Horst M. Radmacher
Mitglied
West-Berlin in den frühen Siebzigerjahren. An den Tag, an dem ich dem Kater Urmel zum ersten Mal begegnete, kann ich mich gut erinnern. Es war der gleiche Tag, an dem ich Sibylle erstmals sah. Urmel war damals ihre Hauskatze. Sie lebten beide in häuslicher Gemeinschaft mit Sibylles damaligem Freund, Stefan Kettler, von allen nur “Kette” genannt.
Es war ein Samstagabend im November. Zu dritt kamen wir durchnässt und auch sonst ganz schön lädiert in Kettes Wohnung in der Dieffenbachstraße in Kreuzberg an. Kette führte dort eine Art “Open House”, in dem jeder erstmal willkommen war. Mitbringsel wie Rotwein oder Joints wurden gerne gesehen, waren jedoch nicht zwingend erforderlich. Wir waren zuvor auf einer Demo gewesen, vor dem Amerikahaus in der Hardenbergstraße. AMIS RAUS AUS VIETNAM war das Motto. Dieses Mal war es besonders hart zugegangen. Keiner der Beteiligten war gut drauf gewesen.
Die amerikanische Schutztruppe sowie die zur Unterstützung angeforderte Einheit der Berliner Polizei gingen mit unerwarteter Härte vor. Wir Demonstranten kriegten an dem Tag richtig was auf die Mütze. Wir wehrten uns folglich auch 'körperlicher' als üblich. Wer Glück hatte, wurde nur nass, sei es vom Dauerregen oder von Wasserwerfern, oder aber auch von beiden. Die weniger Glücklichen bekamen zusätzlich noch die Wirkung von Schlagstöcken zu spüren. Wir drei gehörten zur ersten Kategorie.
Kurz nach Betreten der Wohnung in der Dieffenbachstraße, unsere Blicke mussten sich erst durch die Tabak- und Cannabisschwaden bohren, sah ich Kater Urmel. Er hatte Sekunden vorher noch auf einer Lehne der plüschigen Couch gelegen. Nun war er Mittelpunkt eines vielköpfigen Publikums. Nie zuvor hatte ich ein nicht dressiertes Tier in einer solchen Slapstick-Nummer gesehen. Er war bei seinen Versuchen, sich von seinem Platz zu erheben, immer wieder in grotesken, unkatzenartigen Bewegungen eingeknickt. Er schraubte sich unvorstellbar komisch in Richtung Flokati-Teppich. Dort angekommen, rollte er mehr als er ging. Ich hatte nicht den Eindruck, das Tier würde in der Situation leiden, er war wohl einiges gewohnt. Urmel war ganz einfach stoned; er hatte an diesem Tag eine für ihn ungewohnt hohe Dosis Cannabisrauch eingeatmet, weil die Wohnung aufgrund des schlechten Wetters kaum gelüftet worden war.
Bei allem Gejohle, das Gelächter der Anwesenden klang nicht gehässig. Letztendlich war es Sibylle, die ihren Kater in eine gesündere Umgebung brachte.
Aber auch ohne Slapstick-Einlage war es ein zunächst überwiegend lustiger bis alberner Abend. Rotwein und Haschisch können in der richtigen Dosierung eine solche Stimmung immens befeuern. Die Stimmung brach dann aber zwischendurch ein. Das war einem Disput zwischen Sibylle und ihrem Lebensgefährten 'Kette' geschuldet. Dabei traten sie nicht gerade als harmonisches Paar auf - es roch nach Endphase. Nach der Einlage mit dem Kater war die Gesellschaft auf ein bei solchen Partys erstaunlich oft behandeltes Thema gekommen. Es ging wieder einmal in alberner Form um Beerdigungen, bzw. die dort jeweils gewünschte Begleitmusik. Ziemlich skurrile Vorschläge machten die Runde; nicht einmal deutsche Schlager wurden ausgelassen.
