Die Nacht brach herein
Das Telefon läutete, doch sie wollte mir nichts sagen - nur schnell kommen. Vielleicht hatte sich das Kind die Pulsadern aufgeschnitten, dachte ich.
Zeit und Raum überschwemmten alles, als ich ins Auto stieg. Vollgas! Ich brettere durch den Tag, der jetzt pfeilschnell an mir vorbeizog. Während der Fahrt klingelte ein zweites Mal das Telefon - ich ging nicht dran, zu viel Atemnot. Mein Fuß zitterte auf dem Gaspedal und ich nahm die Ausfahrt fast zu eng.
Einige Figuren standen auf der Straße vor dem Haus. Das Kind wohnte hier, soviel wusste ich noch. Mit quietschenden Reifen bog ich ein, parkte, sprang aus dem Wagen und rannte. Ich dachte etwas und fragte: „Ist Sie tot?“ Das andere Kind nickte. Dann brach die Nacht herein – in mir.
Ein wenig mehr als Nichts ist von dem übrig, was man Erinnerung nennt. Ein Prozess begann da. Ich wurde entseelt, Schritt für Schritt. Das andere Kind schlug ich aus lauter Verzweiflung, glaube ich. Danach nichts mehr. Nur noch Fetzen von Erinnerungen. Kleine Ausschnitte meiner Seele, die jetzt umherflatterten. Mein Körper schaltete ab. Manchmal fragte ich mich nur: „Was soll das andere Kind von mir denken?“
Von da an suchte ich nach ihr – überall. Versuchte mich wach zu machen, aus diesem Alptraum. Dabei war sie es doch, die eingeschlafen war, oder? Dieser Traum bestand jetzt nur noch aus Vergangenheit: Geburtstag, Kerzen ausblasen, jetzt wohl nicht mehr. Die kommende Nacht war ohne Erinnerung.
Am nächsten Tag fuhr ich in die Stadt, in der das Kind früher lebte. Es gab da sozusagen ein Platz, wo es seine letzte Ruhe fand. Die Stätte interessierte mich, sie war vielleicht gut besucht? „Wie ein Museumsbesuch“, dachte ich, denn ich war jetzt ein Besucher – nein, vielmehr ein Beschauer, ein Totenbeschauer. Diese Vorstellung amüsierte mich und ich musste keinen Eintritt zahlen.
Am Eingang war eine große Tafel angebracht, die mir zeigte, wer hier zu beschauen war. Ich inspizierte die einzelnen Spalten. Vielleicht war ja das Gehege leer? Es würde zwar schon alles eingerichtet sein, aber keiner wäre da drin? Nach der ersten Spalte hatte ich kaum noch Hoffnung. Sie ist nicht da - so wie ich dachte. Dann, am Ende der zweiten Leichenspalte, stand da ein Name – ihr Name! Wieso?
Das Glas des einzigen Fensters bündelte die Sonnenstrahlen auf dem hölzernen Kasten. Ich blieb im Türrahmen stehen und beschaute es von weitem. „Der Finger Gottes“, kam mir so in den Sinn. Er zeigte mir die Stelle, wo das Kind noch war – noch. Langsam näherte ich mich der letzten Ruhe und staunte nicht schlecht, als ich das Kind so liegen sah. Vollkommen friedlich und schön frisiert, die Augenbrauen fast hochgezogen. Doch es fehlte etwas. Wo waren die hellen Türen, die mich immer so verzaubert haben. Ich wollte sie eintreten, mein Leben lang. Wollte wissen, was sich dahinter verborgen hatte. Jetzt waren sie geschlossen – für immer.
Ich streichelte ihr über den Kopf, völlig leer. Schaute sie genau an und wollte sie zudecken, so wie früher. Die Arme, die Brüste, der Bauch, die Beine – alles war an seinen Platz sortiert. Die Wächter hatten gute Arbeit geleistet, jetzt war sie fast frei.
