Sonett VI: letzte Umarmung (gelöscht)

S

Sandra

Gast
Liebe Julia,

wie oft bei einem Sonett, wirkt mir auch hier, teils der Inhalt in die Form hineinkonstruiert. Die Aussage beugt sich in manchen Zeilen dem Reim.
Dein Arm ist still und schwarz, wie jene Nächte.
Hier gefällt mir das Bild nicht. Ein stiller Arm - nun gut, aber ein schwarzer? Was möchtest du damit ausdrücken, außer den Bezug zur Nacht?
Die mich nicht länger schultern, deine Finger
Vielleicht erlese ich hier den Zusammenhang falsch. Jedoch, dass Finger schultern können, ist für mich auch keine nachvollziehbare Aussage.
Vorbei, vorbei, dass mir dein Atem schallte
Einerseits eine sehr schöne Formulierung (von denen es mehrere in diesem Sonett gibt ;) )
Jedoch auch hier, erscheint mir das Bild nicht schlüssig.
Ein Schall ist für mich mit einer Akustik, einem Ton, verbunden. Wolltest du dies ausdrücken? Ich bin mir nicht sicher.
Du gehst in all deinen Gedichten, die ich bisher von dir gelesen habe, sehr tief in deiner Aussage. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Bilder nachvollziehbar und schlüssig bleiben.

Einen lieben Gruß

Sandra
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Sandra,

danke für deine Kritik. Du hast Recht: Natürlich beugt sich die Aussage eines Sonnetts teilweise dem Reim, natürlich strukturiert die Form zu einem erheblichen Anteil den Inhalt! Dies abzustreiten hieße, den Kopf in den Sand zu stecken... - aber ist das schlimm? Ich finde, nein. Ich finde, Dichtung ist nicht nur Philosophie mit tiefgehenden Aussagen, sondern zunächst einmal Ästhetik, Rhytmus, Melodie! Und wenn ich einmal eine vielleicht sinnvollere Aussage gegen einen schöneren Klang eitauschen muss, sehe ich das nicht als Opfer - schlag' mich ruhig für diese altmodische Einstellung ;-). Dieser Klangzauber, den ein klassisches Sonett erzeugen kann, ist einiges Wert...

Zu den konkreten Bildern:
Meine Bilder sind allesamt "Stimmungsbilder": Sie sollen eine Atmosphäre erzeugen, nicht eine konkrete Aussage haben - für präzise Inhalte ist nach meinem Kunstverständnis die Prosa zuständig (was sicherlich so etwas pauschalisiert ist, aber...).

quote:
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Dein Arm ist still und schwarz, wie jene Nächte.
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Hier ist erstmal der Bezug zur Nacht offensichtlich, das stimmt. Aber in dem "schwarz" steckt auch die Stimmung des Sonetts: Es geht um einen Abschied, um Trauer, um etwas "letztes" (vgl. das Bild des Abends für den Tod)... Man könnte es auch auf den letzten Vers beziehen: "Licht verfällt." (womit sich eine für ein Sonett typische kreisförmige Struktur ergibt). Außerdem: wie in der Überschrift angedeutet sollte der Arm hier nicht als Körperteil verstanden werden, sondern als ein "In-den-Arm-nehmen" - und wenn man in die Arme eines Menschen versinkt, das Gesicht an seinen Hals gedrückt, dann ist alles nur noch schwarz und still...vor allem, wenn es der Geliebte, wenn diese Umarmung die letzte ist. Und nicht zuletzt hat mich das alliterative von "still" und "schwarz" gereizt...

quote:
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Die mich nicht länger schultern, deine Finger
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Dieses Bild liefert keine "nachvollziehbare Aussage" an und für sich, das stimmt - es lebt nur in der Hoffnung auf Assoziationen seitens der Leser. "schultern" = "auf die Schulter nehmen" = "(hoch)halten, unterstützen, (er)tragen" - und mit "unterstützen, halten" sind wiederum auch Finger assoziierbar. Vielleicht heißt "schultern" hier aber auch einfach nur: "über die Schulter streicheln"? Wer weiß...;-). Außerdem ergeben "Arm", "schultern" und "Finger" ein Wortfeld, welches das Zentrale dieses Sonetts - die Umarmung - in den Vordergrund rückt.

quote:
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Vorbei, vorbei, dass mir dein Atem schallte
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Hier habe ich ein stilistisches Mittel benutzt, das man "Synästhesie" nennt: das Verschmelzen bzw. "Vertauschen" verschiedener Sinnesreize. Der Atem ist ein "gefühlter", warmer Reiz, der mit einem auditiven vermischt wird, wodurch das Sinnlich-Emotionale hervorgehoben wird (benutzt Brentano übrigens auch gerne ;-)). Aber man kann es auch anders deuten: der "Atem" nicht als das Ausstoßen von Luft, sondern als alles, was den Mund verlässt, als Worte, die vielleicht einmal "in einem Atemzug" gesagt wurden, und nun als Erinnerung im Kopf wiederhallen...

