Semesterbeginn

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sohalt

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Als ich im Zug nach Graz saß, überfiel mich so etwas wie Euphorie. Eine kleinere, mutwillige Verwandte, die nicht wie die Wahre, die Erhabene, großmächtig auf einen einflutetet, sondern einem hinterrücks ins Genick springt, wie eine Zecke und einen beißt, sich aber nicht festsaugt. Man greift nach hinten und tastet danach, das ist sie aber schon weg und die Frage, was zum Teufel das jetzt wieder war, bleibt ohne befriedigende Antwort. Vielleicht so etwas wie Euphorie. Das ist alles, was sich vermuten lässt. Und doch: Für einen Moment glaubte ich, dass mich das tatsächlich glücklich machen kann, dass mich das immer glücklich machen könnte, diese Rückkehr nach längerer Abwesenheit, so wie man als Kind glaubt, dass einen Weihnachten immer glücklich machen kann.

Noch ist es eher Aufbruch als Heimkehr, und das ist gut, denn ich führe ein Leben allzu arm an Aufbrüchen. Ich führe ein Leben um mich herum, eine Kruste aus wiederholten Situationen. Da müsste mehr aufgebrochen werden, ich müsste öfter aufbrechen. Jetzt ist eine gute Zeit dazu, ein Beginn, das passt zu Aufbrüchen; ich rechne ja immer noch in Schuljahren. Eine solche Zeitrechnung hat den Vorteil, dass der Übergang sanfter ist: Keine überreizte, mit Vorsätzen und Rückblicken überfrachtete Silvesternacht, sondern der friedliche Fluss der Ferien, auf dem man sich erst einmal treiben lassen kann, bevor man das neue Ufer ins Auge fassen muss. Jetzt aber ist das neue Ufer in Sichtweite und ich bin dafür bereit. Ich war noch jedes Mal bereit.

Vor allem die Leute. Wenn man in den Ferien zu wenig unter die Leute geht, wird man ganz ausgehungert nach Menschen.

Es ist allerdings nicht ohne Schrecken, dort anzukommen, wo niemand auf einen wartet. Das heißt nicht, dass es nicht jemanden gibt, der sich durchaus freut, wenn man sich überraschend meldet und genau das ist das erste, was ich tue. Ein paar solcher Telefonate besänftigen den Schrecken.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, zufällig jemanden zu treffen.

Auf der anderen Straßenseite kommt mir M. entgegen. Er lacht mir zu. Hast du Zeit? Klar, hab ich, gegenüber ist auch gleich ein Café. Und ich lass mir also eine halbe Stunde berichten, von M.'s. Husarenstücken, von denen ich letztes Semester live nicht viel mitbekommen habe, weil wir nie die selben Kurse hatten, lasse mir also berichten, wie er sich vier Tage vorher spontan für eine Prüfung angemeldet hat, vor der wir uns alle in die Hose scheißen, und dann nicht einmal durchgefallen ist, von seinem Wahnsinnsprogramm für sein neues Semester und davon, wie er durch Chuzpe und Glück beim Hasardieren auf eine Semesterstundenzahl kommt, von der ich nur träumen kann. Und ich bin nicht so schlecht unterwegs. (Wegen meiner schönen Augen sitzt er mir nicht gegenüber. Netzwerke, Baby!). Ich höre zu und mache an den entsprechende Stellen die passenden Geräusche des Erstaunens und sage Dinge wie: Nein, aber nicht wirklich! Also so was! Du bist mir ja einer. Es ist nicht geheuchelt. Auch nicht mein Lob für seine Effizienz und seine guten Nerven. Wenn sie mit solch kindlicher Kunstlosigkeit eingefordert wird, gewähre ich Bewunderung bereitwillig. Eine halbe Stunde kündet mir M. von seinen Taten, dann muss er zum Friseur und für diese eine halbe Stunde unterhält mich sein Geplauder ganz vorzüglich.

Im Park treffe ich L, die mir winkt. Sie liegt auf einer Decke und lernt für eine Prüfung, die sie im Oktober unbedingt bestehen muss und die ich schon habe. Wir plauschen ein wenig, sie macht mir Platz auf der Decke. Gelegentlich fragt sie mich etwas zum Stoff, wir reden über gemeinsame Bekannte und natürlich wieder über den Stundenplan; sie erzählt mir zwischendurch, dass sie mittlerweile ein bisschen schwarz sieht mit der Liebe, wegen diverser enttäuschender Erfahrungen, dass sie aber doch halbwegs zuversichtlich ist, was ihren Neuen betrifft. Ich erzähle ihr dafür, dass ich von Herzen etwas anderes studieren wollte und jetzt doch sehr zufrieden bin mit meiner Entscheidung. Dann kommen zwei Freunde von ihr vorbei, um sie abzuholen und ich muss eigentlich noch in die Stadt.

Spätestens in einem Monat werde ich wieder befinden, dass mir das im Grunde doch nichts bringt und wenn M. oder L. mir zunicken, werde ich kurz zurücknicken. Aber heute macht es mich glücklich, M. und L. begegnet zu sein.

Und das ist vielleicht der eigentliche Zauber des Semesterbeginnes.
 



 
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