Sigurd Stähling und die Adoleszenz

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Wir hatten alles im Blick, wenn auch nicht wirklich unter Kontrolle. Am Anfang der Oberstufe hatte ich mich neben Ulrich setzen dürfen, in die letzte Bank der Fensterreihe. Ulrich, unser Klassensprecher, war so smart, dass man ihn fast schon für hübsch halten konnte. Er sollte es später einmal bis zum Oberst bringen. Noch saß er ganz hinten am Fenster, wie auf einem Feldherrnhügel in der Ebene. Neben ihm am Gang sitzend beschlich mich das unklare Gefühl, ich sollte ihn weniger häufig anschauen. Er hatte schon seine eigenen Feststellungen getroffen, mich betreffend. „Du streichst dir so oft mit den Händen über die Haare, da hinten“, sagte er, „was soll das?“ Er ahmte meine Gebärde am eigenen Hinterkopf nach, besorgt lächelnd. Was fürchtete er für mich? Ich fühlte mich schuldbewusst, ohne zu wissen weswegen. Mein Haar war doch wie Putzwolle, widerborstige dunkle Locken, sein milchkaffeebrauner Schopf dagegen kürzer und glatt. Maniküre war ihm schon wichtig, darin war er mir voraus, überlegen. In den Stunden wagte ich ihn nur noch verstohlen von der Seite zu betrachten.
In der Bank vor uns saßen Sigurd und Franz. Sigurd Stähling anzuschauen, erfüllte mich anfangs mit Widerwillen, so hässlich war er. Äußerlich schien er ein mickriges Jüngelchen, unterentwickelt und doch wie vor der Zeit gealtert; schmalbrüstig, mit länglichem, unten spitz zulaufendem Gesicht und fliehendem Kinn, der Schädel auch hinten verformt. Sein magerer, rachitisch wirkender Körper wollte ihn zum gebückten Gang verleiten, doch er stemmte oder vielmehr klemmte sich dagegen, mit versteiftem Rücken und kleinen, sehr um Würde bemühten Schritten. Seine braunen Augen wirkten geistvoll, das Timbre der Baritonstimme war angenehm. In dem Stadtviertel, in dem Stählings wohnten, lebte damals eine Großtante von mir. Ich horchte Tante Klara aus und erfuhr, Sigurd war ein Zwillingskind und die Geburt so kompliziert verlaufen, dass sein Bruder dabei gestorben war und er selbst nur gerade am Leben geblieben. Er war wie ich selbst Einzelkind.
Der stämmige Franz spielte vor den anderen gern den Proleten, den Anti-Intellektuellen, den Quälgeist. Sigurds Martyrium fand in den Minuten statt, wenn alle schon saßen und auf den Lehrer und den Beginn der Stunde warteten. Franz rückte dem Nachbarn nahe, fuhr ihn mit Stentorstimme an: „Du Homo, du!“ Er gab ihm Knüffe in die Flanke. Sigurd versuchte, zur Seite auszuweichen. „Lass das, hör doch auf“, zischte er. - „Was hast du gesagt: höher rauf?“ Franz zwickte ihn in den Oberarm. – „Aua, nicht doch, lass …!“ – War es ein Spiel, ein Ritual, das mich da abstieß und zugleich faszinierte? Keiner hatte die beiden zusammengesetzt, sie hatten es selbst gewollt. Franz trug Kaufhausklamotten im Military-Stil. Er fing schon an, etwas üppig zu werden. Dieses schwellend Zuchtlose an ihm stach mir in die Augen und darüber erschrak ich, sah dann rasch zu dem schlanken, adretten Ulrich hinüber. Er und Franz palaverten oft scheinbar freundschaftlich in den Pausen, aber Ulrich duckte Franz immer wieder. Er ließ ihn körperlich nicht an sich heran, nannte ihn faul und einen Blödmann.
Königlicher amüsierte Ulrich sich nie, als wenn Franz auf Sigurd einhackte: „Du Homo, du!“ Der sonst so kühle, disziplinierte Ulrich lachte, brüllte, bog sich vor Vergnügen. Franz genoss den Applaus und führte das Stück beinahe täglich vor uns auf. Mir war Ulrichs Verwandlung dabei unheimlich. Ich sprach Sigurd darauf an: „Stopp doch diesen Quatsch, bei dem für keinen was Gutes rauskommt.“ – „Was soll ich denn machen, so ist er halt …“
Sigurd war jetzt mein Hauptgesprächspartner. Mit ihm oft und lange zu reden, brachte mich weiter. Er las schon Nietzsche und Schopenhauer und ärgerte den Deutschlehrer damit, dass er in seinen Aufsätzen den ironischen Stil Thomas Manns nachahmte, ohne Rücksicht auf das Thema, von dem er dabei weit ab- und daher selten über ein Ausreichend hinauskam. Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, doch Sigurd war – in einer überwiegend evangelisch bis atheistischen Stadt – katholisch getauft und erzogen worden. Darüber beklagte er sich bei mir: „Die Rituale, mit denen sie dich prägen, die wirst du im Leben nicht mehr los.“ Das Verhältnis zu den Eltern war für uns beide problematisch. Als ich feststellte, es fehle daheim insofern die Basis, entgegnete er: „Wo keine Basis ist, da braucht man keine.“ Ich besuchte ihn einmal zu Hause, es war schmucklos, freudlos, beengt, niederdrückend.
Er war eine auffallende Erscheinung, mehr noch als in der Klasse auf den Korridoren, im Schulhof oder in der Stadt draußen. Kein zweiter Schüler war wie er gekleidet. Er trug als einziger Tag für Tag einen schwarzen Anzug mit weißem Einstecktuch, schwarze Halbschuhe und über weißem Oberhemd stets dieselbe dezent hellgrau gemusterte Krawatte. Immer dabei: die schwarze Miniaktentasche und ein dazu passender Regenschirm. Er vertraute mir einen Herzenswunsch an: eines Tages mit Melone zu erscheinen. Damals trug er auch konservative Gesinnung. Als ich mit ihm über einen Koalitionsbruch reden wollte, entschuldigte er sich: Von heutiger Politik verstehe er nichts. Zu den Büchern, von denen er sprach, gehörte Felix Rexhausens „Lavendelschwert“. Davon erzählte er nur recht allgemein, behaglich schmunzelnd, ohne zum Kern zu kommen: „Sehr amüsant. Eben eine deutsche Revolution.“ Den satirischen Roman über den Aufstand der Hundertfünfundsiebziger las ich selbst erst viel später.
Das Abitur stand bevor. Ich harmonierte geistig mit Sigurd, fühlte mich physisch von Franz angezogen und beschloss wider alle Vernunft, dass ich meinen Roman, wie bei Proust der Erzähler es bezogen auf Albertine sich vornimmt, eben mit Ulrich haben wollte. Daraus wurde indessen nur eine wenig ergiebige Kurzgeschichte.

