Solène

Bo-ehd

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Solène war eine Person, die, wenn man es rein beruflich sah, das Image einer Museumsmaus innehatte, obwohl eine solche Beschreibung auf ihre äußere Erscheinung überhaupt nicht zutraf. Im Gegenteil: Kein Mensch dieser Welt wäre in der Lage, ihr Alter und ihre Jugendhaftigkeit einzuschätzen. Sie war zweiundvierzig, ging aber als sechsunddreißig durch, was in ihrem Freundeskreis immer für Bewunderung sorgte, aber bei der einen oder anderen Bekannten sogar den Neid wie kochende Lava hervorsprudeln ließ. Ihr Gesicht war faltenlos, das Haar brünett und mit Naturlocken versehen, und wer sie einmal lachen gesehen hat, sah hinter ihren vollen Lippen eine blitzendweiße Zahnreihe, an der sich, außer zu gelegentlichen Reinigungszwecken, noch nie ein Zahnarzt vergriffen hatte.
Sie hatte Geschichte studiert und arbeitete im Landesmuseum, wo sie, wie das in solchen Einrichtungen üblich ist, in einem Hinterzimmerchen saß und ihre Arbeit verrichtete. Als sie in ihrem Beruf zu arbeiten angefangen hatte, hatte sie noch archäologische Funde untersucht, spezifiziert und für die Ausstellungen ausgezeichnet, aber in den letzten Jahren wurden ihr ganz andere Arbeiten anvertraut: Sie übertrug historische Texte, in der Hauptsache Briefe und Urkunden, in die heutige Sprache. Solche Transkriptionen waren ganz nach ihrem Geschmack, und sie betrachtete die schwierigsten Texte, an die sich landesweit niemand herantraute, als persönliche Herausforderung, lieferte immer ordentliche Ergebnisse ab und stand bald in dem Ruf, eine wahre Kapazität zu sein.
Eines Tages wurde ihr offenbart, dass das Museum technisch aufgerüstet werden soll, was die Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen nach sich zöge. Ihr Haus wurde mit anderen vernetzt, und Solènes neues Arbeitsgerät war ein Computer mit einer Software, die ihr das Arbeiten zum Kinderspiel machte.
Aber es gab noch eine einschneidende Veränderung: Ihr wurde angesichts der Tatsache, dass sie alleinerziehend war, angeboten, ihre Arbeit von zu Hause aus zu verrichten. Freudestrahlend über diese Erleichterung ihrer Arbeitsbedingungen ließ sie sich die Technik, von der sie nicht das Geringste verstand, in ihrem Haus installieren und arbeitete fortan in ihrem Arbeitszimmer mit Blick auf eine kleine Teichlandschaft, denn hinter ihrem Grundstück begann die Flur mit einigen Tümpeln und Teichen. Natur pur mit Wiesen, Bäumen und einem Bach, der durch drei ursprünglich als Fischteiche angelegte Weiher floss. Französische Hügellandschaft wie aus dem Touristikprospekt. Klischee, was willst du mehr?
Sie grübelte gerade über eine in Neulatein verfasste Schrift, die man bei Renovierungsarbeiten auf dem Dachboden eines Pfarrhauses gefunden hatte, als sie innehielt und ihre Gedanken ordnete. Am Abend zuvor hatte ihr eine Bekannte nämlich erzählt, dass sie im Internet auf einem der zahlreichen Partnerportale einen Mann kennengelernt hätte, der das Zeug für die große Liebe hatte. Und alles war mit diesem Internet, zu dem ja jetzt auch sie Zugang hatte, so einfach: anklicken, sich beschreiben, ein bisschen Briefwechsel, Bild schicken, und dann kam auch schon das Date zum Kennenlernen.
Die Sache ging Solène nicht aus dem Kopf. Ihr Mann war vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, und seitdem übte sie sich in Enthaltsamkeit. Natürlich wurde sie schon gleich nach der Beerdigung von einem Dutzend Männern aus ihrem Bekanntenkreis angebaggert, aber für keinen hatte sie sich auch nur ansatzweise interessiert. Sie war grundsätzlich nicht abgeneigt, eine Männerbekanntschaft zu machen, aber nicht mit den Bekannten früherer Tage, und die Gelegenheit, einen Fremden kennenzulernen, hatte sich bislang einfach nicht ergeben.
