Silvesterfeier

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RobertMarkus

Mitglied
Silvesterfeier​
[ 4]Es war eine wirklich schöne Silvesterfeier. Jetzt mal von dem ganzen Geschrei und dem vielen Blut abgesehen. Es wurde viel gelacht. Und als Eberhard Bergmann dann auch noch rein zufällig Frau Schröder aus der Buchhaltung mit unserem Personalreferenten Jörg Hantke auf der Toilette erwischte, war das Gesprächsthema des Abends gefunden.
[ 4]Ich muss schon sagen, wir sind eine wirklich eingeschworene Truppe. Welcher Betrieb rutscht schon gemeinsam ins neue Jahr? Ohne Angehörige! Das nenne ich Teamgeist.

[ 4]Von den 27 Kolleginnen und Kollegen der PROKORP Gesellschaft Nord mbH fehlten an diesem Abend nur zwei Mitarbeiter: Susanne Ziegler aus der Marketingabteilung hatte sich leider schon vor Monaten Karten für eine Silvestervorstellung des Phantoms der Oper gekauft, lange bevor unsere Party angekündigt wurde. Mann-o-mann, war die bedient, als der Aushang im Aufenthaltsraum aufgehängt wurde. Sie hatte noch versucht Ihren Ehemann zu überreden, er solle zusammen mit der niedlichen OP-Schwester aus dem Krankenhaus, die ihn – den Oberarzt – seit Ewigkeiten anhimmelte, das Musical besuchen, war aber letztlich selbst mitgekommen, um ihre Ehekrise nicht noch weiter zu vertiefen.
[ 4]Die zweite Person die fehlte, war Rudi Würzinger aus der Buchhaltung. Eigentlich hatte er fest zugesagt, war aber unerklärlicherweise nicht erschienen. Wir machten uns natürlich sehr große Sorgen. Diese vergrößerten sich selbstverständlich, als er plötzlich auftauchte und mit der ganzen Sauerei anfing.

[ 4]Ich hatte mir für den Abend viel vorgenommen. Ich würde mich zusammenreißen und endlich den Mut aufbringen Verena Schubert, unsere Zeitarbeitskraft, anzusprechen. Wenn man schüchtern ist wie ich, ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hat und nicht viel Erfahrung im Umgang mit der Damenwelt hat, benötigt man einen Plan, um die Gunst einer Frau zu gewinnen. Daher hatte ich detailliert überlegt, wie ich auf der Feier vorgehen würde. Zu meinem Glück hatte ich mich im letzten Jahr freiwillig gemeldet, als ein Mitarbeiter gesucht wurde, um einen Kurs in Projektmanagement zu belegen. Und dies war endlich die perfekte Gelegenheit, um mein erlerntes Wissen erstmals in der Praxis zu erproben.
[ 4]Verena war für ihre zweiundvierzig Jahre nicht nur sehr gut aussehend, sondern hatte darüber hinaus auch eine betörend süßliche Stimme. Wie ich über unseren Küchenchef erfahren hatte, war Verena Solosängerin in einem Kirchenchor in Hamburg-Bergedorf. Einmal hatte ich mich sogar heimlich an einem Sonntagmorgen in eine Messe ihrer Gemeinde geschlichen, um sie singen zu hören. Es war himmlisch. Jetzt, wo sie, im Kopierraum eingeschlossen, hysterisch um ihr Leben schrie, hatte ihre Stimme etwas von ihrem Zauber eingebüßt. Allerdings nicht viel. Nur ein ganz klein wenig. Nun, ich war regelrecht vernarrt in sie. Nein! Geben wir es offen zu: Ich hatte mich in sie verguckt.