Sigurd und ich, wir schrieben uns nach der Schule auf mein Betreiben an der Universität von *** ein. Bald erkannte ich, meine Berufs- und Studienwahl war falsch gewesen. Mein Vater zwang mich, wenigstens bis zum Ende des Semesters auszuharren. Bis dahin hatte ich noch Gelegenheit, Sigurds Verwandlungen aus der Nähe mit anzusehen. Er radikalisierte sich rasch und wechselte mit der Gesinnung auch seine Kostümierung. Aus dem Londoner Börsenmakler wurde ein deutscher Hippie, der sich in schlabberige rote oder grüne Wollsachen hüllte. Gern zitierte er jetzt den Apostel Paulus: den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche sein.
Mein Musterungstermin nahte und ich hoffte, für untauglich befunden zu werden. Von einem Mittel dazu hatte ich bei Thomas Mann gelesen: sich für homosexuell zu erklären. Ich wandte mich um Rat an Sigurd und gestand ihm als Erstem überhaupt, dass ich schwul sei. Er schien anfangs unangenehm berührt, runzelte die Stirn und antwortete in ungewohnt trockenem, unpersönlichem Ton, als wären wir Fremde füreinander. Er riet mir, diesen Notausgang nur im äußersten Fall zu nehmen. Abschließend sagte er noch, jeder Homosexuelle müsse sich über seine Rolle selbst klar werden. War das nun eine diskrete Offenbarung oder nicht?
Nach diesem Semester wohnten wir in verschiedenen Städten, besuchten uns gelegentlich und schrieben einander Briefe. In einem der ersten gab er erneut einen Lesetipp. Martyn Goffs „Der jüngste Herr im Vorstand“ werde zur Erhellung Deiner Lage Unschätzbares leisten, schrieb er. Er selbst lese gerade Osbornes „Ein Patriot für mich“. Daneben fand sich eine Liste toter Schriftsteller, deren Biographien er sich, ohne es zu begründen, sämtlich bald anschaffen wolle: Arthur Rimbaud, Paul Verlaine, André Gide, Oscar Wilde, Stefan George, Alexander von Humboldt, Marcel Proust, René de Chateaubriand, Hans-Christian Andersen … Es war leicht, die Schrift auf der unsichtbaren Banderole zu entziffern: Homosexualität in der Literatur. Nur bei Chateaubriand hatte er sich vertan, glaube ich. Mich ärgerte dieses literarische Maskenspiel. Ich wollte ihn provozieren, konstruierte in meiner Antwort den Gegensatz von intellektuell – das sei er – und sinnlich: wäre ich gern gewesen. Er verstand mich gut und zeigte in seiner Antwort, wie verletzt er war.
Bei der Musterung gelang mir tatsächlich, aufgrund von Homosexualität für untauglich erklärt zu werden. Ich wollte ein bisschen stolz auf mich sein, aber Sigurd meinte, so ein Coming-out sei doch ein Fehler. Das würde sich zeigen, falls man später einmal im öffentlichen Leben eine Rolle spielen wolle.
Einige Zeit später wechselte er das Studienfach, an die Stelle von Psychologie trat jetzt Soziologie. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund löste sich auf und Sigurd fand Anschluss an eine marxistische Splittergruppe. Sie war aus seiner Sicht ideal – einerseits radikal, andererseits auch etwas feingeistig und mit Geldmitteln unklarer Herkunft versehen. Sie schickten ihn zu Kursen ins westliche Ausland, er stieg bis in den Führungszirkel auf. Er schrieb auch für ihre Zeitung und erklärte mir, faktisch habe er aufgehört zu studieren, er sei jetzt Berufsrevolutionär.