Ich weiß, alles, was ich anbringe, ist nur sehr vage und verwaschen - aber ich finde, die Bilder sind, obwohl vielleicht nicht nachvollziehbar, doch "nachfühlbar"...

Liebe Grüße,
Julia
 
S

Sandra

Gast
Liebe Julia,

ich danke dir sehr, für deine ausführliche Erklärung zum Text. Das macht längst nicht jeder Autor und für diesen Einblick möchte ich dir danken.


Natürlich beugt sich die Aussage eines Sonetts teilweise dem Reim, natürlich strukturiert die Form zu einem erheblichen Anteil den Inhalt!
Nein, dies empfinde ich nicht als "natürlich". Es gibt zahlreiche Sonette, in denen dies nicht geschieht. Darin liegt für mich die wirkliche Kunst als auch die Schwierigkeit dieser Reimform.

Ich finde, Dichtung ist nicht nur Philosophie mit tiefgehenden Aussagen, sondern zunächst einmal Ästhetik, Rhytmus, Melodie!
Nun, ich habe nichts dagegen, wenn alles gelingt. ;) In der Wertigkeit würde ich die tiefere Aussage definitiv vor der Ästhetik sehen. Rhythmus und Melodie sind Grundvoraussetzung für einen gelungenen Text.


Und wenn ich einmal eine vielleicht sinnvollere Aussage gegen einen schöneren Klang eitauschen muss, sehe ich das nicht als Opfer - schlag' mich ruhig für diese altmodische Einstellung ;-). Dieser Klangzauber, den ein klassisches Sonett erzeugen kann, ist einiges Wert
In meinen Augen ist dies das fatalste Opfer, welches man als Autor gewillt wäre zu bringen. Verschwimmt die Aussage aufgrund der einzuhaltenden Form, ist der Autor kein Autor mehr, sondern wäre m.E. nach besser beschäftigt, würde er Kreuzworträtsel lösen. Gegen die Tatsache, dass du grundsätzlich ein klassisches Sonett als Form für dein Gedicht gewählt hast, ist nichts einzuwenden. Auch ich liebe gerade diesen tiefen Klangzauber, jedoch nur mit stimmigen Bildern.

Zu den Erläuterungen deiner Bilder:
Ich fühle mich bestätigt, in dem was ich hinter den Metaphern vermutete. Jedoch - es tut mir Leid - halte ich sie nach wie vor nicht für gelungen. Bei aller Freude, die ich beim Hineindenken in eine Metapher empfinde, muss sie schlüssig sein. Dass präzise Literatur nur in Prosa zu finden ist, halte ich für eine sehr pauschale zudem falsche Aussage.
Wenn z.B. ein begabter Lyriker wie Holger in einem seiner Gedichte schreibt, dass die Häuserdächer wie aufgeschlagene Romane aussehen, dann ist dies ein überaus gelungenes und an Präzision nicht zu überbietendes Bild.
Diese Dächer sehen nicht aus wie lose Blätter oder wie Zeitschriften, sondern wie aufgeschlagene Romane.
Zwischen einem Wort oder einer Formulierung, die in einem Gedicht nicht stört und dort ihre Dienste tut und dem einzig richtigen Wort oder der einzig richtigen Zeile, liegt ein Unterschied, wie zwischen einem Glühwürmchen und einer Sternschnuppe. Man sollte nach Letzterem Streben, das ist zumindest meine Meinung.

LG
Sandra

P.S. Vielen Dank für deine Erklärung bezügl. der Synästhesie, jedoch ist dies die Grundlage einer Metapher und ich kenne niemanden in diesem Forum, der sich dieser Gefühlskombination nicht bedient.
 

Montgelas

Mitglied
liebe presque_rien,

jeder rhythmus, jede melodie sucht sich ihren sinn,
und was ei, was huhn war
läßt sich nie wirklich scheiden.
es ist auch gleich,
wenn form und inhalt stimmen.

in deinem text ist beides wieder stimmig.
normalerweise lese ich keine
kommentierungen von autorinnen
oder autoren zu ihrem eigenen texten,
diesmal habe ich eine
ausnahme gemacht - es hat sich gelohnt,
denn ich habe viel honig
für mich saugen können.

danke !

lg
montgelas

p.s. kennst du den link ? http://www.fulgura.de,
wenn nicht, es lohnt zu schauen !!
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Sandra,

danke für deine ausführliche Kritik meiner ausführlichen Kritik deiner ausführlichen Kritik *lach*!
Hier geht es weiter, wenn du interessiert bist...

http://leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=57317



Lieber Montgelas,

danke erstmal für den tollen Link! Damit werde ich mich mal näher beschäftigen müssen.

Aber danke vor allem dafür, dass du mich verstehst...:).

Eigentlich sollte ein Autor auch keine Erklärungen zu seinen Werken machen...aber wenn man direkt darauf angesprochen wird, ist die Versuchung einfach zu groß ;-). Schön, dass es dein Lesen ergänzt, nicht gestört hat...

Liebe Grüße,
presque_rien
 



 
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