Manchmal, wenn sie sich bei der Morgentoilette Zeit nahm, schaute sie in den Spiegel, suchte nach Fältchen, die in den letzten Wochen hinzugekommen sein könnten, und bedauerte, dass das Leben einfach so an ihr vorbeiging. Wenn der richtige Prinz auf der Matte gestanden hätte, wäre sie gewiss nicht abgeneigt, aber auf die Suche zu gehen – nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Jedenfalls im Moment noch nicht.
Die Sache mit dem Internet kam ihr da gerade recht und ließ sie nicht in Ruhe. War es wirklich so einfach, einen Mann fürs Leben zu finden – oder wenigstens den geeigneten für ein paar Stunden? Wo immer sie Gesprächen lauschte, bei denen es um Kontakte im Internet ging, waren alle begeistert, wie einfach und ungezwungen sich da Bekanntschaften anbahnten. Ja, vielfach outete man sich, bevor man überhaupt wusste, wer der Partner am anderen Ende der Leitung war.
Solène kam das alles ein bisschen zu einfach vor. Man konnte doch nicht so ganz ohne Schamgefühl Kontakte knüpfen und dann wie die Kaninchen … Doch, man konnte. Die anderen machten es ihr ja vor. Das Internet hatte den Menschen verändert, Mauern, die Schamgefühl und Zurückhaltung hießen, eingerissen und eine Zeit geschaffen, in der man unkomplizierte Wege ging. Man nutzte das Medium zum Kennenlernen, und wenn nichts daraus wurde, dann war es das eben. Aus, vergessen, auf eine neues Spiel.
Sie wägte ab, überlegte, prüfte sich selbst, ob ihr Mut dafür reichte, und entschied dann, es zu wagen. Allerdings mit einer Einschränkung. Das ganze Kennenlernen sollte erst einmal ohne Bild vonstattengehen, und später, wenn man sich durch den Briefverkehr ein bisschen kannte, konnte man immer noch entscheiden, ob man Bilder austauschte. Sie lächelte in sich hinein. Wenn ihr das vor einem halben Jahr jemand gesagt hätte, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Doch jetzt merkte sie, wie die Schambarrieren in sich zusammenfielen, je länger sie darüber nachdachte.
Eigentlich ging sie ja gar kein Risiko ein. Durch ihre Arbeit war sie in der Lage, aufgrund der Art, sich zu artikulieren und sich selbst zu beschreiben, ziemlich treffsicher herauszufinden, wer das Gegenüber war, welche Bildung und welche Erziehung es besaß. Zufrieden mit sich selbst lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und malte sich verschiedene Mailpartner aus. Könnte es der Intellektuelle sein, der Künstlertyp mit Bart, der Karrierist, das Muttersöhnchen? Oder komplexbeladene Langweiler, die gerade eine Enttäuschung hinter sich hatten? Leute, die vorgaben, wer zu sein, obwohl sie nie das Zeug dazu hatten? Aufschneidertypen, Machos, Hochstapler?
Und wie war es mit dem Alter? Jeder konnte zunächst das Blaue vom Himmel herunterlügen. „Ach“, murmelte sie in der Gewissheit vor sich hin, dass noch viel zu viele Fragen offen blieben, „worauf lasse ich mich da nur ein?“
In diesem Moment durchmaß ihr Sohn Marty den Flur, winkte flüchtig durch die offenstehende Tür und verschwand wieder. Als sie ihn, den jungen Mann, sah, nahm sie sofort den Faden wieder auf. Klar, irgendwelche Schüler und Studenten könnten sich einen Scherz erlauben und sie über das Netz anbaggern. Oder irgend etwas Ausrangiertes aus dem Seniorenheim? Solène dachte an alles, nur nicht daran, ihr Vorhaben aufzugeben. Sie hatte Blut geleckt, und jetzt galt es, sich nicht zu unerfahren zu geben bzw. stümperhaft zu reagieren, wenn es ein bisschen pikant wurde.
Ach Marty, sagte sie in Gedanken an ihren Sohn, du bist jung, kräftig, intelligent und so ein hübscher Kerl, du wirst nie solche Probleme haben wie deine Mutter. Aber was redest du da, Solène, hast du sie etwa in diesem Alter gehabt? Jetzt komm mal runter, du alte Fregatte, schalt sie sich, und mach dich nicht älter und unattraktiver, als du bist.

