Selbstmordattentat

Kyra

Mitglied
Selbstmordattentat

Mahmoud lag auf seinem schmalen Bett und sah sich immer wieder das kurze Video an. In seinem Zimmer war es kühl und dämmrig, durch das winzige Fenster drang gedämpft der Lärm der sommerlichen Strasse, das dröhnen der Busse, das Hupen, das Aufheulen der Mopeds, die quietschenden Bremsen und ein leises Stimmgewirr. Während das Video wieder zurückspulte, schloss Mahmoud die Augen und versuchte sich vorzustellen, was ihn nach seinem Tod erwartete. Er war gläubig, aber ihm war klar, dass keine Vorstellung eines Menschen die Herrlichkeit des Paradieses begreifen konnte. Trotzdem verfiel er immer wieder der Versuchung, aus seinen irdischen Bedürfnissen heraus ein Paradies auszustatten. Lächelnd schlug er die Augen auf, als das Video stoppte. Nur noch einmal wollte er sehen, wie gefasst und bescheiden er sich zu dem Attentat bekannte. Das Attentat sollte morgen früh stattfinden, am Busbahnhof im anderen Teil der Stadt. Mahmoud ließ das Band noch einmal laufen. Letzte Woche hat er es bei einem Freund aufgenommen. Wer es jetzt sah, käme nie auf den Gedanken, dass sie fast zwei Stunden gebraucht hatten um diese wenigen Minuten aufzunehmen. Sein Freund war so alt wie er, fast zwanzig. Bei der Aufnahme ist Mahmoud immer wieder in fast hysterisches Lachen ausgebrochen, als er von seinem freiwilligen Tod für sein Volk sprach. Auch beim Abschied an seine Familie musste er immer wieder neu ansetzten, beim Dank an die Eltern, sogar beim Gedenken an den jüngeren Bruder, den eine verirrte Kugel traf als er auf dem Weg zur Schule war.
Bei der letzten Aufnahme, die sie dann genommen hatten, fühlte er sich erschöpft und leer von der überdrehten Stimmung. So wirkte er während der kurzen Ansprache, die er vor den Revolutionsfahnen hielt gefasst und ernst. Selbst der Aufruf zum Widerstand, den er am Ende der Rede leidenschaftlich herausschrie, wirkte nicht übertrieben.
Nachdem das Band abgelaufen war, starrte Mahmoud noch einige Minuten auf den leeren Bildschirm. Morgen um diese Zeit würde er nicht mehr leben. Der Gedanke ängstigte ihn nicht, er hatte sich lange auf diesen Schritt vorbereitet und in seinem Herz war kein Zögern, keine Angst und kein Mitleid. Weder Mitleid mit sich selber, noch mit den zufälligen Opfern, die er morgen mit in den Tod reißen würde. Mahmoud war kein grausamer Mensch, er respektierte das Leben und in einer normalen Situation, wäre er nie eines Mordes fähig gewesen. Nur ist im Bürgerkrieg nichts normal, er und seine Eltern waren in ihn hineingeboren worden. Wenn er andere tötete, meinte er sie nicht persönlich, sie waren nur Teil eines verhassten, feindlichen Systems, was seinem Bruder und vielen anderen Mitgliedern seiner Familie das Leben gekostet hat. So wie er selbst seinen eigenen Tod nicht persönlich nahm, es war ein selbstverständliches Opfer was der seinem Volk brachte. Was war er denn, nur ein Hautschuppen am Leib seines Volkes. Seine Sorge galt ausschließlich seiner Familie, seine beiden Schwestern waren aus dem Haus, sie hatten schon selber Kinder. Sein jüngerer Bruder starb vor sieben Jahren, seine Mutter hat um ihr jüngstes Kind ein Jahr getrauert. Dann noch ein Jahr, schließlich hatte sie vergessen ihre Trauer zu beenden. Sie trug sie als einen Schutz gegen immer neues Unglück, gegen ein ungewisses Geschick. Seiner Mutter konnte nichts mehr passieren, die Trauer gab ihr Zuflucht. Mahmouds Vater hatte sich dem Schicksal ergeben. Er hatte aufgehört zu kämpfen, er ging seiner Arbeit als Arzt nach und verschloss vor der Welt die Augen. Er half, wo er helfen konnte, wollte aber kein Wort über Politik sprechen. Schon mit zehn, drei Jahre bevor sein Bruder erschossen wurde hatte Mahmoud beschlossen sich dem aktiven Widerstand anzuschließen. Als sein Bruder aber starb, wurde der Beschluss zu einem Gesetzt dem er all sein Handeln unterordnete. Mit sechzehn wurde er, noch ein Schüler, in einer Widerstandsgruppe fest aufgenommen. Nach dem Abitur begann er Medizin zu studieren, obwohl ihm damals schon längst klar war, dass er den Beruf des Arztes nie ausüben würde. Die Entscheidung ein Selbstmordattentat zu verüben, fasste er mit siebzehn. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt grade von seiner Freundin getrennt und seine zweite Schwester heiratete. Damit war er von allen Verpflichtungen befreit. Seitdem hatte er kein Mädchen mehr gehabt, es gab einige flüchtige Bekanntschaften, aber immer wenn eine Beziehung enger zu werden drohte, zog er sich zurück.
