Selbstbegegnung

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klausKuckuck

Mitglied
Selbstbegegnung
Fliederstein erdenkt sich eine Brille,
Die statt am – im Kopf zu tragen ist,
Diese tragend, blickt er in die Stille
Seines Wesens durch Erfinderlist.
Und er sieht sich selbst verhundertfältigt,
Sieht sein Ich vom eignen Ich umstrahlt,
Die Begegnung mit sich selber überwältigt
Fliederstein. Er sitzt und staunt und malt
In Gedanken sich ein Weltgebäude,
Das für andrer Leute Ich nicht gilt,
Ach, wie schwelgt er da in Einfallsfreude,
Ach, wie narrt ihn das gemalte Bild!
Ach, wie fliegt er! Liegt er! Steht und hängt er,
Ja, er hängt! An einem Fadenstück!
Etwas stimmt nicht mit der Brille, denkt er,
Und mit einem Schreckensaufschrei schwenkt er
Ins vertraute Außenglück zurück.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber KK,

Dein Gedicht entzückt mich, und lässt mich doch irgendwie unbefriedigt zurück.
Mir ist aufgefallen, dass Reime - und ggf. eine feste Form - den Inhalt so fest verankern, dass eine Solidität entsteht, dem der Inhalt nicht entsprechen muss.

Natürlich kann man unterstellen, dass ein Mensch, wenn er tief - und dauerhaft - ins eigene Ich blickt, sich mit Schaudern abwendet. Aber das scheint mir doch eine zu grobe Perspektive - und verstellt darüber hinaus den Blick auf die wesentlichen Stellschrauben, die wir als Individuen haben, um 'an uns zu arbeiten'.

Nun könntest Du einwenden, Dein Protagonist sei eben einer von den Unbelehrbaren und könne dem Blick auf die Wahrheit im Innern nicht standhalten und würde sich lieber wieder ins 'Außenglück' stürzen. Aber das transportiert Dein Text nicht. Er sagt eher etwas 'Menschenpessimistisches' aus. So ein bisschen, egal, ob er nun hinschaut, oder nicht, der Mensch geht potentiell in die Irre. Dem halte ich den alten Goethe entgegen: Der Mensch irrt, so lang er strebt, was ich nie als Kritik am Streben oder Irren aufgefasst habe, sondern als Aufforderung zu Selbstkritik, dass nämlich das Streben selbst - mit seinen vielfältigen Motiven - keine immanente Vermeidung von Fehlern hat, sondern diese selbst hervorrufen kann, und dass man sich dessen bewusst sein muss.

Ich gebe Dir insofern Recht, als wir von verdammt viel Selbstbetrug umgeben sind, aber nicht ins eigene Ich zu schauen, ist eben keine Lösung. (Vor allem nicht, wenn man nach der Selbstbegegnung mit leeren Händen zurückkommt.)

Liebe Grüße
Petra
 

klausKuckuck

Mitglied
Ich muss gestehen, liebe Petra, da komme ich gedanklich nicht wirklich mit. In einem anderen Forum hat jemand zu meinem Text geschrieben: "Der Selbsterforscher hat mit der eigenen Innenwelt ein n-dimensionales Multiversum betreten, das erst Verzückung, dann Verwirrung und Panik auslöst. Gut, dass ihm die Flucht gelingt, bevor er im Wahnsinn endet." So sehe ich das auch. Vielleicht naiv, aber plastisch und greifbar. Über deine Betrachtungen muss ich noch eine Weile nachdenken ;).
Gruß KK
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber KK,

da habe ich einfach eine andere Perspektive.
Wenn Du als Selbsterforschung die Nabelschau meinst, die steht tatsächlich in keinem guten Ruf, weil sie aber auch etwas Unsoziales ist - mit sich allein ist der Mensch verloren.
Aber Selbstbetrachtung, vor allem selbstkritische, ist der Anfang davon, sich eben selbst nicht so wichtig zu nehmen, dass man nur um sich selbst kreist und jede innere Befindlichkeit zum Weltereignis erklärt. Da geht es eher darum, die eigenen Motive zu ergründen, Prägungen zu hinterfragen, sich Fehler einzugestehen und auch die eigene Begrenztheit zu erkennen, verstehen und zulassen zu können. Man kehrt aus der 'Selbstbegegnung' eben nicht mit leeren Händen zurück, sondern ist ein Stück weit 'soziabler' geworden. Denn wenn man weiß, im Grunde nur ein armes Würstchen zu sein, das mehr Liebe braucht, als es verdient hätte, geht man mit seinen Würstchenkolleg*innen vielleicht ein bisschen nachsichtiger um.

Ich hoffe, das hat jetzt meinen Zugang etwas erläutert.

Liebe Grüße
Petra
 

klausKuckuck

Mitglied
Hallo Petra,
die Figur des Fliederstein ist nicht mit allzuviel erkenntnistheoretischem Vermögen ausgestattet, ihre Stärke ist das naive, im besten Sinne unbedachte Drauflosprobieren, eine Mischung aus Neugier und erfinderischer Kindlichkeit; auch gefährdender Hemmungslosigkeit sich selbst gegenüber. Ein weiteres Beispiel für diese Art der figürlichen "Ausstattung" werde ich heute Abend in die "Lupe" setzen – vielleicht lösen sich dann die Missverständnisse. Jetzt steht ein Sonnenspaziergang auf der Tagesordnung. :cool:
Gruß KK
 

Scal

Mitglied
Dem Tagebuch, bei Nacht,
betitelt „Buch der Götter“,
hat einst ein edler Spötter,
die Botschaft überbracht,

dass es ein ichlos Ding.
„Indessen“, schrieb er weiter,
gewähre ich mir heiter
das Wissen „I Am King“.

Dann klappte er es zu.
Das Bett, dem Buche ähnlich,
erschien ihm zu ersehnlich.
Genannt hat er es „Du“.

Entschuldige bitte, lieber Klaus K., wenn ich hiermit eine Art Kuckucksei in das Nest Deines dichterisch brillant durchgestalteten Textes gelegt haben sollte.

LG
 

klausKuckuck

Mitglied
Hey, Scal,
und wenn Kuckucksei, ist da doch eine verwandtschaftliche Nähe nicht zu übersehen. Danke fürs Lob.
Gruß KK
 



 
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