Seniorenweihnacht

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hein

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Seniorenweihnacht



Ein Supermarkt morgens um elf: in der Tür treffen sich zwei ältere Frauen. Die eine ist auf dem Weg nach drinnen und versucht gerade, die Schlaufe des Mundschutzes hinter Ohr, Brille und Hörgerät zu bekommen. Die andere will in die entgegengesetzte Richtung und ist schon in der Tür dabei, sich das störende Utensil vom Gesicht zu reißen. Das scheppern der Einkaufswagen dröhnt durch den ganzen Laden und lenkt die Aufmerksamkeit des Personals und der Einkaufenden für einen Moment vom krampfhaften Abstandhalten ab. Die beiden Damen stört das nicht. Sie sind inzwischen 93 oder 94 (wer will das noch so genau wissen?), kennen sich seit ihrer Zeit beim BDM und haben sich jetzt lange nicht mehr gesehen.

„Moin Meta, dass wir uns auch mal wieder treffen!“

„Ja, Sophie“, entgegnet Meta, „dieses Corona macht einen ganz irre. Man mag ja schon gar nicht mehr vor die Tür gehen. Gleich kommt jemand und guckt dich schief an oder sagt es dir sogar glatt ins Gesicht.“

„Was denn?“

„Na, das man in unserem Alter nicht mehr unter die Menschen soll, weil man doch zu den Risikofaktoren gehört, und das die Zahl der Sterbefälle auch schon so hoch genug wäre.“

Sophie nickt. „Die jungen Leute wissen doch gar nicht was wir alles durchgemacht und überstanden haben. Da ist diese Bakterie doch nur ein Furz!

Als wir beide damals den Haushalt des Ortsgruppenleiters geschmissen haben bis seine Frau dahinterkam, was so alles passierte wenn sie nicht Zuhause war. Und wir danach noch als Hilfsschwestern ins Frontlazarett mussten. Das war was!“

„1956, oder 57?“ Meta runzelt die Stirn. “Ich weiß nicht mehr genau wann mein Heinz mit dem schönen Korb voller Pilze nach Hause kam. Da hat die ganze Familie zwei Tage lang nur gekotzt, und der alte Doktor Petersen ist extra rausgekommen und konnte uns trotzdem nur wenig Hoffnung machen. Das vergesse ich mein Leben nicht!“

So stehen die alten Damen mitten im Eingang, schwelgen in den Katastrophen der Vergangenheit und lassen sich auch von der stetig auf- und zugehenden Automatiktür und der sich mit viel zu wenig Abstand vorbeidrängelnden Kundschaft nicht stören.

Schließlich kommen sie zu den Aktualitäten:

„Was machst du denn dieses Jahr mit Weihnachten? Dieser junge Ministerpräsident ist ja ganz ansehnlich, aber was der da sagt mit nur wenig Besuch und so, nimmst Du das ernst?“, fragt Meta.

Sophie seufzt: „Als ich das gehört habe dachte ich, dieses Jahr wäre es soweit: endlich mal ein Weihnachten für mich ganz alleine! Und was ist: meine Tochter besteht darauf, dass sie wie jedes Jahr mit der ganzen Blase kommt. Angeblich weil ich doch sonst so alleine bin, das wäre doch unzumutbar, und was würden die Nachbarn sagen? Dabei besteht mein dämlicher Schwiegersohn bloß wieder darauf, dass es zu Weihnachten wie immer Rinderbraten geben muss. Und das bekommt die Gertrud einfach nicht hin! Und den Umschlag, den sie von mir immer bekommen, brauchen die auch. Jetzt, wo der Tunichtgut in Rente ist, haben die es wieder ordentlich knapp! Hätten in der Zeit sparen sollen, und nicht jedes Jahr nach Mallorca! Und da dachte man früher mal, mit dem Alter wird die Last mit den Kindern weniger!“

Meta nickt und lächelt: „Ich habe es getan: die Kinder eindeutig auf die Rechtslage hingewiesen und erklärt, wenn nicht alle auf einmal kommen dürfen, dann soll es gerecht zugehen, dann bleiben eben alle zuhause! Ich würde allein schon klarkommen, ich könne ja schon mal fürs Grab üben. Und die Geschenke kommen rechtzeitig mit der Post, das wurde ihnen zugesichert!“

Sophie steht der Neid ins Gesicht geschrieben: „Und was machst Du denn ganz alleine an Heilig Abend?“

„Alleine? Rudolf von Gegenüber kommt zu mir. Er kann kochen, und er hat mir ein Dinner for One versprochen! Mit allem!“

„Rudolf? Der ist doch auch schon 82, oder? Meinst Du, er kann das noch?“

Meta lächelt: „Ja, er kann noch. Das musste er schon zeigen! Denkst Du, ich lasse mir den Abend durch ein unbefriedigendes Ende verderben?“
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hätte meine Oma Lieschen sein können.
Wünsche beiden ein Diner for one - MIT Happy End.
Sehr gerne gelesen!
 
Hallo hein,

echt knuffig.
Besonders bemerkenswert finde ich "hinter Ohr, Brille und Hörgerät". Das muss dann erst mal halten. Und beim Abnehmen nicht alles andere mitreißen ...
Und das Happy End ist richtig süß. Wenn es funktioniert ... ;)

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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