*

Solène stöberte die halbe Nacht in den einschlägigen Portalen und wurde nicht müde, die teils frivolen Anzeigen Seite für Seite zu lesen. Manche waren etwas trocken und sehr anständig, gefühlvoll und unaufdringlich verfasst, und Solène studierte sie und stellte sich vor, welcher Typ Mann dahinterstecken könnte. Doch nach zwei Stunden wurde sie der Sache müde und wechselte zu den etwas schärferen Inseraten. Da wurden keine Umschweife gemacht, und Zeile für Zeile konnte man entnehmen, was der offensichtlich männliche Verfasser wollte. Um den heißen Brei reden, das war wohl bei all diesen Typen nicht mehr.

Suche heißen, aber keinen brutalen Sex und Leidenschaft, aber nur, wenn sie von innen kommt. Gefaketes Stöhnen kann ich nicht ausstehen.

Solene wunderte sich. Was mag der für Erfahrungen gemacht haben? Immerhin sucht er was Ehrliches. Sie las weiter:

Suche Sex zwei/drei Mal im Monat. Keine Beziehung, keine finanziellen Interessen. Suche nur guten Sex und danach ein paar gute Gespräche. Bin 1,90 m groß, blond, promoviert. Leider nicht besuchbar.

Solène grinste. Junge, Junge, murmelte sie. Entweder du bist verheiratet, oder du wohnst bei Mama. Ach Gottogott, ist das ein lustiger Zoo hier. Sie las weitere dreißig Anzeigen, dann machte sie eine Flasche Wein auf und klickte auf die Sparte mit den ganz harten Angeboten.

Dauerharter Schwanz, 25 x 6 cm, sucht belastbare Möse. Welche Frau bis 30, auch farbig, will sich richtig durchziehen lassen? Einschlägige Erfahrung mit großen Schwänzen oder Dildos vorteilhaft, aber nicht Bedingung. Biete zärtliche „Einführung“.

Solène stutzte. Ein Pferd! Welche Frau verträgt denn sowas?, dachte sie und las die nächste.

Analspezialist für die Dame mit den besonderen Wünschen. Lern mit mir die pikanten Seiten des Sex kennen. Trau dich. Telefon

Sieh an, da gibt sogar einer seine Telefonnummer heraus! Offenbar funktioniert’s.

Ficken bis zur Ohnmacht! Suche geile Dreilochstute für eingeführte Sechserrunde (3 Frauen, 3 Männer). Je versauter, desto besser.

