Skarabäus

Gabriele

Mitglied
Skarabäus

…habe ich ihn genannt, den „bösen“ Tumor, der vor einigen Monaten in einer siebenstündigen Operation zur Gänze aus meinem Gehirn entfernt worden ist.
Ja, es war ein vorbildlich durchgeführter erfolgreicher chirurgischer Eingriff, für den ich allen daran beteiligten ÄrztInnen, Pflegern und Schwestern für den Rest meines Lebens zu Dankbarkeit verpflichtet bin.
Und doch muss ich mit zunehmender zeitlicher Distanz zu jener Operation immer öfter denken, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ein kleines Stück meines Skarabäus in meinem Kopf geblieben wäre.
Wie undankbar! Wie kann man nach so einer schweren Erkrankung mit einem offenbar glimpflichen Ausgang solche Gedanken haben?
Es ist eigentlich ganz einfach:
Die Wochen zwischen meinen epileptischen Anfällen - durch diese machte sich mein Skarabäus zum ersten Mal bemerkbar - und meiner Gehirnoperation waren die erfülltesten und wertvollsten meines bisherigen Lebens. Da war dieses Bewusstsein, ganz ohne Anstrengung endlich so sein zu können, wie ich es mir immer gewünscht hatte: offen, spontan, mutig, frei, hilfreich für die Menschen, die mich umgaben, optimistisch, ja sorglos, ohne oberflächlich zu sein. Meine Unsicherheit und Schüchternheit, meine Selbstzweifel und der Lebensüberdruss, mit dem ich jahrzehntelang immer wieder zu kämpfen hatte, waren wie weggezaubert.
Meine Diagnose und ihre etwaigen Folgen machten mir in diesen Wochen überhaupt keine Angst; eher schien mir meine Erkrankung jenes Ereignis zu sein, welches die lang ersehnten Veränderungen in meinem recht angenehmen, ordentlichen, sicheren, aber doch auch oft freudlosen, seit längerer Zeit stagnierenden Leben herbeiführen würde. Veränderungen, zu denen ich mich selbst nicht hatte durchringen können, weil ich einerseits nicht gewusst hatte, wo ich am ehesten ansetzen hätte sollen (neue Wohnung? neuerliche Partnersuche?) und weil ich andererseits zu feige und zu unsicher gewesen war, ob mich solche äußerlichen Änderungen auf Dauer tatsächlich freier, lebendiger und zufriedener machen würden.
Und nun schien sich für mich plötzlich alles wie von selbst in die richtige Richtung zu entwickeln. Gerade die durchaus realistische Vorstellung, dass mein Leben bald zu Ende sein könnte, gab mir die Kraft, optimistisch zu sein, die Schönheit kleiner Dinge, die mir früher kaum aufgefallen wären, mit großer Freude wahrzunehmen und auf die Menschen in meiner Umgebung offen, interessiert, ja liebevoll zuzugehen, mochten sie mir nun nahestehen oder ich sie gerade erst kennengelernt haben.
Es wäre leicht gewesen, mich in diesen Tagen vom Leben zu verabschieden. Ich hatte Frieden mit mir selbst und mit meiner Vergangenheit geschlossen und hatte das Gefühl, mein Leben wäre trotz seiner zahlreichen Aufs und Abs sinnvoll gewesen, hatte ich doch immerhin weitgehend allein ein bezauberndes, tüchtiges, mittlerweile fast erwachsenes Mädchen großgezogen, nach einigen Umwegen doch noch eine mich erfüllende berufliche Tätigkeit gefunden und noch dazu im Leben einiger Menschen ein paar positive Spuren hinterlassen.
Aber es sollte noch nicht zu Ende sein. Mein Körper und mein Kopf hielten bis zur Operation durch, diese verlief optimal, und ich erholte mich danach recht schnell. Offenbar sollte ich tatsächlich die Chance bekommen, auch mit einem „normalen, gesunden“ Kopf ein etwas anderes, innerlich reicheres, langsameres, bewussteres und glücklicheres Leben zu führen.
In den ersten Wochen nach meiner Operation glaubte ich, ich hätte durch meine Erkrankung so viel gelernt und sei nun endlich zu dem Menschen geworden, der ich immer hatte sein wollen. Doch je besser ich mich körperlich erhole, desto mehr schleicht sich wieder all das ein, was es mir oft so schwer macht, mich und mein Leben zu mögen: meine Neigung zum Grübeln, meine Unsicherheit im Umgang mit selbstbewussten Menschen, meine Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, meine daraus resultierende Schüchternheit und Zurückhaltung...
Natürlich gibt es auch wieder schöne Momente, Dinge, die ich mit meinem Skarabäus im Kopf nicht so gut tun konnte: Ich tanze wieder, mache ausgedehnte Spaziergänge im Grünen, gehe wieder in die Sauna. Ja, ich kann sogar wieder sexuelle Lust empfinden und bin (wäre) offenbar dazu imstande, mich Hals über Kopf neu zu verlieben – etwas, das schon ziemlich lange nicht mehr Teil meines Lebens war. Allerdings habe ich mir für diese Dinge vermutlich das falsche „Objekt“ ausgesucht, was wohl zu einer Enttäuschung mehr in meinem Leben führen dürfte.
Aber was soll’s! Unerfüllte Wünsche, nicht umgesetzte verrückte Pläne und nicht gelebte Zivilcourage waren immer Teil meines Lebens. Es hat sich eben doch nicht so viel geändert, wie ich mir erhofft hatte. Schade! Da muss wohl doch noch ein neuer Skarabäus her…
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Gabriele,