Sibylle hatte, wie ich fand, einen annehmbaren Titel ausgewählt: “Seasons in the sun” von Terry Jacks. Ihr Lebensgefährte Stefan Kettler, ein charismatisches, redegewandtes Alphatier mit Hang zum Sarkasmus, wollte sie deswegen verbal fertig machen. Es wäre eine unsäglich sentimentale Mainstream-Schnulze, meinte er, gerade gut genug für Heulsusen. Da habe ich Sibylle das erste und einzige Mal total in Rage erlebt. Sie war vom Wesen her eher sanftmütig. Sie verteidigte ihren Song vehement. Sie schleuderte ihrem Freund entgegen, er solle sich mal genauer mit fremdsprachlichen Texten befassen, er, der nachweisliche Fremdsprachen-Idiot, wie sie ihn nannte. Ihre Erklärung, “Seasons in the sun” sei eine gelungene Adaption des Chansons des belgischen Sängers Jacqus Brel, “ Le Moribond”, ging im Geräuschgetümmel unter. Dass es bei Brels Text keineswegs nur um Rührseligkeit geht, konnte Sibylle aber gezielt bei Kette unterbringen. Der Inhalt von “Le Moribond” handelt vom Abschied einer Ehefrau und deren Liebhaber bezugehemend auf ihr reales Leben. Das rief sie Kette wutschnaubend zu.
Dessen favorisierter Song, “Death of a Clown” von Dave Davies von den Kinks, fand allgemeinen Beifall. Dass der Text dieses melodisch eingängigen Liedes aus ziemlich abstrusen Versen besteht, realisierte kaum jemand. Schon gar nicht Stefan Kettler, der versteht in der Tat nur wenig Englisch. Dieser Abend besiegelte das Ende der Beziehung von Sibylle und Stefan. Einige Wochen später zog sie zu mir in unsere dann gemeinsame Wohnung am Paul-Lincke-Ufer. Den Kater Urmel haben wir mitgenommen.
Die Katze ist seit vielen Jahren tot. Meine Frau Sibylle ist vor knapp fünf Jahren gestorben. Ich lebe seitdem allein. Manchmal sitze ich auf der Bank am Rande des Ruheforsts, den wir uns gemeinsam ausgesucht haben, dicht an der Kante des Steilufers. Vor mir die gleichmäßigen Wellen der Ostsee. Ich ziehe am Joint und meine Traurigkeit macht eine Atempause, alles erscheint schwerelos. Musik aus dem Kopfhörer strömt in mein Ohr. “Seasons in the Sun“ von Terry Jacks. Immer noch ein sentimentaler Song, aber mir tut er unendlich gut.
Es war ein Samstagabend im November. Zu dritt kamen wir durchnässt und auch sonst ganz schön lädiert in Kettes Wohnung in der Dieffenbachstraße in Kreuzberg an. Kette führte dort eine Art “Open House”, in dem jeder erstmal willkommen war. Mitbringsel wie Rotwein oder Joints wurden gerne gesehen, waren jedoch nicht zwingend erforderlich. Wir waren zuvor auf einer Demo gewesen, vor dem Amerikahaus in der Hardenbergstraße. AMIS RAUS AUS VIETNAM war das Motto. Dieses Mal war es besonders hart zugegangen. Keiner der Beteiligten war gut drauf gewesen.
Die amerikanische Schutztruppe sowie die zur Unterstützung angeforderte Einheit der Berliner Polizei gingen mit unerwarteter Härte vor. Wir Demonstranten kriegten an dem Tag richtig was auf die Mütze. Wir wehrten uns folglich auch 'körperlicher' als üblich. Wer Glück hatte, wurde nur nass, sei es vom Dauerregen oder von Wasserwerfern, oder aber auch von beiden. Die weniger Glücklichen bekamen zusätzlich noch die Wirkung von Schlagstöcken zu spüren. Wir drei gehörten zur ersten Kategorie.
Kurz nach Betreten der Wohnung in der Dieffenbachstraße, unsere Blicke mussten sich erst durch die Tabak- und Cannabisschwaden bohren, sah ich Kater Urmel. Er hatte Sekunden vorher noch auf einer Lehne der plüschigen Couch gelegen. Nun war er Mittelpunkt eines vielköpfigen Publikums. Nie zuvor hatte ich ein nicht dressiertes Tier in einer solchen Slapstick-Nummer gesehen. Er war bei seinen Versuchen, sich von seinem Platz zu erheben, immer wieder in grotesken, unkatzenartigen Bewegungen eingeknickt. Er schraubte sich unvorstellbar komisch in Richtung Flokati-Teppich. Dort angekommen, rollte er mehr als er ging. Ich hatte nicht den Eindruck, das Tier würde in der Situation leiden, er war wohl einiges gewohnt. Urmel war ganz einfach stoned; er hatte an diesem Tag eine für ihn ungewohnt hohe Dosis Cannabisrauch eingeatmet, weil die Wohnung aufgrund des schlechten Wetters kaum gelüftet worden war.