Er machte sein Studium ordentlich um seinen Eltern keinen Kummer zu machen und verbrachte seine Freizeit mit den Kameraden aus seiner Gruppe. Es gab immer wieder Zusammenstöße mit dem Feind, seit Jahren schon besaß er eine Waffe. Trotzdem beschränkten sich die meisten Auseinandersetzungen auf das Werfen von Steinen und Brandsätzen, den wäre er auf der Strasse mit einer Waffe gefasst worden, hätte er Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Sein Volk war schwächer als die Unterdrücker, sein Volk wurde im eigenen Land nur geduldet. Alleine der Kampfgeist und die grenzenlose Bereitschaft sich zu opfern, könnte seinem Volk den Sieg bringen. Als er das verstanden hatte, stand für Mahmoud fest, dass er sein kleines Leben für sein Volk opfern würde. Mahmoud war nicht eitel, es ging ihm nicht um Ruhm und Ehre, er sah es als seine Pflicht an.
Als seine Mutter ihn zum Abendessen rief, war er fast eingeschlafen. Während des Essens versuchte er das Bild seiner Eltern, wie sie still und freudlos bei der Mahlzeit saßen, fest in sein Herz einzuprägen. Für sie tat er es, für seine Schwestern, deren Kinder und seinen toten Bruder. Er fühlte sich ruhig und stark.
Später, als alle schon im Bett lagen, sah er sich das Video noch einmal an. Der Ton war abgestellt und er flüsterte in der Dunkelheit die Worte, die er inzwischen auswendig kannte.
Mahmoud verbrachte die Nacht in traumlosem Schlaf und wachte erfrischt vom summen seines Weckers auf. Sorgfältig zog er sich an, den Gürtel mit der Bombe befestigte er mit Heftpflaster so eng wie möglich am Körper. Er trug ein weites, dickes Hemd darüber. Da seine Hose ebenfalls sehr locker saß
dürfte der Wulst um seinen Bauch keinem auffallen. Er war sehr früh aufgestanden, damit der den Busbahnhof erreichte, wenn die Schulbusse abfuhren. Es tat ihm leid, dass er Kinder töten würde, aber sie würden, genau wie er, ins Paradies eingehen. Schließlich waren sie unschuldig an der Politik ihrer Eltern. Auf der anderen Seite war es gut Kinder in den Tod mitzunehmen, ihre Eltern würden sich vielleicht noch eines besseren besinnen, und Mahmouds Volk besser behandeln. Vielleicht würden sie die Verzweiflung erkennen, die einen erwachsenen Mann dazu treibt, Kinder zu töten.
Im Flur traf er seine Mutter, die ihn erstaunt ansah, weil er so früh das Haus verlassen wollte. Gerne hätte er sie zum Abschied umarmt, aber das wäre zu auffällig gewesen. Mütter kennen ihre Söhne. So winkte er ihr nur zu als er die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Um einen geschäftigen Eindruck zu erwecken, hatte er eine Aktentasche mitgenommen und seine Brille aufgesetzt. Als er sich dem Schlagbaum am Ende seines Wohnviertels näherte, begann er tief auszuatmen. Das hatte er beim Sport gelernt, es kam auf das Ausatmen an, einzuatmen war ein Reflex. Ruhig trat er dem Soldaten entgegen und öffnete seine Aktentasche. Wenn sie ihn jetzt entdecken würden, könnte er wahrscheinlich noch einige Meter laufen und die Bombe zünden. Damit würde er vier oder fünf Soldaten töten, aber bestimmt auch jemanden aus seinem Volk. Politisch wäre es allerdings nicht so wirkungsvoll, Soldaten wissen dass sie sterben könne, ihre Eltern wissen es. Der Schock ist viel geringer, als bei einem Bus voller Schulkinder in ihren hübschen Uniformen. Der Soldat unterhielt sich mit einem Kollegen und winkte ihn einfach durch.
Mahmoud fing vor Erleichterung an zu summen, wenn er sich nicht den Fuß brach, würde er es schaffen. Er lächelte bei dem Gedanken sich jetzt den Fuß zu brechen. Er hatte das Haus ohne Frühstück verlassen, als sein Magen anfing zu knurren, sagte er sich lächelnd, dass in einer halben Stunde ihm alle Erquickungen des Paradieses offen stünden. Mahmoud lächelte noch immer als er zum Busbahnhof kam.
Der Rest ging schnell. Er entdeckte einen Bus der schon fast voll war. Alles kleine Mädchen in Uniform. Die Bustüren waren geschlossen, wenn ein Mädchen an die Tür trat, öffnete die sich mit einem Seufzen. Er passte einen Augenblick ab, als ein Mädchen einstieg und drängte sie hinter ihre in den Bus. Der Fahrer sprang auf um ihn zurückzustoßen, aber er war schon oben und klammerte sich an die Haltestange und schwang an ihr in den Gang des Busses. Über ein duzend erschreckter, dunkler Augenpaare waren auf ihn gerichtet, als er sein Hemd öffnete und den Zünder drückte. In dieser Sekunde bemerkte er noch, wie ein Mädchen den Füller fallen ließ, sie war grade dabei gewesen von ihrer Nachbarin abzuschreiben. Das brauchst du nicht mehr war sein letzter Gedanke. Das letzte Bild, was sich bis in die Unendlichkeit in Mahmouds Kopf brannte, zeigte den Hund dem er als Junge mit einem Steinwurf das Auge ausgeschlagen hatte. Der Hund drehte sich qualvoll jaulend und wimmernd im Kreis.
 