[ 4]Mein Plan schien aufzugehen. Ganz nebensächlich hatte ich am Buffet gefragt, ob sie nicht auch der Meinung sei, dass es besser wäre, das wöchentliche Reporting auf einen Zwei-Wochen-Rhythmus umzustellen. Das war insofern schlau, weil ich mit Klaus Bruhns befreundet war. Klaus Bruhns war für das KAI-ZEN Programm im Betrieb verantwortlich. KAI-ZEN ist der japanische Ausdruck für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Rahmen des betrieblichen Vorschlagswesens. Und eben mein Freund Klaus hatte mir am letzten Mittwoch heimlich gesteckt, dass Verena Schubert einen Verbesserungsvorschlag für einen neuen Ablauf der regelmäßigen Reports gemacht hatte.
[ 4]Was soll ich sagen? Wilhelm Tell persönlich hätte nicht besser ins Schwarze treffen können. Verena sah mich vollkommen überrascht an. Sie war sogar so verblüfft, dass sie ihren Partyteller, auf den sie gerade den extrem kalorienreichen Kartoffelsalat von Hannah Braun aufgefüllt hatte (Mayonnaise, keine Brühe), eine Spur zu schräg hielt. Zwei Tofu-Frikadellen – sie war Vegetarierin, so wie ich – purzelten hinunter und fielen zu Boden, an etwa an die Stelle, wo jetzt der halb abgerissene Arm unseres Geschäftsführers Herr Dr. Meinhardt in einer großen klebrigen Blutlache lag. Es sei darauf hingewiesen, dass zu dem Zeitpunkt als die Frikadellen herunterfielen, der Fußboden noch tipptopp war.
[ 4]Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Dr. Meinhardt unsere vietnamesische Reinigungskraft noch gestern angewiesen hatte, ein besonderes Maß an Reinlichkeit für die bevorstehenden Feierlichkeiten an den Tag zu legen. Unsere Reinigungskraft hatte sich infolge dessen praktisch selbst übertroffen, aber nun war es Dr. Meinhardt selbst, der das Linoleum frei von jeglicher Hygiene und Ästhetik zierte.

[ 4]Meine Bemerkung war der perfekte Gesprächsöffner gewesen. Für die nächsten dreiundzwanzigeinhalb Minuten hatte Verena nur Augen für mich. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass wir ein wenig angebändelt hatten. Wenn ich eines meiner (immer und immer wieder zu Hause geprobten) Bonmots von mir gab, lachte sie mir zu, strich sich sanft mit ihrer rechten Hand durchs Haar und entblößte dabei ihren Hals.
[ 4]Jeder Anthropologe, der auch nur halbwegs sein Geschäft versteht, wird ihnen sagen können, dass dies ein untrügliches Zeichen für einen Flirt war. Und was das für ein Hals war! Bezaubernd! Zum Anknabbern. Der Anblick machte Appetit auf mehr. Der vorläufige Höhepunkt des Abends wurde erreicht, als mir Verena mit ihrer Serviette ein wenig Curryketchup von meinem Kinn wegtupfte. Ihre delikaten, zierlichen Finger waren nur wenige Zentimeter von meinen Lippen entfernt. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte meine Selbstbeherrschung verloren und ihrem Handrücken einen sanften Kuss gegeben oder gar hineingebissen.
[ 4]Dieser magische Moment hat sich tief in meine Netzhaut eingebrannt. Wenn ich nur daran denke, beginnt mein Herz schneller zu schlagen, meine Atmung beschleunigt sich und mein Magen fängt an zu knurren.

[ 4]Ich spürte, dass es an der Zeit war, den nächsten Schritt zu wagen und wollte Verena fragen, ob sie nicht vielleicht Interesse daran hätte, mit mir in der nächsten Zeit Essen zu gehen. In ein Fleischrestaurant ihrer Wahl. Bevor ich jedoch zu meiner Frage ansetzen konnte, erschien Rudi Würzinger zur Feier.

