Sieben Zwerge, eine schöne Prinzessin und das Spieglein an der Wand der ScheinBAR I

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Hagen

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Sieben Zwerge, eine schöne Prinzessin und das Spieglein an der Wand der ScheinBAR

„Schau‘ mal ich habe ein Spieglein mitgebracht“, sagte die Wunderbare Ulrike, als sie wieder mal des Abends zu Cocktailstunde lasziv auf den Hocker glitt. „Übrigends, ich war heute endlich mal wieder bei Fräulein Gerda. – Fräulein Gerda hat mir das Spieglein für die ScheinBAR geschenkt. Wir müssten nur den Rahmen gelegentlich mal etwas nachleimen, weil das Spieglein schon sehr alt ist.“
„Ja, das sieht man. – So, Wunderbare Ulrike, du weißt aber, dass ich eine ausgeprägte Angst vor Spiegeln und Angst vor dem eigenen Spiegelbild, eine sogenannte Spektrophobie, mit mir herumtrage! Aber die versuche ich zu überwinden! – Was möchtest du den gerne mal trinken?“
„Heute hätte ich gerne wieder mal einen ‘Last Exit to Brooklyn‘, meinte die Wunderbare Ulrike.
„Natürlich gerne. Den hatten wir schon lange nicht mehr. – Spieglein, Spieglein an der Wand“, fragte ich das Spieglein bei der Zubereitung des Cocktails, „wer ist die Schönste im ganzen Land?“
„Zweifellos die Wunderbare Ulrike“, antwortete das Spieglein.
„Natürlich. Wer denn auch sonst! – Und wer kreiert die besten Cocktails im ganzen Land?“
„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte das Spieglein, „Fragen stellen die Leute heutzutage! Wir Spieglein haben doch weiß Gott andere Sorgen!“
„Kann ich mir vorstellen“, antwortete ich dem Spieglein, „denn als ehemaliger ‘Homo Technicus‘ und seit ich mit der Wunderbaren Ulrike die ScheinBAR betreibe, und wir ab und zu Billard spielen, ist in mir die Erkenntnis gereift, dass jegliche Materie beseelt ist und nichts anderes im Sinn hat, als bei mir den größtmöglichen Schaden an Physis und Psyche anzurichten.“
„Häh?“, fragte das Spieglein.
Ich wollte mich gerade auf ein interessantes Gespräch mit adäquatem Wortschatz mit dem Spieglein einlassen, denn es wollte mir unbedingt ein Märchen erzählen, an dem es einstmals mitgewirkt hatte, und das heute noch gerne erzählt wird.
„Zudem“, sprach das Spieglein, „kommen in diesem großartigen Märchen sieben Zwerge und eine schöne Prinzessin, fast so schön wie die Wunderbare Ulrike, vor!“
Aber ich hatte Wichtigeres zu tun als mir Märchen anzuhören; - nämlich der Wunderbaren Ulrike ihren ‘Last Exit to Brooklyn‘ zu reichen.
Wir nahmen jeder einen Schluck. Das Spieglein an der Wand nahm dieses mit ausgesprochener Missbilligung zur Kenntnis, lästerte fürchterlich herum, war der Ansicht, dass ich nun sturzbetrunken sei und wollte mir endlich ein glanzvolles Märchen erzählen, an dem es damals mitgearbeitet hatte, und in dem sieben Zwerge sowie eine Prinzessin vorkamen.
„Bitte nicht“, sagte ich, „dass ich sturzbetrunken bin, ist mitnichten der Fall, denn hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen lebt mein Vorbild, ein Kerl namens Henry Charles Bukowski, Jr., der ist tausendmal betrunkener als ich und kann trotzdem gut schreiben!“
„Henry Charles Bukowski, Jr. schreibt auch tausendmal besser als du!“
Ich hängte das Spieglein zu und die Wunderbare Ulrike und ich nahmen noch einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘.
Da schneite plötzlich unser Nachbar, der Balneologe, herein und wollte sich unsere Kettensäge ausleihen. Er hielt uns, während ich ihm, auf seinen Wunsch hin, einen ‘Powerslide‘ zubereitete, einen kleinen Vortrag darüber, wie Eiben mit einer Kettensäge zu beschneiden sind. Irgendwie kam er bei dem Genuss des ‘Powerslide‘ auf Motorräder und erzählte von seiner Honda XL 250, die er in der Garage stehen hatte und gelegentlich zu restaurieren beabsichtigte. ’hätte er günstig bekommen, das Bike. Der Vorbesitzer wusste nicht, dass auf dem rechten Kurbelwellenende ein Zentrifugalölfilter sitzt, der alle 10.000 Kilometer gereinigt werden sollte. Deswegen lief das Bike nicht so recht, und er hatte es abgestoßen.
„Tja, wer weiß sowas‘ schon?“, versuchte ich das Gespräch zu enden. Es gelang mir nicht und es folgte ein Vortrag über die Probleme bei der Ersatzteilbeschaffung für japanische Motorräder, „gar nicht so einfach, gar nicht so einfach!“
Ich zeigte tiefes Mitgefühl, wir tranken unsere Cocktails aus, die Wunderbare Ulrike lieh dem guten Mann unsere Kettensäge nebst Öl und er verabschiedete sich.
Das Spieglein wollte wissen, wo ich solange gesteckt hatte, nachdem ich es abgedeckt und der Wunderbaren Ulrike und mir einen ‘Last Exit to Brooklyn‘ gemixt hatte.
„Ich hatte mit einem Nachbarn ein Fachgespräch über Eiben, Kettensägen und japanische Motorräder“, meinte ich.
„Ach, die Japaner“, sagte das Spieglein mit geringschätzig herabgezogenem unterem Rahmenteil, „die haben außer dem Sake, den schönen Bruce Lee-Filmen und dem Sushi nichts von Bedeutung zustande gebracht!“
