Silvesterreste

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silvesterreste



es gibt nichts schlimmeres; du hast heißhunger auf süßes und hast zuletzt - wieder mal - beschlossen, nur noch gemüse zu kaufen.
nur für den fall der versuchung. "das verlangen austricksen und stattdessen selleriesticks mit joghurtdip knabbern", hast du irgendwo gelesen.
schmeckt bloß leider nicht wie süßes, ist nicht süßes und kann nicht, was nur süßes kann.
tritt noch nach, wo du eigentlich trost gesucht hättest.

so ein fahlgrüner, knackharter selleriestick. schon beim schneiden hat es sich nach strafe angefühlt.
die cremigkeit des magerjoghurts lässt auch zu wünschen übrig. da schmeichelt nichts, streichelt nichts. tritt nach, wenn du schon am boden liegst.
was hattest du dir dabei bloß gedacht!?

dein blick fällt auf das marzipanschwein von letztem silvester. ist sicher schon zäh, weil ausgetrocknet in einem halben jahr, so im cellophankäfig.
immer noch besser als nix, denkst du; definitiv besser als lieblose selleriesticks.
das schwein lächelt dich an, mit schielenden zuckergussaugen, glücksklee im maul und einem zylinder aus plastik auf dem kopf.

sein kopf ist zugleich sein körper, fällt dir auf.
man erkennt nicht, wo das eine in das andere übergeht. das hat dich bisher nicht gestört. jetzt aber schon.
"ein klee-kauendes kopffüßerschwein mit zu kleinem hut und silberblick", trittst du nach.
der glücksbringer kam von klaus und brigitte, fällt dir ein, euren besten freunden seit über dreißig jahren.

es war ein netter silvesterabend; es wurde - wie immer - gut gegessen und gelacht. nicht mehr durchgefeiert wie früher.
schließlich wird keiner jünger. klar; versteht sich.
man ging gleich nach dem feuerwerk zu bett. es waren dann auch alle gesellschaftsspiele gespielt und alles gesagt.
seit wann ist das reden und feiern mit lieben freunden bis spät in die nacht vom programm verschwunden?, fragst du dich.
etwas in dir will das - bei allem verständnis - dann - und vor allem jetzt - doch nicht verstehen.

der sellerie hat den biss verloren und schmeckt so, wie er aussieht - fade und fasrig.

in letzter zeit war der gesprächsstoff knapp geworden irgendwie. gespräche waren zu monologen geworden. deren inhalt zu variationen des ewiggleichen.
ernster als früher. dafür weniger ernsthaft irgendwie. auch das verhältnis von zuhören und sprechen hatte sich mit der zeit verschoben, fällt dir auf;
klaus und brigitte lieferten ihre erlebnisberichte ab, gespickt mit stress und sorgen, die sich immer wieder in randbemerkungen und formulierungen einzuschleichen wussten.
ihr hörtet zu; verständnisvoll, anerkennend, ermutigend.
deine versuche, von den eigenen befindlichkeiten zu erzählen, versandeten zusehends. wurden diplomatisch aber immer bestimmter abgewürgt ab einem gewissen zeitpunkt.
unverstanden, unbehagen erzeugend, unerwünscht, erkennst du.
wer will schon aus dem leben einer chronisch kranken hören?

der dritte sellerie-stick ist holzig. da versagt auch der joghurtdip, stellst du fest. du hättest das siebzehn- anstelle des nullprozentigen joghurts nehmen sollen. oder wenigstens das zweiprozentige! das würde jetzt streicheln anstatt nachzutreten.
das marzipanschwein grinst, während du es aus der cellophanhülle schälst.

"ich mag die bezeichnung "beste freundin" nicht", hat brigitte irgendwann mal vor ein paar jahren zu dir gesagt; "sie macht mir stress".
also hast du aufgehört, euch so zu nennen. ihr zuliebe. dir nicht viel dabei gedacht. damals.