Der Lesestoff war so interessant, dass Solène gar nicht aufhören konnte. Trotzdem musste sie schlucken. Diese freizügigen Texte, die das anonyme Internet hervorbringen konnte, stießen sie irgendwie ab, weil sie der Meinung war, dass niemand so mit der Tür ins Haus fallen muss. Auf der anderen Seite hatten sie sie nicht nur immer neugieriger gemacht, sie spürte auch, wie sie sie erregten. Verlegen schaute sie sich um, ob ihr Sohn noch irgendwo im Haus herumschwirrte, dann griff sie sich unter den Rock, strich über den Zwickel ihres Slips und stellte erstaunt fest, dass sie klitschnass war.
Sie las weiter. Anzeige für Anzeige, und die Zeit verging im Fluge. Als es ihr reichte, lehnte sie sich zurück und überlegte, ob sie auf eines der Inserate antworten oder lieber einen eigenen Text aufgeben soll. Schließlich entschied sie, eine eigene Anzeige zu verfassen. Wer sie las, folgerte sie, wusste, mit wem er es zu tun hat. So war wenigstens eine Art Vorauswahl getroffen, und es könnte ihr erspart bleiben, die ganzen Fäkaltexte lesen zu müssen.
Es dauerte eine ganze halbe Stunde, bis sie die wenigen Zeilen für ihre Anzeige so formuliert hatte, dass sie sie abschicken konnte. Und so erschien sie unter der Rubrik „Frauen suchen …“:

Nein, Sex allein ist mir zu wenig. Es muss schon ein bisschen Interesse auch an anderen Dingen dazukommen. Kultur, eine gute Unterhaltung und viel Lebensfreude. Wer traut sich zu, einer jung gebliebenen Vierzigjährigen all das zu bieten?
Diara


Sie grinste bei dem Namen, den sie sich gegeben hatte, zögerte noch ein wenig, den Text abzuschicken, richtete dann aber vorsichtshalber noch schnell eine extra E-Mail-Adresse ein, die sie nur für die Antworten auf diese Anzeige nutzen wollte. Knopfdruck – und draußen war ihr Aufruf an die unternehmungslustige Männerwelt.
Schon nach wenigen Minuten kamen die ersten Reaktionen. Es waren die üblichen Teilnehmer: Männer mit keinen oder wenig Sprachkenntnissen, irgendwelche Geilheinis, die die schnelle Nummer suchten, Macho-Typen, die sich alles zutrauten, und Blender, die das Blaue vom Himmel herunterlogen. Einige boten Bilder ihrer erigierten Schwänze an, zum Teil sogar gegen Bezahlung. Andere versuchten, Bildung vorzutäuschen, was mitunter allzu gründlich danebenging. Insgesamt meldeten sich bis Mitternacht über hundert Bewerber, darunter kein einziger, der eine Antwort wert gewesen wäre. Sie fielen sang- und klanglos durchs Raster. Wie nicht anders zu erwarten, murmelte Solène, fuhr ihren PC herunter und ging ins Bett.
Die Flut an Zuschriften kam erst am folgenden Tag, und nach Feierabend machte sie sich daran, die Spreu vom Weizen zu trennen. Eine einzige Anzeige gefiel ihr, obwohl sie sich selbst nicht erklären konnte warum. Sie hatte das Gefühl, als sei sie ehrlich und mit einer gewissen Sehnsucht geschrieben:

Liebe Diara,
wer eine solche Anzeige schreibt, ist etwas Besonderes, und ich bin froh, dass ich sie nicht einfach so überlesen habe. Ich bin deutlich jünger als Sie, was ich Ihnen von Anfang an nicht verschweigen möchte. Dass ich Kontakt aufnehmen möchte, hat seinen Grund darin, dass es mich zu einer reiferen Dame zieht. Mit den Gleichaltrigen kann ich nichts anfangen. Was ich suche, ist eine Lady mit Charme, Bildung und einer gewissen Lebenserfahrung.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte nicht Ihr Zögling sein, sondern auf Augenhöhe mit Ihnen eine schöne Zeit verbringen.
Kendall

Ups, was war das denn? Ein jüngerer Mann, nein, das war nicht ihre Zielgruppe. Dennoch hatte die Antwort auf ihre Anzeige etwas, das sie neugierig machte. Sie beschloss, sich auf einen Mailwechsel einzulassen.