„Du vergisst den legendären `Zero-Jäger´, den die Amerikaner dereinst `Zecke´ nannten“, meinte ich und wir nahmen jeder einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘.
„Aber das Sushi ...“
„Ich setze mich jetzt nicht mit dir über Fressereien auseinander“, erklärte ich lautstark und nahm einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘. „Erzähl‘ uns lieber etwas Lustiges, etwas, das ich für meine ScheinBAR-Geschichten gebrauchen kann.“
Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘. „Eine Gute-Nacht-Geschichte zum Beispiel. Die Wunderbare Ulrike und ich wollen nämlich nicht saufen, sondern nur noch diesen Cocktail genießen und dann schlafen gehen!“
Das Spieglein erzählte mir daraufhin ein paar alte Witze, mit denen es selbst aus den Comedys von Markus Krebs geflogen wäre, und kam anschließend mit der lustigen Geschichte eines Typen rüber, der alles studiert hatte, was es zu seiner Zeit so zu studieren gegeben hatte, sich aber immer noch so klug wie zuvor fühlte und sich im Zuge seines Drangs nach dem ultimativen Wissen und Weltbeherrschung mit satanischen Mächten verband, denen er seine Seele auslieferte.
„Meiner Ansicht nach überhaupt nicht der Stoff für ein Märchen!“, bemerkte ich. „Zu flach, zu wenig Aktion, überhaupt zu dumm!“
Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘, die Wunderbare Ulrike auch.
Das Spieglein indes wollte plötzlich wissen, warum die Amerikaner den Zero-Jäger Zecke genannt hatten.
„Das“, sagte die Wunderbare Ulrike zu mir und nahm wieder einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘, „musst du doch wissen, weil du dich für historische Flugzeuge interessierst!“
„Weil die Mitsubishi A6M Typ Null, ein trägergestütztes Jagdflugzeug das von den Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräften während des Zweiten Weltkriegs eingesetzt und von den Amerikanern ‘Zecke‘ wurde. Die ‘Zecke‘ ließ sich im Kurvenkampf schwer abschütteln“, sagte ich, nahm einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘ und entschloss mich, ein Märchen zu schreiben. Die Hauptidentifikationsfigur dieses Märchens sollte eine Zecke sein, und zwar eine Zecke, die selbständig denken konnte und dafür im Verlauf des Märchens einen goldenen Hintern bekam, weil den meisten klassischen Märchengestalten etwas Goldenes anhaftet. Zudem sind Zecken in Märchen deutlich unterrepräsentiert.
Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘.
Das erzählte ich dem Spieglein, aber es meinte, ich sollte lieber ein Märchen mit einem Elch schreiben, weil das Image der Elche seit dem legendären Elchtest derzeit arg gelitten hätte.
Ich hoffte, dass dieser Elch an mir vorüber gehen möge und erinnerte das Spieglein an das Märchens von der Gans mit den goldenen Federn, die goldene Eier legte, was heute auch noch gern erzählt wird.
Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘, und die Wunderbare Ulrike äußerte die Vermutung, dass die goldenen Eier und alles goldene im Märchen nur symbolisch für geistiges Gut stehen.
„Und dann“, sprach die Wunderbare Ulrike und nahm auch einen ‘Last Exit to Brooklyn‘, „ist da ja auch noch die Sache mit der Moral! Das hast du dir sicher so vorgestellt, dass der Protagonist also die Zecke, für selbständiges Denken irgendwie belohnt wird, zum Beispiel mit einem goldenen Hintern.“ Die Wunderbare Ulrike grinste und trank Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘. „Das wäre mal was ganz Neues!“
Das konnte das Spieglein überhaupt nicht einsehen und von einer Zecke mit einem goldenen Hintern hatte es noch nie was gehört und überhaupt wäre selbständiges Denken im richtigen Leben nur hinderlich.
„Folglich“, sprach das Spieglein, „ist das völliger Quatsch! In einem Märchen müssen Feen vorkommen und eine schöne Prinzessin! Prinzessinnen sind in Märchen immer schön, und die sind auch niemals betrunken! Und eine Liebesgeschichte muss darin vorkommen! – Ich habe mal an einem Märchen mitgearbeitet, in dem sogar sieben Zwerge vorkommen, das wird heute noch gern erzählt!“
Ich versprach dem Spieglein, Feen und eine schöne Prinzessin, schön wie die Wunderbare Ulrike, die auch niemals betrunken ist, in meinem Märchen vorkommen zu lassen. Ich hängte das Spieglein wieder zu und nahm noch einen Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘.
„Wir sollten“, sprach die Wunderbare Ulrike und nahm den letzten Schluck ‘Last Exit to Brooklyn‘, „nunmehr ins Bett gehen und das Spieglein fortan zu unserer Cocktailstunde stets zuhängen! Fräulein Gerda hat nämlich gesagt, das es dem Betrachter immer andere Gesichter zeigt, wenn es sauer ist! Es kann also sein, dass dir das Spieglein im Falle eines Falles nicht dein Gesicht zeigt, sondern das von August Düsenberg.“
„Hoffentlich zeigt es mir dann nicht irgendwann das Gesicht Rudolf Pleil, genannt ‘Der Totmacher‘. Pleil war nämlich ein deutscher Serienmörder, der mindestens 10, nach eigenen Angaben 25 Morde verübte! Ich darf dich an meine Spektrophobie erinnern“, meinte ich und trank meinen ‘Last Exit to Brooklyn‘ auch aus.