Ich hatte vier Tage Zeit und ich fuhr vier Mal die selbe Strecke, hin und her. Immer der Sonne entgegen und in aller Frühe. Kaum Menschen waren auf der Straße, nur ich. Dann kaufte ich Sonnenblumen und schnitt die Köpfe ab. Ich schmückte ihren Kasten damit und klebte sie überall hin, wo noch Platz war. Die Zeit rannte.
Ich lag auf, neben und schließlich in dem Sarg und sprach über die letzte Woche. Das Gemüse war wieder teurer geworden, und, stell dir vor, meine Nachbarin ist schon wieder schwanger. Onkel Karl aus Amerika lässt Grüße für Dich da und deine Haare sehen toll aus! Der neue Friseur hat ganze Arbeit geleistet. Du bist aber wieder ziemlich dünn geworden, Kind, dass macht mir Sorgen.
So vergingen die Stunden und die Tage, bis das der vierte Tag gekommen war. Jetzt hieß es Abschied nehmen – endgültig. Ich sah mich noch mehrmals um, als ich den Raum verließ.
------------
Als ich ihre Wohnung betrat war alles kalter Kaffe. Küche, Geschirr, Zigarettenstummel – alles schien an seinem Platz, nur eben ohne Leben. „Wie traurig“, dachte ich. Andere, die ihr etwas bedeutet haben, waren auch noch mit dabei. Ich schloss mich nach dem Eintreten sofort im Badezimmer ein. Dann besah ich mir nochmal alles, ganz in Ruhe. Ich versuchte zu fühlen und strich über die Armaturen, das Waschbecken, den Wäscheschrank. Nach einem letzten Blick nahm ich mir den weißen Bademantel und den Teddy. Fluchtartig verließ ich die Wohnung. Warum? Ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell.
Die Verbindung brach, als ich zu Hause ankam. Ich fand mich bettlägerig in einer Anstalt wieder. Was war passiert? Augenzeugen berichteten: Ein Geist schwebte durch die Straßen. Er hatte einen kleinen Teddy im Arm.
Dann wurde es schlimmer. Medikamente halfen nicht und machten nur noch taub. Die Hölle begann, an die ich nur noch so wenig Erinnerung habe. Meine Seele war unkenntlich, zerstört, gebrochen.
Viel Zeit musste vergehen, bis dass ich wieder Licht sah. Die ersten Sonnenstrahlen berührten mein Gesicht. Ich erwachte aus dem Seelenschlaf, der so nötig war. Langsam kam alles wieder in Gang, sozusagen neu gestartet. Ich war wieder bereit aufzunehmen, was um mich herum geschah. Ein erstes, gutes Gefühl - das war heftig.
Heute kann ich kaum mit Worten mehr beschreiben, wie unterirdisch ich mich fühlte. Was mir half war der Gedanke vom Neuanfang. Ich hatte wieder Kraft zu hinterfragen und die Zeit des Aufarbeitens begann, dabei quälte mich die Schuldfrage am meisten.
Wer war Schuld? ICH, denn ich sah etwas, ohne wirklich darüber nachzudenken. ICH, denn mich beschäftigte etwas, ohne es wirklich auszusprechen. ICH, denn ich bin eine Mutter, die nicht aufmerksam war. Meine Gefühle hätten mich anschreien sollen. Die Gefahr zu bannen, das wäre meine Aufgabe gewesen. Und jetzt? Jetzt muss ich für das Andere da sein – nicht die gleichen Fehler wieder machen. Anfangen zu reden, reden, reden…. Niemals mehr verschweigen, dass habe ich mir geschworen.
Nach dem Ganzen schaue ich heute hoch zum Firmament. Ich sehe einen Stern, der besonders hell ist, dann muss ich mich schnell umdrehen. Es passiert nicht selten, dass die Sehnsucht groß wird. Ich möchte dann fliegen und nicht mehr wieder kommen.
Sie ist stets in meinem Herzen, bleibt dort und wird es immer sein, jedoch muss ich weiterleben! Mein Weg ist noch nicht zu Ende.
Was bleibt ist Erinnerung.