Lieber Kendall,
es ist wohltuend, Ihre Zeilen zu lesen. Sie grenzen sich so sehr von der Flut einschlägiger und plumper Kontaktversuche ab. Allein dass Sie mich siezen, empfinde ich als sehr positiv; schließlich kennen wir uns ja noch gar nicht. Schreiben Sie mir doch ein wenig über sich, damit ich mir ein Bild von Ihnen machen kann.
Diara


Liebe Diara,
Ihre Antwort hat mich sehr glücklich gemacht, denn ich habe befürchtet, dass Ihnen an einem um die Hälfte jüngeren Mann nichts gelegen ist. Natürlich ist mein Leben zu kurz, um mit einer erfahrenen Lady mithalten zu können. Dafür bin ich lernfähig – in jeder Beziehung. Ich habe gerade angefangen zu studieren und würde später gern an einer Universität arbeiten, aber ob ich dort eine Stelle bekomme, steht noch in den Sternen.
In meiner Freizeit treibe ich viel Sport, ich bin deshalb körperlich auch topfit. Bin übrigens einmeterachtundachtzig groß und wiege 83 Kilogramm, und ohne aufschneiden zu wollen, bin ich ziemlich muskulös. Gern schicke ich Ihnen ein Bild von mir – wenn es an der Zeit ist.
Kendall


Lieber Kendall,
ja, mit dem Austausch von Bildern lassen wir uns noch Zeit. Man kann sich auch so kennenlernen. Sie sind sehr muskulös, schreiben Sie. Muss ich mit meiner nicht mehr ganz so ranken und schlanken Figur nun Komplexe bekommen?
Diara


Liebe Diara,
nein, ganz sicher nicht. Setzen Sie sich bitte nicht in ein verkehrtes Licht. Ich fühle, dass Sie bluffen: Sie sind nämlich eine hübsche junge Frau mit toller Figur. Ich habe noch nicht von Ihnen geträumt, aber ich fühle, dass es so ist.
Kendall



So ging es die ganze Nacht. Und die nächsten vier Nächte. Inzwischen duzten sie sich und kannten sich wie ein frisch verliebtes Paar, das sich tagelang miteinander unterhalten hat. Dann bahnte sich die Entscheidung an. Die ersten Intimitäten wurden ausgetauscht.

Lieber Kendall,
nun wissen wir doch schon eine ganze Menge voneinander, aber um die Liebe bzw. den Sex haben wir bisher einen großen Bogen gemacht. Ich finde es gut, dass du als Mann nicht gedrängelt hast. Solche Dinge müssen wachsen, um so mehr kann man sie genießen. Wieviel Erfahrung hast du eigentlich mit Frauen?
Diara


Liebe Diara,
ich hatte früher mal angedeutet, dass mir die Gleichaltrigen nichts geben. Ich habe da unrühmliche Erfahrungen gemacht: Das ständige Herumgezicke, das Kichern und Gackern ging mir irgendwann zu sehr auf die Nerven. Dann trauen sich die jungen Dinger nichts, und wenn man nicht gleich Treue schwört, haben sie überhaupt keine Lust mehr. Auf einer Kurzreise bin ich dann einmal mit einer älteren Frau zusammen gewesen, und da sind mir die Unterschiede deutlich geworden.
Kendall


Ui, das ist ja wie ein Sprung in deiner persönlichen Evolution. Ich finde es gut, wenn ein junger Mann solche Erfahrungen macht. Und du glaubst jetzt, dass ich dir genauso viel geben kann? Hoffentlich enttäusche ich dich nicht.
Was meinst du eigentlich mit “die trauen sich nicht“? Was trauen sie sich denn nicht?
Diara


Liebe Diara,
du hast es ausgesprochen, und darüber bin ich sehr glücklich. Ich sehne mich wirklich danach, dich in meine Arme zu nehmen. Sollten wir uns nicht vorher wenigstens ein Bild schicken?
Apropos „trauen“: Es geht vordergründig darum, dass man auf sexuelle Entdeckungsreise geht. Das heißt, es sollte schon ein bisschen mehr sein als immer nur die Missionarsstellung im Dunkeln. Ich möchte meine Partnerin beim Sex sehen, ihr in die Augen schauen, sie dabei beobachten, wie sie genießt. Und: Der weibliche Körper birgt so viele Geheimnisse! Er macht mich wirklich ganz neugierig. Was für einen Sex erwartest du von mir?
Kendall


