selbst-verständlich

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Tula

Mitglied
selbst-verständlich


Du sagst so oft, du kennst mich ganz genau und siehst
nicht wie ich immer wieder in mich geh'. Schon sehe
ICH nur eine Tür „Hier hast du längst verloren!“ Also
setze ich aufs Ganze, stoß sie auf und fall' hindurch.

Im Nu habe ich die Orientierung verloren und kauere
mit gebundenen Händen in einem morschen Kahn auf
stehendem Wasser. Aus der Tiefe blubbern mir faule
Gewissheiten entgegen. Irgendwo kichern Nymphen.

Auf meinem Schoß entfaltet sich eine rätselhafte Karte.
Wind kommt auf, das Boot gewinnt an Fahrt und ich
trag' eine wunder-blaue Uniform. Da reißt man mir die
Karte aus der Hand. Den Kurs bestimmt schließlich SIE!

Messingaugen blinzeln so verwegen wie der Sturm in
meinem Flaum: „There is plenty of gold, so I've been told,
on the banks of Sacramento!
“ Mit geblähten Segeln ziehen
wir rückwärts in den Hafen. Im Osten geht die Sonne unter.

Im Trubel einer alten Taverne erzittere ich beim Anblick der
vollbusigen Wirtin. Ein Korsar zeigt mir eine Karte, die mir
seltsam bekannt erscheint. Die Breitengrade biegen sich vor
vergrabenen Schätzen. Ich plane 99 Reisen im Detail durch.

Ich jage wie alle als Indianer über die Wiese. Im Stillen aber
bin ich Störtebeker und hisse das grüne Segel am Pappelmast.
Am Horizont rollt der nächste Güter-Beutezug ins Reich der
Hanse. Voller Erwartung hole ich mir einen Popel aus der Nase.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Ein großartiges Gedicht, Tula - eine gekonnt beschriebene Szenerie, die eine Metapher ist für die Ambivalenz der Natur des Reisens, genannt: Leben.
Als Mensch zugleich (oder im Wechsel) Beobachter und Akteur zu sein, inmitten von Widersprüchen, ohne jedoch die Neugier verloren zu haben, wenngleich die (Selbst)Orientierung ab und an und selbst-verständlich stiften geht, berechnete Koordinaten mitunter nichts taugen.

Ja, und dabei hat man (Mann) oft den Eindruck, nicht von der Stelle zu kommen, nicht ans Ziel zu gelangen, Rückschritte / Kehrtwenden verzeichnen zu müssen, die sich jedoch am Ende bzw. zwischendurch ganz unverhofft darstellen können usw. Selbst der Popel trägt das Universum in sich. Manchmal ist es eben erforderlich, diesen zu entfernen, um durchatmen zu können oder - um eine große Entdeckung zu machen ;).

Gern gelesen!

LG,
keram
 
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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tula,

selten war ich mir bei einem Gedicht so unsicher.
Einerseits denke ich mir, dass es vielleicht etwas zu ausformuliert ist und man an der einen oder anderen Stelle hätte verdichten können.
Andererseits aber hat es mich gefesselt und ich habe aufmerksam bis zum Ende gelesen.
Apropos Ende: Das finde ich sehr gut. Dieser harte Riss aus Männerphantasien in die Realität und sei es nur durch einen gemeinen Popel.

Ich bin mal gespannt, was die anderen so meinen.

Liebe Grüße
Manfred
 

hein

Mitglied
Hallo Tula,

bis zur vorletzten Zeile dachte ich an einen Alptraum,
aber nach der letzen Zeile schließe ich mich @Keram an.

LG
hein
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hi Tula,
ich habe die Phase des Nachdenkens noch nicht ganz abgeschlossen. Klar, der Popel hätte mir das weitere Denken nehmen können, aber womöglich wäre es dann ein vorschnelles gewesen. Aber dann war es plötzlich ganz klar: Fünfzehnjähriger oder so. Fünfzehnjährige gehen in Gedanken auf Abenterfahrt, singen Shantys, zeigen der nörgelnden Mutter, wo die Tür ist. Gehen vermutlich auch die Dreißigjährigen, dann muss halt die Geliebte ab durch die Tür. Oder liege ich völlig danaben? Ist mir egal, das Gedicht hat mir gefallen, das muss man nicht lesen, das muss man spielen! Dann ist plötzlich alles ganz klar.
Gruß Joe
 

revilo

Mitglied
Cool......was hast du vor dem Gedicht geraucht? Genau das will ich auch.....ach scheisse, ich Rauch ja gar nicht.....
 

Tula

Mitglied
Hallo in die Runde

ich bedanke mich bei allen für Kommentare und Bewertungen, hab‘ mich natürlich drüber gefreut.

Marek hat es als erster aufgedeckt – es geht in der Tat um die Reise in sich selbst und durch das Leben. Da dieses nur eine einzige Tür hat, lasse ich mich als Lyri ohne weitere Auswahl hineinfallen, gewissermaßen von den oberen (noch jüngeren Schichten) im freien Fall immer tiefer bis zurück in die Kindheit. Das Zurückspulen der Erinnerungen sollte da auch durch die im Osten untergehende Sonne veranschaulicht werden.

Sicherlich ist es nicht unbedingt die ironisch umschriebene Lebensgeschichte des Autors (meine), aber der maritime Bezug ist dennoch kein Zufall. Eine Matrosenuniform war dabei, den Traum der Seefahrt habe ich noch bis weit über die 20 hinaus hartnäckig verfolgt. Bis mich das Leben eines Besseren belehrte.

Dennoch bleibt es Metapher, in welcher sich jeder selbst suchen und vielleicht wiederfinden kann. Immerhin geht es um mehr als nur die Erkenntnis, dass sich große (zum Teil naive) Träume von einst nicht erfüllt haben, oder eben nur teilweise, sondern auch um den Prozess der Selbstfindung in einem späteren Lebensabschnitt. Der ‚andere‘ vor uns ahnt nicht unbedingt, wer wir wirklich sind bzw. einmal waren; und wir wissen mitunter selbst nicht, was von uns als noch sehr junger Mensch heute noch übrig geblieben ist, oder warum wir heute der/so sind der/wie wir sind und inwieweit uns nicht nur das nicht immer freundliche Leben, sondern auch die Träume der Kindheit und Jugend mitgeformt haben, auch wenn wir heute von diesen weit enfernt leben.

Soweit zur Grundidee, den Rest und die kichernden Nymphen überlasse ich der Phantasie des Lesers :)

LG

Tula
 
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