"armes, geblendetes, unglückliches kopffüßerschwein!", sagst du laut, nachdem du plastikhut, zuckergussaugen und -klee entfernt hast (denn ein weiteres stückchen zahn wirst du dir daran nicht ausbeißen!), "du kannst gehen!".

das marzipan ist noch immer zart. sogar überraschend gut. und die süße passt.





.juni_2022
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo fee_reloaded,

ich finde das Stück Kurzprosa richtig gut - es ist unterhaltsam und hat eine Aussage.
Noch viel besser würde ich es finden, wenn die Groß- und Kleinschreibung eingehalten würde. Da kann ich nicht aus meiner Haut. Bei Gedichten mag das noch gehen; hier stört es mich.
Trotzdem vier Sterne für die gute Unterhaltung.

LG SilberneDelfine
 

Matula

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Großartig ! Die Beschreibung des Marzipanschweinderls ist nicht zu überbieten !

Herzliche Grüße,
Matula
 

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Lieben Dank, Silberne Delfine und Matula

für das positive feed-back. Das freut mich sehr - in die Gefilde der Kurzprosa trau ich mich nur ganz selten.

Liebe Delfine,
Ja, ich weiß - an der durchgängigen Kleinschreibung scheiden sich die Geister. Ich habe bis heute keinen eindeutigen "Sieger" für mich ausmachen können. Also hör ich auf mein Bauchgefühl beim Schreiben und da kann ich einfach in durchgängiger Kleinschreibung manchmal "besser". Ich habe auch schon versucht, es danach umzuformatieren...es fühlt sich dann aber in vielen Fällen für mich so an, als ginge der Botschaft, die ich im Sinne hatte, dabei etwas verloren oder sie würde verändert. Bei anderen Texten wieder klappt das. Da mache ich das dann meistens auch.

Insofern freut mich besonders, dass ich dich im Text halten konnte und er dir gefällt!

Herzlichen Dank euch beiden!

Liebe Grüße,
fee
 
Dass ich das noch mal erlebe Liebe Fee! Ein Antony Williams Jünger in freier Wildbahn. Nachdem ich den Entsafter an die Wand geknallt habe, weil er diese läppischen Fasern nicht geschafft hat, habe ich mich mit Live Fresh angefeindet. Die schicken mir den Selleriesaft in putzigen 200ml Fläschen nach Hause. Er hat zwar nicht ganz die Detox Wirkung wie der frisch gepresste und auch beim Antioxidanz Wert hinkt er hinterher aber wie Antony Williams sagt: better a kind of than nothing. Und so süffele ich täglich Gesundheit pur, zusammen mit Silvester Stallone und den anderen Jungs. Boah, was für ein Erlebnis. Bin jetzt sogar in der Antony Facebookgruppe drin. Yes, my dear.
Gruß vom Hans
 

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Nachdem ich den Entsafter an die Wand geknallt habe, weil er diese läppischen Fasern nicht geschafft hat,...

Yes, my dear.
:cool::cool::cool:, Hans.

I can relate. Ich greife zum Sellerie-Saft von Hofer (aka Aldi). Nicht mal die Häckselscheibe von der Küchenmaschine schafft den Sellerie, ohne viel Rumgestocher und Nachbessern. Da ich aber froh war, in der Zeit der Küchengeräte-Knappheit noch eine zu bekommen, ist mir diese heilig. Was mich aber nicht vom lauten Fluchen abhält.

Wie sieht es mit Sauerkrautverzehr im Winter aus? Ich frag nur mal so.


feen-gruß
 
Die einfache Antony Williams Formel lautet: 50 % auf dem Teller sollte Gemüse oder Salat sein. Anything goes, Sauerkraut? Jaaaaa. Die Parameter für den gesunden Körper lauten Detox, Antioxidanz, basischer PH Wert.
Wenn ich jetzt noch mit dem Rauchen aufhöre, werde gesund sterben.:D;)
Gruß vom Hans
 

Aufschreiber

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Hallo fee,

ich mag Deinen Text sehr gern, er erinnert mich an einen eigenen Slam-Text, zum Thema "Friend Zone", in dem ich auch diese "Freundestreffen" mit betrachte und zu einem sehr ähnlichen Schluss komme.