Hi Kendall
Jetzt mal eines nach dem anderen: Ein Bild, nein, das würde die Stimmung kaputt machen. Ich denke, unser Äußeres ist jetzt nicht mehr das Wichtigste. Allerdings würde ich, wenn ich ehrlich bin, allzu gern wissen, was du von mir im Bett erwartest. Du bist neugierig, okay, aber was kommt da auf mich zu?
Diara


Liebe Diara,
okay, kein Bild, dann glaube ich, dass es an der Zeit ist, dass wir uns persönlich kennenlernen. Da wir in der gleichen Stadt wohnen, geht es am einfachsten in einem Café, oder? Wir könnten uns um neunzehn Uhr im „Eau Rouge“ in der Rue d´Albert treffen. Wenn du reinkommst, ist ganz hinten links ein Tisch in einer Nische. Dort werde ich auf dich warten. Ich habe ein graues Jackett an und einen roten Schal um den Hals gelegt. Du wirst mich sofort erkennen. Um diese Uhrzeit dürfte das Café ziemlich leer sein.
Um deine Frage zu beantworten: Es ist mir sehr wichtig, dass wir guten Sex haben. Ich möchte dich glücklich sehen, und, soweit es mich betrifft, endlich eine Frau in meinen Armen halten, der ich alles geben kann, was für einen Mann möglich ist. Ich träume davon, es mit dir bis zur völligen Erschöpfung zu tun. Es darf ein bisschen verrucht sein, jeder soll sich gehen lassen, aber es darf niemals der Anstand verloren gehen. Bist du da bei mir?
Kendall


Hi, mein Student,
absolut! Ich freue mich wahnsinnig, dich zu sehen. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass allein die Vorstellung einen so sehr erregen kann, wie es jetzt der Fall ist. Ich werde ganz kirre, wenn ich meiner Phantasie freien Lauf lasse.
Ja, ich glaube, wir müssen uns jetzt unbedingt sehen. Für den Fall, dass wir uns verpassen: Ich komme direkt vom Museum und trage einen lindgrünen Übergangsmantel und einen hellbraunen Hut. Bis heute Abend.
Diara


