lediglich brummelnd auf die andere Seite, zog die Decke weit über den Kopf und schlief weiter.
Da erst erblickte der König den Zettel, der auf des Topfes Deckel befestigt war:

Mit lieben Grüßen vom Nikolaus. Guten Appetit!
 



 
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