du hast sehr genau beschrieben, wie deine Erkrankung auch positive Persönlichkeitsveränderungen bei dir hervorgerufen hat. Um diese zu stabilisieren, brauchst du keine neue Krankheit. Du solltest nicht daran denken und vor allen Dingen auch nicht wünschen. Es gibt viele gute Alternativen, z.B. auch Bücher, die dich auf dem von dir gewünschten Weg unterstützen können.

Alles Gute und liebe Grüße nach Graz

HelenaSofie
 

Gabriele

Mitglied
Liebe HelenaSofie,

ich weiß... Vielleicht schwingt in meinem Text etwas zuviel Pessimismus und Selbstmitleid mit?!
Vielen Dank fürs Lesen und für deine aufbauenden Worte!
Liebe Grüße,
Gabriele
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Gabriele,
hab deinen Text grad zum ersten Mal gelesen und muss sagen, ich empfand diese Zeilen von Beginn an als spannend. Gerade das Konflikthafte und Widersprüchliche, das in deiner Selbstreflexion zum Ausdruck kommt, ließ mich interessiert aufhorchen.
Der Schluss:
Aber was soll’s! Unerfüllte Wünsche, nicht umgesetzte verrückte Pläne und nicht gelebte Zivilcourage waren immer Teil meines Lebens. Es hat sich eben doch nicht so viel geändert, wie ich mir erhofft hatte. Schade! Da muss wohl doch noch ein neuer Skarabäus her…
In ihm findet sich noch einmal die ganze Widersprüchlichkeit der vorherigen Gedanken in gebündelter Form. Ich finde den Schluss stark. Den letzten Satz nehme ich nicht zwingend wörtlich, verstehe ihn vielleicht so: Du demonstrierst hier dein neues Selbstbewusstsein. Wie das? Du zeigst auf fast provokante Weise, dass du bereit bist, dein Leben fortan mit all seiner Widersprüchlichkeit anzunehmen, so nach dem Motto: die Widersprüche gehören zu mir, sie machen mich aus, mögen sie bei mir bleiben, Freundschaft schließen mit mir... Im Schlusssatz steckt Sarkasmus. Aber gleichzeitig auch der intensive Duft einer unbegreiflichen Freiheit!
Ein sehr offener und bewegender Text!

lg wüstenrose
 

Gabriele

Mitglied
Vielen Dank, liebe wüstenrose!

Mit dem, was du aus meinem Text herausliest, triffst du sehr genau, was in mir derzeit abläuft. Es freut mich, dass ich dieses innerliche Chaos offenbar doch so zum Ausdruck bringen konnte, dass es auch Menschen verstehen, die - so nehme ich an - noch nicht in einer ähnlichen Situation waren.
Dass du das, was ich geschrieben habe, auch noch "spannend und stark" findest, freut mich noch mehr und spornt mich auch an, wieder öfter literarische Gehversuche zu unternehmen.
Nochmals herzlichen Dank!
Einen schönen Tag wünscht dir
Gabriele
 



 
Oben Unten