Bei allem Gejohle, das Gelächter der Anwesenden klang nicht gehässig. Letztendlich war es Sibylle, die ihren Kater in eine gesündere Umgebung brachte.
Aber auch ohne Slapstick-Einlage war es ein zunächst überwiegend lustiger bis alberner Abend. Rotwein und Haschisch können in der richtigen Dosierung eine solche Stimmung immens befeuern. Die Stimmung brach dann aber zwischendurch ein. Das war einem Disput zwischen Sibylle und ihrem Lebensgefährten 'Kette' geschuldet. Dabei traten sie nicht gerade als harmonisches Paar auf - es roch nach Endphase. Nach der Einlage mit dem Kater war die Gesellschaft auf ein bei solchen Partys erstaunlich oft behandeltes Thema gekommen. Es ging wieder einmal in alberner Form um Beerdigungen, bzw. die dort jeweils gewünschte Begleitmusik. Ziemlich skurrile Vorschläge machten die Runde; nicht einmal deutsche Schlager wurden ausgelassen.
Sibylle hatte, wie ich fand, einen annehmbaren Titel ausgewählt: “Seasons in the sun” von Terry Jacks. Ihr Lebensgefährte Stefan Kettler, ein charismatisches, redegewandtes Alphatier mit Hang zum Sarkasmus, wollte sie deswegen verbal fertig machen. Es wäre eine unsäglich sentimentale Mainstream-Schnulze, meinte er, gerade gut genug für Heulsusen. Da habe ich Sibylle das erste und einzige Mal total in Rage erlebt. Sie war vom Wesen her eher sanftmütig. Sie verteidigte ihren Song vehement. Sie schleuderte ihrem Freund entgegen, er solle sich mal genauer mit fremdsprachlichen Texten befassen, er, der nachweisliche Fremdsprachen-Idiot, wie sie ihn nannte. Ihre Erklärung, “Seasons in the sun” sei eine gelungene Adaption des Chansons des belgischen Sängers Jacqus Brel, “ Le Moribond”, ging im Geräuschgetümmel unter. Dass es bei Brels Text keineswegs nur um Rührseligkeit geht, konnte Sibylle aber gezielt bei Kette unterbringen. Der Inhalt von “Le Moribond” handelt vom Abschied einer Ehefrau und deren Liebhaber bezugehemend auf ihr reales Leben. Das rief sie Kette wutschnaubend zu.
Dessen favorisierter Song, “Death of a Clown” von Dave Davies von den Kinks, fand allgemeinen Beifall. Dass der Text dieses melodisch eingängigen Liedes aus ziemlich abstrusen Versen besteht, realisierte kaum jemand. Schon gar nicht Stefan Kettler, der versteht in der Tat nur wenig Englisch. Dieser Abend besiegelte das Ende der Beziehung von Sibylle und Stefan. Einige Wochen später zog sie zu mir in unsere dann gemeinsame Wohnung am Paul-Lincke-Ufer. Den Kater Urmel haben wir mitgenommen.
Die Katze ist seit vielen Jahren tot. Meine Frau Sibylle ist vor knapp fünf Jahren gestorben. Ich lebe seitdem allein. Manchmal sitze ich auf der Bank am Rande des Ruheforsts, den wir uns gemeinsam ausgesucht haben, dicht an der Kante des Steilufers. Vor mir die gleichmäßigen Wellen der Ostsee. Ich ziehe am Joint und meine Traurigkeit macht eine Atempause, alles erscheint schwerelos. Musik aus dem Kopfhörer strömt in mein Ohr. “Seasons in the Sun“ von Terry Jacks. Immer noch ein sentimentaler Song, aber mir tut er unendlich gut.
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