Für den geneigten Leser, den die Cocktails interessieren,
die in dieser wahren Geschichte vorkommen:

Last Exit to Brooklyn
2 cl Cointreau
2 cl Sherry dry
4 cl Granatapfelsaft
Auffüllen mit Lift
1 Spritzer Limettensaft
2 Eiswürfel
Deco Cocktailkirsche

Powerslide
1 cl Gin
2 cl Amaretto
2 cl Fernet Branca
2 cl Granatapfelsaft
Eis
Deco Zitronenscheibe
 

Klaus K.

Mitglied
Hagen, hier mal ein Kompliment zur Abwechslung.
(Aus meiner beliebten Reihe "Zwei Minuten nur, fertig ist die Weltliteratur")


In Haselünne, nah der Ems, da steht ein Haus
da kommen kleine Tabakwölkchen raus
Drinnen sitzen zwei an einer Bar
Er ganz vertieft ins Schreibwerk, ist doch klar
Sie, mit Argusaugen, ist das alles wahr?
Das Ganze ist ein Versuchslabor
für Cocktails, Lesespaß und Rauch
Eine Manufaktur für Niveau und Stil
sehr gut, denn davon fehlt im Land gar viel.

Gruß, Klaus
 

Hagen

Mitglied
Hallo Klaus,
Danke für das Kompliment und die vielen Sterne.
Zudem frage ich höflich an, ob ich dieses exobitante Gedicht wohl mal in einer meiner nächsten Geschichten, selbstverständlich unter Hinweis auf Dich, verwenden darf, damit die geneigten Leser der Leselupe endlich mal mit gehobener, anspruchsvoller Lit(t)eratur in Berührung kommen.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter und das Übliche!
Herzlichst
Yours Hagen
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Ein Mensch muß sein Hobby schon sehr schätzen, wenn er es ohne Hoffnung auf Ruhm und Geld ausübt,
ja sogar ohne jede Chance, es medienwirksam zu machen.“
Gilbert Keith Chesterton​
 



 
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