*

Das „Eau Rouge“ war nicht voll, aber auch nicht so wenig besucht, wie Kendall vorausgesagt hatte. An der Theke standen Grüppchen von Menschen, die sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause noch einen Absacker genehmigten. Mit einem Gefühl von Unsicherheit, Neugier und Scham trat sie ein und suchte die Nische im linken Teil des Cafés, die Kendall beschrieben hatte. Sie schlich sich an den sich laut unterhaltenden Gästen vorbei, und da sah sie ihn auch schon. Er saß, den Rücken zum Inneren des Cafés gewandt, allein an einem kleinen Tisch. Graues Jackett, roter Schal, so wie er es angekündigt hatte.
Während sie sich ihm langsam näherte, öffnete sie die Knöpfe ihres Mantels. Dann, nach nur wenigen Schritten, stand sie hinter ihm. Ihr Herz klopfte trotz ihrer vierzig Jahre. Ein Date – das war doch immer wieder eine spannende Angelegenheit. Kendall schien sie in seiner Aufgeregtheit noch gar nicht bemerkt zu haben. Wie eine Statue saß er an seinem Tischchen und starrte die Wand an.
Solène legte eine Hand auf seine Schulter und schaute auf sein lockiges Haar. In diesem Augenblick begann er, seinen Kopf zu drehen und gleichzeitig aufzustehen. Nach einer ewig dauernde Sekunde schauten sie sich beide ins Gesicht. Ihre Züge waren starr, die Augen weit offen, fast von einem Ausdruck des Entsetzens gezeichnet. Ihre Mundwinkel zuckend, die Lippen ein wenig aufeinandergepresst, dann der Mund weit offenstehend, als wollte etwas heraus, das ihre Überraschung deutlich machte.
„Marty!“
„Mama!“
Und dann prusteten beide so laut los, dass die Gäste an der langen Theke die laute Unterhaltung abrupt einstellten. Ihre Blicke richteten sich auf das Paar, dass sich wie frisch verliebt angrinste und lachte, ohne dass einer von beiden ein Wort über die Lippen brachte. Nach langen Sekunden fand er die Fassung und brach das Schweigen.
„Ich hatte keine Ahnung, dass du …“, stammelte er, immer noch lachend.
„Glaubst du vielleicht, ich hätte mir träumen lassen, dass ich dich hier antreffe?“
„Oh, Mama, was haben wir da nur gemacht? Ich schäme mich so.“
„Du musst dich doch nicht schämen, mein Junge! Was haben wir schon getan?“ Solène wirkte sehr gefasst und übernahm sofort wieder die tröstende Rolle, die sie als Mutter gewohnt war. „Wir haben beide das Glück gesucht. Wer wollte uns das übelnehmen? Das darfst du nicht so verbissen sehen.“
„Aber ich schäme mich so.“
„Quatsch! Nimm Haltung an wie ein Mann“, feixte sie.
„Okay, Mama, wie du willst. Wo gehen wir hin? Zu mir oder zu dir?“
„Wir gehen zu mir, mein Liebling. Ich habe heute sturmfreie Bude. Mein Sohn ist unterwegs zu einem Date mit einer reiferen Dame.“







 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Bo-ehd,

diese Geschichte ist gut geschrieben, überzeugt in Wortwahl und Stil. Wenn auch der Anfang nicht gerade zum Weiterlesen einlädt ... da hättest du überraschender sein können.

Die Pointe ist natürlich wohl gesetzt, aber ...

beim zweiten Lesen drängte sich sofort der Inzestgedanke auf. Und dass sich beide schämen müssten. Das würden sie im echten Leben tun, davon bin ich überzeugt. Die Mutter könnte die Situation nicht so retten wie beschrieben. Als Mutter von mehreren Söhnen sehe ich das so.

Ich weiß nicht, ob es anderen Lesern auch so geht, aber mich stößt dieser Gedanke ab, dass es sich um Mutter und Sohn handelt, auch wenn ich jetzt alles vorwegnehme.

Gruß DS
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo DS,
ja, das mit dem Inzest, das ist eine ganz heiße Kiste. Ich habe als Familienvater mit Sohn und Tochter absolut null Verständnis dafür. Ich könnte es mir nicht einmal vorstellen. Was Solene betrifft, habe ich das Ende ganz bewusst so zweideutig offen gelassen.
Inzest ist das Thema in der Literatur. Es kann durch Bilder (Internet, Porno) nicht abgebildet werden; es lebt von der Schilderung. Da es außergewöhnlich ist, weil unter vorgehaltener Hand diskutiert, ist es das Reizthema schlechthin.
Für die Literatur hat es einen besonderen Wert, denn kein Thema auf der Welt birgt soviel Konfliktstoff, Stichworte sind Verbot, Gesetzesverstoß, Hemmschwelle, persönliche und soziale Ächtung, Heimlichkeit, Erpresserpotential, vofr allem aber Scham. Hinzu kommt eine literarisch hochinteressante Vorphase, in der es darum geht, ein Tabu zu brechen. Das Thema geistert nicht nur durch die frühgeschichtliche Literatur, sondern ist zuhauf im modernen Frankreich anzutreffen, in der Schweiz ("Stiller"), in England und den USA. Nach Canada und USA haben wir übrigens Lizenzen vergeben.

Gruß Bo-ehd
 
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