Damals lebte ich schon in Berlin. Bei Sigurds erstem Besuch dort war seine Aufmachung nicht mehr extravagant, er trug jetzt schlichte Alltagssachen, als er mich spontan von der Arbeit abholte. Den Abend verbrachten wir anfangs auf einem Teach-in in der Technischen Universität, dann führte ich den stumm Widerstrebenden in die schwule Disco, in der ich damals verkehrte. Ich wurde enttäuscht, im Lokal zeigte er keinerlei Reaktion auf die Umgebung. Obwohl in dieser Welt selbst noch nicht wirklich angekommen, wollte ich doch in ihm den bornierten Provinzler sehen, der blind durch Berlin lief. Er hat weder Gespür für Atmosphäre, sagte ich mir, noch für das wirkliche Leben. Die Menschen auf den Straßen und Plätzen, er scheint sie kaum zu sehen, er atmet nur die dünne Luft von Bibliotheken, Seminaren, Buchläden und kleinen linken Zirkeln. Besonders enttäuschte er mich dadurch, dass er auch auf intellektuellem Gebiet nicht mehr so glänzte wie früher. Er schien mir theoretisch schwach und leicht angreifbar. Aber mich reizten oberflächliche Streitgespräche nicht mehr.
Vielleicht hatte ich mich getäuscht … Als er einige Abende später wieder kam, war er gerade auf einer Kudamm-Demonstration gewesen und hatte dabei, wie er mit halb unterdrückter Befriedigung berichtete, ein eindeutiges Angebot erhalten. Aber er war doch nicht mit dem Jungen auf dessen Zimmer gegangen - und ich verstand nicht einmal, wie überhaupt einer Sigurds Körper begehren konnte.
Später in diesem Jahr trafen wir uns, als wir wieder einmal in der Heimat zu Besuch waren. Wir gingen im Wald spazieren und erörterten literarische Pläne. Über meine äußerte sich Sigurd im Ganzen wohlwollend. Nur sagte er, er vermisse dabei das Anliegen. Dass einer ohne ein solches schreiben und dabei nur sein Lebensgefühl ausdrücken will, konnte er nicht akzeptieren. „Wir gehören halt zwei verschiedenen Epochen an“, sagte er, „du einer untergehenden, ich einer gerade beginnenden.“
Wir kamen an einem Ausflugslokal vorbei, auf das ich ihn hinwies: da sei ich mal mit Ulrich gewesen. – „Und, hörst du noch etwas von ihm?“ – „Nein, schon lange nicht mehr.“ Nach Franz fragte ich gar nicht erst.