Was das arme Kopffüßer-Schwein angeht, so muss ich gestehen, dass der Sellerie-Stick noch nicht einmal eine Chance auf Entstehung gehabt hätte, bei mir, was einem der Lieblingssprüche meiner Kinder zu Neuerscheinung in verändertem Licht verhilft:
"Du armes Schwein, Du tust mir leid,
Du lebst ja nur so kurze Zeit."

Dir auf jeden Fall Dank für den schönen Text!

Beste Grüße,
Steffen
 

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... ich auch diese "Freundestreffen" mit betrachte und zu einem sehr ähnlichen Schluss komme.
Und ich bedanke mich für die positiven Worte, lieber Steffen!

Freut mich, dass dir der Text gefällt und dich abholt.
Grins...lustig, was Kinder so als Lieblingssprüche erwählen (natürlich nicht ganz unbeeinflusst von den Erwachsenen). Bei mir daheim war es
"Es ist um jeden Tropfen schade
der Klimo Brauselimonade".

Die Brauselimonade gab es aber schon nicht mehr als ich mit dem Spruch geimpft wurde. Ist aber universell auf alles anwendbar, was so lecker ist, dass man zum Beispiel auch noch das kleinste Bröserl vom Teller kratzen muss.

Beste Grüße und nochmal danke für den lieben Kommentar!

Claudia
 

petrasmiles

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Liebe Fee_reloaded,

toller Text, hat mich mitgezogen - und immer gegrinst. Wie da die Hauptsache um die Nebensache (oder umgekehrt) mäandert und beides gut mitnimmt - toll.
Allerdings fehlt mir die eigene Anschauung - im Entsagen - ich nehme immer gleich die Abkürzung. (Ich wusste gar nicht, dass Gespräche über Entsafter und Sellerie so konspirativ klingen können von wegen 'wo hast Du denn Deinen Stoff her ...' ;-)
Auf das Schwein! Möge immer eines zu finden sein.

Liebe Grüße
Petra
 

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Liebe Fee_reloaded,

toller Text, hat mich mitgezogen - und immer gegrinst. Wie da die Hauptsache um die Nebensache (oder umgekehrt) mäandert und beides gut mitnimmt - toll.
Ui, danke schön, liebe Petra!
Das freut mich riesig. Ja, die wenigsten Schweinderl überleben das erste Halbjahr in meinem Haushalt. Und die, die man erst nach dem nächsten Silvester "schlachtet", sind dann meist schon sehr zäh (außer das Marzipan war Top-Qualität). :cool:
"Schwein gehabt" bekommt da grade eine ganz neue Bedeutung.

Recht liebe Grüße,
Claudia
 

anbas

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Moin fee,

gefällt mir sehr gut!

Der Sellerie waren bei mir Möhren - ich mochte dann jahrelang keine rohen Möhren mehr essen. Seit Jahren besch... ich mich erfolgreich damit, dass ich keine Süßigkeiten im Haus habe - ich kaufe höchstens mal gezielt und planvoll eine Kleinigkeit - dafür aber immer Tiramisu, Pudding und Ähnliches aus dem Kühlregal - ist ja Nachtisch und keine Süßigkeit... :cool:

Was die Groß- und Kleinschreibung betrifft, tue ich mich mit Kleinschreibung in Prosa-Texten schwer, in der Lyrik finde ich sie dagegen oft sehr passend.

Liebe Grüße

Andreas
 

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dafür aber immer Tiramisu, Pudding und Ähnliches aus dem Kühlregal - ist ja Nachtisch und keine Süßigkeit... :cool:
Danke, Andreas! Freut mich, dass es dir gefällt!

Wieder was gelernt...die Unterscheidung in Nachtisch und Süßigkeit eröffnet ja ungeahnte Möglichkeiten... :cool:
Super!

Lieber Gruß,
Claudia
 



 
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