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Mimi

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Vater sitzt am Mahagonitisch in seinem Ledersessel und legt konzentriert die Utensilien nebeneinander, während ich, auf der breiten Lehne des Sessels sitzend, ihm dabei zu sehe.
Ich trage meine blaue Schuluniform, die ich nicht ausstehen kann und meine Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten.
Mit der rechten Hand greift er den Kohlestift, beginn mit geübter Leichtigkeit über das Papier zu gleiten. Es entstehen feine, geschwungene Linien, die er immer wieder mit dem Finger oder Handrücken zu Schattierungen verwischt.
Ich blicke fasziniert auf das Blatt, sehe wie es Strich für Strich zu leben beginnt.
"Warum können wir die Ferien nicht zusammen dort verbringen?", frage ich leise und schmiege meinen Kopf an seine Schulter.
Es vergehen einige Sekunden. Fast fürchte ich, dass Vater mir nicht antworten wird, dann legt er den Stift zur Seite und nimmt mein Gesicht in seine von Kohle verschmierten Hände.
"Mi corazón, ich weiß wie sehr du sie vermisst." Ich liebe den Klang seiner Stimme, wenn er mit mir spricht. Seine Stimme klingt dann immer weich und sanft, fast schon wie eine Melodie.
"Weißt du noch, was ich dir erzählt habe, als wir letzte Woche in Figueres waren?"
In seinem Atem rieche ich den Minzetee, den er nachmittags immer trinkt.
Ich nicke zaghaft, drücke meine Lippen gegen seine Hände, spüre Tränen in meinen Augen aufsteigen.
Natürlich weiß ich es. Vaters Worte prallten unaufhörlich von den Wänden des Museums, an denen all die bunten Gemälde hingen. Sie vermischten sich mit den vielen Farben und flossen über meinen Schädel.
"Das Wesen des Menschen ist ein in sich geschlossenes Universum. Man kann es nicht gegen seinen Willen aufbrechen."
Ich sitz noch lange auf der Sessellehne, auch nach dem Vater längst wieder aus seinem Arbeitszimmer gegangen ist und betrachte die Zeichnung. Mandelaugen blicken mir entgegen. Es sind meine Mandelaugen und gleichzeitig sind sie es nicht.
Vorsichtig fahre ich mit den Fingerspitzen über das Papier, versuche darin eine Pforte zu finden, die mir Einlass gewährt in ein Universum, das sich hinter Mutters Augen verbirgt.
 



 
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