Sobald man heut vom Frieden spricht

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Zu spät. Die Uhr zeigt neun nach zwölf
Schon ist der Krieg ein Notbehelf
Sobald man nur vom Frieden spricht
Tagt doch bereits das Kriegsgericht

Sobald man nur vom Frieden spricht
Prüft man doch längst sein Kampfgewicht
Wer Frieden sagt: der meint es nicht
Weil der schon in Gedanken ficht

Sobald man nur vom Frieden spricht
Ein Feind wohl aus den Löchern kriecht
Das Sturmgewehr ganz knapp bei sich
Und alles ziemlich fürchterlich

Sobald man nur vom Frieden spricht
Fliegt Feuerfunk statt Friedenslicht
Man hört, wie Herz und Knochen bricht
Bevor man sich von Hand erschießt

Sobald man nur vom Frieden spricht
Dampft drückend heiß das Weltgesicht
In rote Menschenaugen sticht
Ein schwarzer Rauch voll Hass und Gift

Sobald man nur vom Frieden spricht
Ist man wahrscheinlich nicht ganz dicht
Ist es der Frieden der erschrickt
Ist schon das Morden abgenickt

Sobald man nur vom Frieden spricht
Verhungert wer elendiglich
Tut würdelose Menschenpflicht
Und alles das mit Plan und Sicht

Sobald man nur vom Frieden spricht
Ist doch schon alles ungerecht
Ist diese Welt längst deutlich schlecht
Hat sich bereits das Leid verstrickt

Sobald man nur vom Frieden spricht
Ist man aufs Gegenteil erpicht
Denkt man nicht groß, man denkt nur schlicht
Weil es an allen Enden zwickt

Sobald man nur vom Frieden spricht
Ist Frieden fern, ist Frieden nicht
Der Krieg klopft an. Ein Blitzpaket.
Wer Frieden will, kommt schon zu spät
 
Bertolt Brecht:

„Wenn die Oberen vom Frieden reden
Weiß das gemeine Volk
Dass es Krieg gibt.
Wenn die Oberen den Krieg verfluchen
Sind die Gestellungsbefehle schon ausgeschrieben.“
 

Natalkamajka

Mitglied
Wenn ich es richtig verstehe, spricht dein Gedicht aus meiner Seele. Frieden sollte selbstverständlich sein und sobald man anfängt darüber zu reden, führt man im Kopf schon Krieg. Mein Lieblingsstrophe ist

Sobald man nur vom Frieden spricht
Verhungert wer elendiglich
Tut würdelose Menschenpflicht
Und alles das mit Plan und Sicht
Ich liebe gesellschaftskritische Kunst und dazu noch so aktuell.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Danke, Natalkamajka,

für das Zitieren der "Hunger"-Strophe.
Aus zwei Gründen: 1. droht ein gewaltiger Welthunger, wenn die Weltkornkammer Ukraine und das südliche Rußland den Orient und den afrikanischen Kontinent in diesem Jahr nicht mit Getreide versorgen. Das sind dann nicht ein paar tausend, sondern einige hundert Millionen Menschen als Kollateralschaden der aggressiven "Entnazifizierung".

2. Die Syntax ist irgendwie kaputt:

Sobald man nur vom Frieden spricht
Verhungert wer elendiglich
Tut würdelose Menschenpflicht
Und alles das mit Plan und Sicht
So wie es hier gefügt ist, tut "würdelose Menschenpflicht" derjenige, der elendiglich verhungert.
Oder derjenige, der "elendiglich würdelose Menschenpflicht tut", verhungert.

Kann ja wohl kaum so gemeint sein, beides.

grusz, hansz
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dichter Erdling,

ich vermute, gestützt auf sein weiches Fenstersimskissen hat das lyrische ich Deines Liedes ein schwerwiegendes Problem mit der Litaneien-Anapher der zehn Strophen: Die Selbstbezüglichkeit der zehn Anfangsverse.

Das Lyri ist untröstlich verzweifelt ob seines Selbstwiderspruchs.
Oder sind es dicke Krokodilstränen?

grusz, hansz
 
Lieber Hansz,

Ich bin nicht sicher, ob ich mit deiner Kritik wirklich was anfangen kann.

Das mit dem „Fenstersimskissen“ stammt aber von meinem anderen Gedicht, soviel kann ich sagen.




An Natalkamajka:

So wie ich das verstehe, verstehst du das schon ganz richtig!



Lg, Erdling
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Lieber Erdling!