Einige Monate darauf besuchte er mich ein zweites Mal in Berlin. Es war Freitagabend und nach einer Woche Büroarbeit zog es mich in die Bars. Da stand plötzlich Sigurd vor der Tür meines Apartments. Er sei schon eine Woche in der Stadt, habe meine Telefonnummer verloren und sei in Arbeit versackt. „Wir sind dabei, auch hier eine Gruppe aufzubauen, das ist schwer in so einem politisierten Milieu. Nach einem Seminar in der FU planen wir nun eine Großveranstaltung in der TU, im Audimax.“ Er nannte zwei, drei Namen von Männern, die Vorträge halten sollten. Er hielt sie für sehr bedeutend, wenn sie der Öffentlichkeit auch kaum bekannt waren.
Er wollte nur kurz mit mir sprechen und den Nachtzug nach Frankfurt nehmen. Ich überredete ihn ohne viel Mühe, erst am nächsten Morgen zu fahren und die Nacht in meiner Gesellschaft zu verbringen. Dann führte ich ihn wieder in meine Lieblingslokale. Er fiel kaum noch auf, so unscheinbar wie er sich nun kleidete. Oder fiel er gerade dadurch auf? Noch nie habe er derart überfüllte Kneipen gesehen, sagte er; es klang neutral. Da kam Rupert Danziger in die Bar und mir gerade recht: Er war Schauspieler, Regisseur, intellektuell, die beiden würden sich gut unterhalten können. Ich stellte sie einander vor, aber Rupert, mein neuer Mentor, glänzte diesmal nicht. Er habe drei Tage und Nächte tanzend durchgemacht und fühle sich dem Zusammenbruch nahe. „Ich bin schon so müde, dass ich nicht einmal mehr schlafen kann …“ Sigurd versuchte dazu ein Lächeln, schwieg. Rupert zog weiter.
Jetzt ging ein schlanker junger Mann mit Römerkopf vorbei, der mich beinahe feindselig anstarrte. Sigurds Miene schien fragend. Ich sagte, das sei mein Dämon. „Er ist Koch, er fasziniert mich. Ich habe ein paar Mal mit ihm zu reden versucht, es war nicht an ihn heranzukommen. Und doch sind wir seitdem aufeinander fixiert, irgendwie … Was soll ich tun? Bist du nicht mal Psychologe gewesen?“ – „Ja, gewesen, das ist nicht mehr mein Fach. Und ich kann dir dazu nichts sagen.“
Wir versanken in anhaltendes Schweigen. Ich begann mir vorzuwerfen, ihn über Nacht dabehalten zu haben. War ich denn so viel besser als Franz damals mit seinem „Du Homo, du“? Welcher Dämon trieb mich zum zweiten Mal, ihn in eine Szene einzuführen, die er selbst bewusst mied? Aber er hatte mich wegen meiner Lebensführung in seinen Briefen kritisiert, hatte von gepflegter Abartigkeit geschrieben. Ich erinnerte mich und mein Groll war wieder da.
Wir kamen gegen drei Uhr morgens bei mir an. Es waren noch vier Stunden herumzubringen. Mein Apartment war so klein, dass nicht zwei gleichzeitig sich niederlegen konnten. Also blieben wir auf und stritten uns. Er begann mit Eindrücken von einem Kursus in Frankreich im Sommer davor. Da war eine deutsche Genossin gewesen, ihr Vater sei Chefredakteur in Frankfurt. „Die Auflage geht in die Millionen und er residiert in einem Hochhaus.“ – „So schön kann Sozialismus sein …“ – „Nur auf die Effektivität kommt es an.“ – „Genau, und die Frage solltest du dir auch mal vorlegen.“ – „Ich weiß, dich hat noch nie etwas überzeugt von dem, was ich tue.“ – „In der Tat. Von proletarischer Revolution dauernd reden, aber keine Ahnung von Proletariern haben …“ – „Woher beziehst du eigentlich deine kleinbürgerlichen Vorstellungen, auch Studenten schaffen Mehrwert, den sie verkaufen müssen, sind also Proletarier.“ – „Alle Studenten sind Proletarier?! Lachhaft. Ich habe jeden Tag im Büro mit echten Arbeitern und kleinen Angestellten zu tun, am Telefon oder persönlich. Ich weiß, was sie verdienen, wie sie arbeiten, weshalb sie gekündigt werden. Du aber treibst Theorie ohne Basis und obendrauf packst du dann noch Praxis. Das kann nur scheitern.“
Er sagte, wir sollten nicht weiter auf diese Art diskutieren. Wir litten an gebrochener Kommunikation, könnten uns einander nicht mehr mitteilen. Er monologisierte zwanzig Minuten und legte mir dar, was ihn antreibe und worin unsere Differenzen begründet lägen.
„Wenn Leute wie ich Rechenschaft über ihr Tun ablegen sollen“, begann er, „und das nicht mit Hinweis auf äußere Erfordernisse dieses oder jenes Sachverhaltes tun können, bekommt man meist unzureichende Antworten. Ich für meinen Teil habe die Erfahrung gemacht, daß sich dabei ein Selbstbewußtsein manifestiert, das sich im wesentlichen bestimmen läßt als die Erkenntnis der konstituierenden Bedeutung des Gesamtprozesses für die Rolle des Subjekts, es ist das historische Bewusstsein …“ - er betonte es, machte eine kleine Pause und fuhr fort: - „Die vulgäre Existenzbestimmung als einer unmittelbaren gibt niemals Raum für die Erkenntnis ihrer eigenen Bedingungen. Sie geht aus vom einfachen Sich-selbst-gegeben-Sein und verharrt auf der Stufe dieser Unmittelbarkeit; dies ist das ahistorische Bewusstsein“, - er nickte bedeutsam und wiederholte sich: -, „das ahistorische Bewusstsein also, das, indem es seine Existenzbedingungen wesentlich als Produkte seines Wollens sieht, die Bedeutung seiner eigenen Existenz nur aus sich selber zu geben vermag. Damit muß ihm seine eigene Wesenheit fremd bleiben, denn diese ist vom Ganzen her bestimmt. Die vulgäre Bestimmung der Existenz gibt sich allzu bescheiden, sie hat nicht den Anspruch, integrierender und damit konstituierender Bestandteil des Ganzen zu sein. Indem sie ihre Bestimmung an sich selber zu verwirklichen sucht, bringt sie es fertig, von der Tatsache zu abstrahieren, daß sich die eigene Lebensbewegung nur inmitten der Gesamtbewegung vollzieht und setzt sich damit absolut. So erweist sie sich als eitle Sackgasse …“
Das ging noch eine Weile so fort, dann brachte ich ihn zum Bahnhof Zoo.
Hatte ich seine Suada mitstenografiert? Natürlich nicht. Er bekam zwei Wochen später einen ruppigen Brief von mir und antwortete postwendend, indem er mir noch einmal ausführlich darlegte, wie er mit dem Weltgeist sei und ich eben Bewohner einer - eitlen Sackgasse. Ich erkannte fast alles wörtlich wieder. Er hatte es wie auswendig gelernt herunterspulen können, so dass ich die Briefstelle heute als Redezitat verwenden kann.
Viel mehr als dieser Hauptteil trafen mich Anfang und Ende seines Schreibens. Es begann so: „Ich habe mich in unseren Beziehungen niemals über einen Mangel an Zynismus beklagen können; das hatte seine Gründe und ich habe das akzeptiert …“ und schloss damit: „Daß Du verschiedene Wunden mit Ätze ausgewaschen hast - im Sinne der Hygiene wird dies niemand verurteilen können! Hygiene aber findet ihren Sinn erst in der Therapie.“
Da ich ihm nicht helfen konnte, beließ ich ihm das Schlusswort. Er verschwand für mich im Dunkel der Zeitgeschichte.
 