[ 4]Rudi Würzinger musste etwas missverstanden haben. Alle Kolleginnen und Kollegen hatten sich des Anlasses entsprechend angezogen. Alle waren geschmackvoll eingekleidet, vielleicht eine Prise gewagter als zur letzten Sommerfeier und speziell die weibliche Belegschaft entblößte etwas mehr Haut als gewöhnlich. Rudi Würzinger dagegen hatte die Silvesterfeier dem Anschein nach wohl für eine Kostümparty gehalten. Originell war seine Verkleidung in jedem Fall.
[ 4]Wobei dies nicht ganz richtig ist. Er hatte sich eigentlich gar nicht sonderlich verkleidet. Er hatte sogar den gleichen Büroanzug an, den er schon beim gestrigen Meeting getragen hatte. Was seinen Auftritt jedoch so einzigartig machte, war das professionelle Makeup im Gesicht. Manche Menschen gingen zum Fasching als Superheld, Arzt oder Mafiosi, Rudi Würzinger dagegen als Schwerstunfallopfer.
[ 4]Mit fiebrigen Augen stolperte (oder war es eher ein Humpeln?) Rudi in die Kantine, die als Festsaal diente. Er grunzte. Noch nie hatte ich eine solch gelungene Maskerade gesehen. Die rechte Gesichtshälfte von Rudi Würzinger sah aus, als hätte ihn ein wildes Tier angefallen. Künstliche Fleischfetzen (offensichtlich eine Art Silikongemisch oder auch Latex) hingen herab. Jedes Mal, wenn er einen seiner Grunzlaute von sich gab, meinte man durch die vermeintlich offene Wange zu sehen, wie sich seine Zunge im Mund bewegte. Seine ganze Kleidung war mit voll (Kunst-)Blut besudelt. Die Erinnerung daran verursacht noch jetzt in mir ein warmes Gefühl im Bauch.

[ 4]Alle waren entzückt. Jemand begann Beifall für diesen besonders gelungenen Überraschungsauftritt zu spenden und alle übrigen Anwesenden stimmten sofort mit ein. Dr. Meinhardt lief begeistert mit ausgestreckter Hand Rudi Würzinger entgegen, um ihn persönlich zu seinem Einfallsreichtum zu beglückwünschen.
[ 4]Hier wurde die Szenerie dann reichlich merkwürdig und ich bin mir nicht sicher, ob es daran lag, dass ich einen Becher Punsch zu viel getrunken hatte oder ob diese leicht fiebrige Erkältung Schuld war. Vielleicht war es aber auch einfach nur der Hunger. Großer Hunger soll Halluzinationen verursachen können. Dies habe ich zumindest irgendwo mal gelesen und ich hatte schließlich den ganzen Abend noch nichts Magenfüllendes gegessen.

[ 4]Wie dem auch sei: Dr. Meinhardt schritt Rudi Würzinger entgegen und dann passierte etwas Anrührendes. Rudi fiel Dr. Meinhardt um den Hals. Dr. Meinhardt war derart viel Zuneigung etwas unangenehm und wollte sich aus der Umklammerung befreien, aber es gelang ihm nicht. Diese offensichtliche Ablehnung machte Rudi irgendwie wütend. Und das war dann auch der Moment, wo die Party aus dem Ruder lief.

[ 4]Dr. Alexander Meinhardt, 56 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, fing an zu kreischen. Das war allerdings auch nicht verwunderlich, schließlich hatte Rudi Würzinger ihm ein großes Stück Fleisch aus seiner Schulter gebissen. Panik verbreitete sich unter der Belegschaft und die Begeisterungsrufe über die Verkleidung von Rudi Würzinger verwandelten sich in Angstschreie. Jörg Hantke eilte unserem Geschäftsführer zu Hilfe und büßte dies mit dem Verlust seiner Nase ein, die ihm kurzerhand abgebissen wurde. Frau Schröder wiederrum, die sich noch vor zwei Stunden einer tiefgehenden anatomischen Untersuchung im Herrenklo unterzogen hatte, versuchte ihrem Liebhaber zu helfen und aus der Gefahrenzone zu ziehen, während dieser den Teil seines Gesichts hielt, wo sich vor wenigen Sekunden noch sein Riechorgan befunden hatte. Da sich auf dem Boden mittlerweile eine beträchtliche Blutlache gebildet hatte, rutschten beide aus und fielen hin.
[ 4]Rudi Würzinger hatte sich derweil über den Oberschenkel von Sigrid Panitz hergemacht, die vor Angst erstarrt, nicht einmal versuchte Rudi daran zu hindern, ihr Bein zu verspeisen. Verena stürzte in Richtung des kleinen Kopierraums, warf die Tür zu und schloss sich ein. Unser Festsaal hatte sich beträchtlich geleert. Der Großteil der Kolleginnen und Kollegen war in Richtung Erdgeschoss geflüchtet. In mir dagegen stieg die Wut auf.