Ich lese in den Zeilen, die ich Dir geschrieben habe, keine Kritik. Es ist eine Frage: Wie es sich mit der Selbstbezüglichkeit der Anaphern-Litanei in der zehnfachen Anfangszeile verhält: Ob sie verzweifelt oder ironisch pseudoverzweifelt zu singen ist? Höre ich Weinen oder glucksen hier selbstverliebt lustige Krokodilstränen?

grusz, hansz
 
Lustige Krokodilstränen glucksen sicher nicht, selbstverliebt schon gar nicht.
Nein, nein, das hab ich schon ernst gemeint wie’s dasteht und geht schon eher in Richtung tiefgreifender Verzweiflung eines bekümmerten Pazifisten.

Die Anapher als Stilmittel zur taktgebenden Betonung fand ich hier ganz passend, aber muss man ja nicht mögen.

Grusz zurück
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Anapher als Stilmittel - hat, lieber Dichter Erdling,
mit Betonung und Takt gar nichts zu tun. Anapher ist die Wiederholung am Anfang. Mehrmals der gleiche Anfang, so wie hier von Strophe zu Strophe.

Ich hatte das so verstanden, aber Du verstehst es wohl anders,
daß das lyrische Ich eben der Unfriedenstifter ist, der vom Frieden singt. Er lügt, hieße das, indem er vom Frieden spricht, aber Krieg anzettelt.

Du verstehst das eher als die Verzweiflung des unverstandenen Propheten, oder?

grusz, hansz
 
Zum Stilmittel:
Betonung (und im weitesten Sinn auch Rhythmisierung/Takt) durch Wiederholung (Repetitio) – so in der Art habe ich das gemeint.
Aber ja, ich gebe gerne zu, im Fachjargon bin ich vermutlich nicht so firm wie du („richtig“ studiert habe ich was anderes) und Begriffe wie „Anapher“ gehören jetzt nicht zu einem Vokabular, das täglich von mir genutzt würde. (Das mit der „Wiederholung am Anfang“ habe ich aber grundsätzlich schon verstanden.)
Alles in allem ist mein Zugang zu Literatur wohl doch ein anderer, nicht ganz so professionell und akkurat wie du das scheinbar angehst.

„Prophet“ möchte ich allerdings auch nicht unbedingt sein bzw. sehe ich mich nicht in dieser Rolle.
Schon gar nicht in der tragischen Rolle der Kassandra, wie du das in deiner letzten Replik andeutest.
Aber schon kritische Auseinandersetzung mit dem, was ist, und mit Worten verdeutlichen und verdichten, was aus meiner Sicht und meiner Wahrnehmung gemäß (oft sehr offensichtlich falsch) läuft in der Welt, das ist mein Motor beim Schreiben.
Das treibt mich zu den Worten hin.

Ich hoffe, das schafft uns ein wenig Klarheit miteinander.

Und nochmal zurück zum Inhalt:
Keinesfalls habe ich gemeint: Ich selbst spreche vom Frieden und führe damit das Gesagte augenblicklich ad absurdum.
Gemeint habe ich:
Vom Frieden sprechen doch vor allem die „großen“ Entscheider- und Machermenschen, ehe es verlässlich doch nur immer Krieg gibt.
Das richtungsweisende Brecht-Zitat habe ich auch nicht zufällig als Interpretationshilfe angefügt.


Mit lieben Grüßen, Erdling
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Gemeint habe ich:
Vom Frieden sprechen doch vor allem die „großen“ Entscheider- und Machermenschen, ehe es verlässlich doch nur immer Krieg gibt.
Na endlich ein klares "Ja": Es sind also die Krokodilstränen der kriegverursachenden Lügner.
 

Walther

Mitglied
Hi @Dichter Erdling ,
die fragen von @Mondnein verstehe ich nicht als inhaltliche kritik. es geht um die ausführung. an der gäbe es einiges auszusetzen.
das thema ist zu ernst, als dass es geschwätzigkeit vertrüge. das verwässert die aussage. meist führt es ebenfalls dazu, dass die ursprüngliche strenge form nicht durchgehalten werden kann. das ist an diesem werk spätestens ab s5 zu beobachten, schon s4 ist nicht so stark wie s1 - s3.
es gibt eine alte regel, die für alle gedichte gleichermaßen gilt: bleibe kurz, bleibe dicht. mehr als genug hilft dir nicht. sie gilt auch und gerade für betroffenheitsgedichte wie dieses.
wenn dein text also gut werden soll und damit die bisherige "na ja"-beliebigkeit verlässt, dampfe ihn auf die 5 besten strophen ein. das hätte als nebeneffekt, dass die message in der adäquaten transportiert und nicht nach s4 als zeitverschwendung zur seite gelegt wird.
lg W.
 



 
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