Silberstreifen

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Silberstreifen

Mama war sehr wütend, als sie die Erdkrumen entdeckt hatte. »Willst du dich zum Ziel machen?«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach, stand bloß da und sah zu, wie sie den trockenen Schmutz aufkehrte.
»Wie die Leute, die für ein paar Rüben von Zügen springen? Die von Scharfschützen oder Tieffliegern erschossen werden!« Mama weinte und ich schüttelte den Kopf, versprach ihr alles, was sie von mir verlangte.
Obwohl ich keiner von den Leuten war, wusste ich sie zu täuschen. Ich schlich erst aus dem Haus, wenn sie eingeschlafen war, und befreite mich von Schuhen und Strümpfen, bevor ich den Acker betrat.

Die Stoppeln kitzelten unter meinen nackten Füßen. Ich stapfte los. Es war wichtig, der Erste zu sein, Fritz und Karl konnten jeden Moment hinzustoßen, wohnten nur ein paar Straßen weiter.
Am Rande der Gleise lag das, was ich suchte. Verstreut, wild durcheinander, – so wie der Wind es dorthin getragen hatte. Selbst in stockfinsteren Nächten funkelte und glitzerte es. Stark reflektierend, das einzig Sichtbare. Ich kam näher und hielt die Hand vor dem Mund, riss die Augen auf. Hunderte, nein, Tausende, vielleicht Zehntausende. In verschiedenen Längen und Formen. Ich begann die Schätze aufzuklauben. Fritz und Karl würden mir ihre seltensten Stücke anbieten, um einige der heute besonders schönen Silberstreifen abzubekommen.

oOo​

Nächte zuvor hatte ich zum ersten Mal gesehen, wie Flieger lamettaähnliches Gebilde abwarfen, einem Vorhang gleich, der sich langsam dem Boden näherte, sich über Wiesen, Felder und Äcker ausbreitete. Als Ruhe eingekehrt war, lief ich aufs Feld und sammelte einige der Streifen ein.
Am nächsten Tag, ich betrachtete gerade meinen Fund im Sonnenlicht, kamen Fritz und Karl auf mich zu. „Was hast du denn da? Gib her!“, verlangte Fritz.
Da die beiden Brüder mich, den Kleinsten in der Schule, immer geärgert hatten, gab ich ihnen welche ab, bevor sie mir alle wegnahmen.
„Wenn du uns sagst, wo du sie herhast, lassen wir dich in Ruhe“, versprach Fritz.
„Gut, kommt mit.“

Nach dem Aufsammeln der restlichen Streifen trafen wir auf der Straße den Opa der Brüder, der mit einer Stange im Schutt herumstocherte. Unseren Fund hatten wir in den Hosen versteckt, aber ein Silberstreifen hing aus Karls Tasche. Der Alte zog ihn heraus. »Papier«, murmelte er, das Teil mit seinen dünnen Fingern betastend. »Hm, … Stanniol. Eine Aluminiumschicht.«
Verdutzt schauten wir drei uns an, während der Alte blinzelnd aufsah. »Von wo habt ihr es? Gibts davon noch mehr?«
»Nein, das war der Einzige, den wir im Gebüsch gefunden haben«, log Karl.

Seitdem nahmen wir keinen einzigen der Silberstreifen, die wohl wertvoll sein mussten, mit nach Hause. Fritz besaß den Schlüssel für das abgelegene Gartenhäuschen auf dem ehemaligen Schürmann-Hof, wo wir unsere Sammlungen fortan deponierten. Anfangs war ich skeptisch, hatte Angst, dass sie mich betrügen würden, und ich passte auf, dass sie nicht die besten Stücke für sich beanspruchten. Aber Fritz, der als einziger von uns lesen und schreiben konnte, verwaltete akribisch das Eigentum eines jeden Einzelnen. Er vermaß die Streifen mit einem Stock, in dem er Kerben geschnitzt hatte, notierte Abmessungen, Farben, Formen und Besonderheiten in sein Büchlein und verstaute alles in separaten Papiertüten.
Aufmerksam verfolgte ich jedes Mal, wie er die Silberstreifen durch seine Finger gleiten ließ, sie befühlte, gegen das Licht hielt und an den Streifen roch. Mama hatte mir erzählt, dass Papa Schneider war, bevor er in die Ferne ging, und ich stellte mir vor, wie Papa jetzt an einem fremden Ort ähnlich mit kunterbunten Stoffen, glänzenden Tüchern und Fäden von unterschiedlicher Dicke und Festigkeit hantierte.