[ 4]„Herr Würzinger! Lassen sie das! Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!“
[ 4]Rudi Würzinger und ich duzten uns eigentlich seit dem Sommerfest. Aber ich hatte mal in einer Zeitschrift gelesen, dass man in Gefahrensituationen mit betrunkenen Schlägertypen, Rowdys und damit vermutlich ebenfalls bei Menschen mit kannibalistischen Neigungen nicht nur körperlich, sondern auch sprachliche Distanz waren sollte.
[ 4]„Herr Würzinger! Ich spreche mit ihnen! Könnten Sie bitte den Fuß von Frau Braun aus Ihrem Mund nehmen?“ Ich war überrascht mit welcher Überzeugungskraft die Worte meine Kehle verließen.

[ 4]Langsam drehte Rudi Würzinger seinen Kopf in meine Richtung und rülpste. Der große Zeh von Frau Brauns rechtem Fuß fiel ihm dabei aus dem Mund und plumpste zu Boden. Ich war zu ihm durchgedrungen! Dies war zumindest schon einmal ein Anfang.
[ 4]„Ich würde vorschlagen, wir setzen uns jetzt erst einmal gemeinsam hin und besprechen die Sache wie zwei vernünftige Menschen. So ein Massaker sieht ihnen doch gar nicht ähnlich. Was soll denn ihre Ehefrau dazu sagen?“
[ 4]Rudi Würzinger stapfte langsam auf mich zu. Ich wich im gleichen Tempo zurück.

[ 4]„Wir alle haben doch ab und zu etwas Appetit auf Menschenf…“ Hoppla. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht gesagt habe. Wie war das noch gleich?
[ 4]„Wir alle fressen doch täglich eine Menge Frust in uns hinein.“ Ja! So war es! „Aber den Frust auf diese Weise auszuleben, geht doch wohl ein wenig zu weit.“
[ 4]Rudi Würzinger nahm etwas Tempo auf und gab einen Stöhnlaut von sich. Ich versuchte weiterhin zurückzuweichen, doch eine Wand des Festsaals stoppte meinen Versuch auf Abstand zu bleiben. Der letzte Gedanke, der durch mein Hirn ging, bevor Rudi Würzinger über mich herfiel war, dass Rudi wirklich nicht gesund und seine Horrormaske eine Spur zu echt aussah. Dann gruben sich seine Zähne in meinen Körper und die Dunkelheit fiel über mich herein.

[ 4]Meine Augen sind noch immer geschlossen. Ich liege auf dem Fußboden des Festsaals. Ich habe keine Schmerzen. Bin nur etwas hungrig. Irgendwo da draußen steht ein Polizeiwagen, glaube ich. Ich habe vorhin ein Martinshorn gehört. Rudi Würzinger ist fort. Weiß der Teufel wohin. Bis auf die Schreie von Verena Schubert im Kopierraum ist es beruhigend still geworden. Sie hat eine so schöne Stimme. Verena. Wenn nur der Hunger nicht wäre. Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie sie mit der rechten Hand durch ihr Haar fährt und ihren Hals entblößt. Ein wunderschöner Hals. Wie ihr Handrücken. Zum Anknabbern. Da bekommt man richtig Appetit. Da möchte man glatt einmal reinbeißen. Nur einmal. Dann wäre der Hunger auch nicht mehr so groß. Aber vorher will ich mich noch ein wenig ausruhen. Ein bisschen schlafen. Zu Kräften kommen. Und dann Essen gehen.
 
R

Ray Catcher

Gast
Schwaaarz!
Dein Stil gefällt mir. Manchmal etwas zu ausufernd und nicht in allen Nuancen nachvollziehbar. Aber das macht nichts weil herrlich überzogen und böse erfrischend.
Gern gelesen.
Grüße
Ray
 



 
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