Das Telefon läutete, doch sie wollte mir nichts sagen - nur schnell kommen. Vielleicht hatte sich das Kind die Pulsadern aufgeschnitten, dachte ich.
Zeit und Raum überschwemmten alles, als ich ins Auto stieg. Vollgas! Ich brettere durch den Tag, der jetzt pfeilschnell an mir vorbeizog. Während der Fahrt klingelte ein zweites Mal das Telefon - ich ging nicht dran, zu viel Atemnot. Mein Fuß zitterte auf dem Gaspedal und ich nahm die Ausfahrt fast zu eng.
Einige Figuren standen auf der Straße vor dem Haus. Das Kind wohnte hier, soviel wusste ich noch. Mit quietschenden Reifen bog ich ein, parkte, sprang aus dem Wagen und rannte. Ich dachte etwas und fragte: „Ist Sie tot?“ Das andere Kind nickte. Dann brach die Nacht herein – in mir.
Ein wenig mehr als Nichts ist von dem übrig, was man Erinnerung nennt. Ein Prozess begann da. Ich wurde entseelt, Schritt für Schritt. Das andere Kind schlug ich aus lauter Verzweiflung, glaube ich. Danach nichts mehr. Nur noch Fetzen von Erinnerungen. Kleine Ausschnitte meiner Seele, die jetzt umherflatterten. Mein Körper schaltete ab. Manchmal fragte ich mich nur: „Was soll das andere Kind von mir denken?“
Von da an suchte ich nach ihr – überall. Versuchte mich wach zu machen, aus diesem Alptraum. Dabei war sie es doch, die eingeschlafen war, oder? Dieser Traum bestand jetzt nur noch aus Vergangenheit: Geburtstag, Kerzen ausblasen, jetzt wohl nicht mehr. Die kommende Nacht war ohne Erinnerung.
Am nächsten Tag fuhr ich in die Stadt, in der das Kind früher lebte. Es gab da sozusagen ein Platz, wo es seine letzte Ruhe fand. Die Stätte interessierte mich, sie war vielleicht gut besucht? „Wie ein Museumsbesuch“, dachte ich, denn ich war jetzt ein Besucher – nein, vielmehr ein Beschauer, ein Totenbeschauer. Diese Vorstellung amüsierte mich und ich musste keinen Eintritt zahlen.
Am Eingang war eine große Tafel angebracht, die mir zeigte, wer hier zu beschauen war. Ich inspizierte die einzelnen Spalten. Vielleicht war ja das Gehege leer? Es würde zwar schon alles eingerichtet sein, aber keiner wäre da drin? Nach der ersten Spalte hatte ich kaum noch Hoffnung. Sie ist nicht da - so wie ich dachte. Dann, am Ende der zweiten Leichenspalte, stand da ein Name – ihr Name! Wieso?
Das Glas des einzigen Fensters bündelte die Sonnenstrahlen auf dem hölzernen Kasten. Ich blieb im Türrahmen stehen und beschaute es von weitem. „Der Finger Gottes“, kam mir so in den Sinn. Er zeigte mir die Stelle, wo das Kind noch war – noch. Langsam näherte ich mich der letzten Ruhe und staunte nicht schlecht, als ich das Kind so liegen sah. Vollkommen friedlich und schön frisiert, die Augenbrauen fast hochgezogen. Doch es fehlte etwas. Wo waren die hellen Türen, die mich immer so verzaubert haben. Ich wollte sie eintreten, mein Leben lang. Wollte wissen, was sich dahinter verborgen hatte. Jetzt waren sie geschlossen – für immer.
Ich streichelte ihr über den Kopf, völlig leer. Schaute sie genau an und wollte sie zudecken, so wie früher. Die Arme, die Brüste, der Bauch, die Beine – alles war an seinen Platz sortiert. Die Wächter hatten gute Arbeit geleistet, jetzt war sie fast frei.