Danke, Ji Rina, für die sehr freundliche Benotung. Ja, der Stoff und der zeitgeschichtliche Hintergrund, sie sind tatsächlich komplex. Sigurd ist ein bisschen tragisch. Er fühlt sich als Speerspitze des Fortschritts und ist in einem wesentlichen Teil des Kerns seiner Identität hinter dem sich entwickelnden Gruppenbewusstsein zurückgeblieben. Vielleicht ist er ängstlich aufgrund seiner mangelnden physischen Attraktivität? Was Sexualität angeht, entsprechen seine Einstellung und sein Verhalten eher der Zeit um 1960 als der seinerzeitigen Gegenwart um 1970. Diese Tatsache verschleiert er vor sich selbst mit einer gerade damals in Blüte stehenden Ideologie.

Schönen Ostergruß aus Berlin
Arno Abendschön
 
Danke, Delfine, für die Einschätzung. Wenn man bedenkt, wie gut abgehangen = uralt der erzählte Stoff ist ... Ich wollte erst SDS im Text schreiben und dann fürchtete ich, viele würden mit der Abkürzung nichts mehr anfangen können, entschloss mich daher zum Ausschreiben, obwohl ich das an der Stelle stilistisch nicht gut finde.

Freundlichen Abendgruß
Arno
 
. wie gut abgehangen = uralt der erzählte Stoff ist ...
Hallo Arno,

wie alt ein Stoff ist, spielt doch keine Rolle, wenn er gut erzählt ist :) ich persönlich mag Geschichten aus länger zurückliegender Zeit sehr gerne. SDS wäre mir allerdings abgekürzt kein Begriff gewesen, daher gut so gemacht.

LG SilberneDelfine
 



 
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