Obigen Hinweis hatte MDS unter die Schreibaufgabe "Singende Zellen" gesetzt, die so beginnt:
Ideen lauern überall
Eigentlich sollten SF-Autoren Wissenschaftsnachrichten abonnieren. Zum einen, um einen Blick dafür zu behalten, was von den "alten Hüten der SF" eben erst ge- oder erfunden wird. Zum anderen aber auch, weil manche putzige Idee in den Meldungen schlummert …
Tatsächlich klingt MDS' Einwand plausibel. Ist er aber nicht. Er geht nämlich von einer – entschuldige bitte das harte Wort, MDS! – laienhaften Vorstellung von SF aus. (Mal ganz abgesehen davon, was so schlimm daran wäre, wenn etwas, was beim Schreiben noch Fiktion war, plötzlich real wäre…)
Erstens: SF betreibt weder Wissenschaft noch Technologie. Das heißt, dass die „Extrapolationen“ sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entweder in Zukünfte wagen, die noch weit entfernt sind, oder usätzliche Annahmen gemacht werden, die es unwahrscheinlich machen, dass dieser Einholeffekt auftritt.
Natürlich kann es passieren, dass, wenn man drei Jahre an einem Buch gebastelt hat, die "Papiercomputer" real sind. (Sie sind es übrigens tatsächlich.) Nur: Eine SF-Geschichte würde sich nicht dafür interessieren, ob Papiercomputer machbar sind, sondern wie es sich auswirkt, wenn sie alltäglich sind. Und ehe das real wird, ist noch (relativ) viel Zeit.
Natürlich könnte das Buch einen Handlungsstrang enthalten, der beschreibt, wie die Protagonisten an der Entwicklung des Papier-Computers arbeiten. Dann sollte der Autor dazu recherchieren – und zwar gezielt und weit über die "Wissenschaftsnachrichten" hinaus.
Natürlich könnte in dem Buch auch der Papiercomputer alltägliche Handwerkszeug sein (, so wie die Replikatortechnik bei Star Trek). Dann aber ist es schnurz, ob diese Idee mit den real schon machbaren Computern „kompatibel" ist – es wurden eben (in der Geschichte vor der Story) einfach noch andere Sachen entdeckt oder entwickelt, die die Story-Technik anders aussehen lässt als die reale.
Und selbst wenn der Aufhol-Effekt eintritt (so wie in der Sparte "Roboter-Geschichten"): SF-Leser (und Leser, die das in jeder {erzählenden} Literatur enthaltene Fiktionale als Wesens-Element der {erzählenden} Literatur bergeifen) wissen um diesen Effekt und werden die Geschichte – wenn sie gut ist – nicht deshalb in die Tonne kloppen, nur weil "echte Roboter" nicht zwangsweise menschenähnlich aussehen. (Abgesehen davon: Gute SF-Autoren schreiben auch so, dass es auch nach Jahren noch egal ist, ob es wirklich eine Zivilisation auf dem Mars gibt – das ist eben das phantastische Element.)
Zweitens: In 99,99 % aller Fälle ist weder der SF-Autor noch der SF-Leser Fachmann für die in der Story "verwendete" Wissenschaft/Technik. Es ist also nicht nur nicht machbar, dass die Story-Wissenschaft/Technik eine "reale Extrapolation" ist, es ist nicht mal nicht nötig (, da der Leser es weder erwartet noch überprüfen kann) – es ist überflüssig (weil es darum in der SF nicht geht) und manchmal sogar störend (, weil es, wenn es veraltet {was heutzutage schneller geht als sonstwas} wie ein stachliger Anachronismus in der Story liegt. Ist es von vornherein ohne Anspruch auf "Realitäts-Kopie" geschrieben, nimmt man es leichter als phantastisches Element wahr.)
Drittens: Niemand kann das Geschehen in den Wissenschaften so komplex und komplett verfolgen wie du da forderst. Nicht mal Fachleute können mehr als einen winzigen Ausschnitt aus ihrer Richtung so komplett und tiefgreifend verfolgen. Wieso also sollt es ein SF-Autor? Wie oben erwähnt: Natürlich muss er gegebenfalls recherchieren – aber das ist was anderes als "die Wissenschaftsnachrichten verfolgen".
Drittens a: Was in den Wissenschaftsnachrichten steht, ist morgen schon alt, in vielen Fällen "nur Theorie" und in vielen anderen Fällen einfach nur eine Entdeckung, deren praktische Bedeutung noch völlig in den Sternen steht. Nur gaaaaanz selten stehen in diesen Nachrichten Dinge, die sozusagen schon vor der technologischen Tür des Alltags stehen…
Viertens und vor allem: "Gute SF" beschreibt nicht, was technisch kommen kann/wird, "gute SF" erzählt Storys und betrachtet den Menschen (in seinen Eigenschaften, Potentialen und seiner Stellung zum "Rest" der Welt).
So wie bei jeder "guten Literatur" wird dazu das Sujet so "gebogen", dass es der Aussage dient, dass man ein Extrem schaffen kann, das das deutlich hervortreten lässt, was im Alltag gewöhnlich untergeht.
Kurz und gut: Die Wissenschaftsnachrichten sind hervorragende Ideen-Spender. Nicht mehr. Wer seine Ideen anderswo herholt – ok. Sie sind auch gut als Recherche-Anfang – aber dazu muss man sie nicht permanent verfolgen.