Andrea

Mitglied
7 von 10 Punkten

Das Thema ist wirklich kein ganz leichtes. Im Bürgerkrieg gelten andere Gesetze, Krieg verändert die Menschen, das alles mag sein, und obwohl es auf gar keinen Fall eine Entschuldigung sein darf und kann, ist es mitunter eine Erklärung. Ich kann Mahmoud nicht begreifen, weder das bewußte Ermorden von Kindern, obwohl du seine Logik erschreckend verständlich aufzeigst, noch wie man Steine auf einen armen Hund werfen kann.

Du verarbeitest jedenfalls Mahmouds Standpunkt sehr klar und nachvollziehbar, machst ihn menschlich, aber, und damit komme ich zur „handwerklichen“ Kritik, du vollziehst einen Perspektivenwechsel, der dem Leser den Protagonisten im gesamten Mittelteil entrückt. Während du zunächst (und am Ende, also ab dem Abendessen wieder) aus Mahmouds Perspektive erzählst und dadurch seine Anschauungen und Erlebnisse sehr eng an den Leser bringst, gleitest du dann in einen auktorialen „Beschreibungsstil“ ab: Mahmouds Familie und ihre Geschichte werden vorgestellt, sein Werdegang dargestellt, aber nicht in der Gedankenwelt und den Handlungen des Protagonisten, sondern als Vortrag der Autorin. Man springt aus dem Innenleben Mahmouds heraus und landet vor einem Fremden. Besser wäre es, wenn du diese Erkenntnisse dem Leser so mitteilst, wie du es schon vorher getan hast: nämlich aus Mahmouds Sicht heraus. Dann müssen nicht alle Details, nicht jede Entwicklung nachvollzogen werden. Wenn du ihn z.B. zum Abschied durch sein Zimmer blicken läßt, auf Fotos oder andere Erinnerungsstücke ließen sich die Informationen behutsamer einbauen. Der Bruch, der so im Mittelteil entsteht, könnte aufgehoben und die Geschichte noch besser werden.

Nebenbei: ein Text ohne Tippfehler erfreut die Leserschaft nicht unerheblich, da man plötzlich nicht mehr im Lesefluß gestört wird. Aber das wirklich nur nebenbei.. ;)
 
I

innergetic

Gast
Ambiguous

Du greifst ein hochpolitisches Thema auf. ich finde es gut, wie du dich wieder einmal in jemanden hineinversetzt und versuchst, Logik im Wahnsinn zu zeigen.
Der Titel verrrät das Ende. Aber nur wegen dem titel habe ich die Story geklickt.
Rechtschreibfehler, well, nobody's perfeckd.
8von10
 



 
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