Ich hatte vier Tage Zeit und ich fuhr vier Mal die selbe Strecke, hin und her. Immer der Sonne entgegen und in aller Frühe. Kaum Menschen waren auf der Straße, nur ich. Dann kaufte ich Sonnenblumen und schnitt die Köpfe ab. Ich schmückte ihren Kasten damit und klebte sie überall hin, wo noch Platz war. Die Zeit rannte.
Ich lag auf, neben und schließlich in dem Sarg und sprach über die letzte Woche. Das Gemüse war wieder teurer geworden, und, stell dir vor, meine Nachbarin ist schon wieder schwanger. Onkel Karl aus Amerika lässt Grüße für Dich da und deine Haare sehen toll aus! Der neue Friseur hat ganze Arbeit geleistet. Du bist aber wieder ziemlich dünn geworden, Kind, dass macht mir Sorgen.
So vergingen die Stunden und die Tage, bis das der vierte Tag gekommen war. Jetzt hieß es Abschied nehmen – endgültig. Ich sah mich noch mehrmals um, als ich den Raum verließ.
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Als ich ihre Wohnung betrat war alles kalter Kaffe. Küche, Geschirr, Zigarettenstummel – alles schien an seinem Platz, nur eben ohne Leben. „Wie traurig“, dachte ich. Andere, die ihr etwas bedeutet haben, waren auch noch mit dabei. Ich schloss mich nach dem Eintreten sofort im Badezimmer ein. Dann besah ich mir nochmal alles, ganz in Ruhe. Ich versuchte zu fühlen und strich über die Armaturen, das Waschbecken, den Wäscheschrank. Nach einem letzten Blick nahm ich mir den weißen Bademantel und den Teddy. Fluchtartig verließ ich die Wohnung. Warum? Ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell.
Die Verbindung brach, als ich zu Hause ankam. Ich fand mich bettlägerig in einer Anstalt wieder. Was war passiert? Augenzeugen berichteten: Ein Geist schwebte durch die Straßen. Er hatte einen kleinen Teddy im Arm.
Dann wurde es schlimmer. Medikamente halfen nicht und machten nur noch taub. Die Hölle begann, an die ich nur noch so wenig Erinnerung habe. Meine Seele war unkenntlich, zerstört, gebrochen.
Viel Zeit musste vergehen, bis dass ich wieder Licht sah. Die ersten Sonnenstrahlen berührten mein Gesicht. Ich erwachte aus dem Seelenschlaf, der so nötig war. Langsam kam alles wieder in Gang, sozusagen neu gestartet. Ich war wieder bereit aufzunehmen, was um mich herum geschah. Ein erstes, gutes Gefühl - das war heftig.
Heute kann ich kaum mit Worten mehr beschreiben, wie unterirdisch ich mich fühlte. Was mir half war der Gedanke vom Neuanfang. Ich hatte wieder Kraft zu hinterfragen und die Zeit des Aufarbeitens begann, dabei quälte mich die Schuldfrage am meisten.
Wer war Schuld? ICH, denn ich sah etwas, ohne wirklich darüber nachzudenken. ICH, denn mich beschäftigte etwas, ohne es wirklich auszusprechen. ICH, denn ich bin eine Mutter, die nicht aufmerksam war. Meine Gefühle hätten mich anschreien sollen. Die Gefahr zu bannen, das wäre meine Aufgabe gewesen. Und jetzt? Jetzt muss ich für das Andere da sein – nicht die gleichen Fehler wieder machen. Anfangen zu reden, reden, reden…. Niemals mehr verschweigen, dass habe ich mir geschworen.
Nach dem Ganzen schaue ich heute hoch zum Firmament. Ich sehe einen Stern, der besonders hell ist, dann muss ich mich schnell umdrehen. Es passiert nicht selten, dass die Sehnsucht groß wird. Ich möchte dann fliegen und nicht mehr wieder kommen.
Sie ist stets in meinem Herzen, bleibt dort und wird es immer sein, jedoch muss ich weiterleben! Mein Weg ist noch nicht zu Ende.
Was bleibt ist Erinnerung.