oOo​

Ich suchte das Gelände weiter ab, übertrat vorsichtig die Gleise. Als ich laute Geräusche vernahm, machte ich mich am Gleisbett ganz klein, schloss die Augen, hielt die Ohren zu, atmete nicht. Eine Weile kauerte ich dort, hörte Donner, dachte Schreie zu hören. Dann Stille. Obwohl es Hochsommer war, roch ich Kälte. Irgendetwas liegt in der Luft, sagte mir eine innere Stimme. Ich musste wohl an die Züge gedacht haben, an die Hungernden, an die Scharfschützen, an die Tiefflieger.
Ich wartete nicht mehr länger auf die Brüder, zog Strümpfe und Schuhe an und eilte mit vollen Händen und Hosentaschen zum Gartenhäuschen. Es war stets ungewiss, ob das Versteck entdeckt wurde oder der dürftige Holzverschlag, denn mehr war es nicht, noch stand. Ich rüttelte an der verschlossenen Tür und versteckte die Streifen schließlich hinter einem kleinen Hügel unter Geäst.
Der beißende Geruch in der Luft hatte zugenommen. Ich schmeckte Rauch und Qualm auf der Zunge, zog Rotz hoch und spuckte ihn auf die staubige Erde.

Als ich vor unserem Haus stand, wischte ich mir Dreck von der Kleidung und drehte mich noch mal um. Kurz überlegte ich, dann lief ich los. Ich bog ab, rannte, übersprang Mauerreste, Schutt und Asche, stolperte über bloßliegendes Wurzelwerk, riss mir die Hosen an dornigen Büschen auf, rannte zur Straße, in der die Brüder wohnten.
Zur Straße, in der dichte Schwaden Rauch und Qualm hingen. Zur Straße, die undurchdringlich war.
In dieser Nacht fand ich das Haus der Brüder nicht wieder.

oOo​

Jahrzehnte später las ich einen Artikel über die Operation Gomorrha. Aufgeregt stieg ich ins Dachgeschoss und kramte zwischen den Dingen, die die Zeit überstanden hatten. Schließlich fand ich meinen Schatz in einer Blechdose. Etwa ein Dutzend Silberstreifen, ordentlich gefaltet. Ich brachte es nicht fertig, sie durch die Finger gleiten zu lassen, sondern atmete kräftig aus, schloss die Dose und hielt sie so lange in Händen, bis ich meine tränenumrandeten Augen wieder öffnen konnte.
Papier, so stand es in der Zeitung, ist sonst keine Waffe. Aber beidseitig mit einer dünnen Aluminiumschicht bedampft stört es als Täuschkörper Radaranlagen.
 
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rainer Genuss

Mitglied
Hallo Franklyn
meiner Meinung nach eins deiner besten Werke
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Täuschmittel hat mich irritiert, Definition gesucht, keine gefunden. "Radarstörkörper" gibt es. Täuschungsmittel auch. Jetzt kannst du basteln oder ein Wortpatent anmelden, ansonsten
Applaus von mir
LG rainer
 
Hallo Francis,
ich habe diese Kurzgeschichte gelesen. Ich gratuliere Dir.
Ich halte sie für die beste Kurzgeschichte, die Du geschrieben hast.
Chapeau!
 
Hallo Wolkenzähler,

danke fürs Lesen. Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt.

Alles Gute fürs Neue Jahr.
Liebe Grüße, Frankyln Francis
 



 
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