Sonnenwendzeit

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E

Einsprengsel

Gast
War Anfang für mich,
nicht Ende in den Blicken der
Steine, im Wuchern von
Erinnerungen, nichts sonst
heilt den Schmerz

Zeit taucht ab in taubes
Röhricht, zweitausend Jahre
und mehr, Stimmen des Gestern,
sie fliegen durch Träume,
es ist nichts

Lernen, dass Uhren
stillstehen, ich gehe nicht,
komme nicht, ich bleibe, ich bin,
wer ich sein werde, bewahrte Zeit
in den Händen
 
X

xxandros

Gast
bewahrte zeit

liebes einsprengsel

es ist zunächst interessant, dass mit dem vorhandensein unseres bewusstseins sich auch immer innenwelten entfalten können, räume des inneren erlebens. diese räume sind jedoch, davon bin ich überzeugt, wirklich ganz individuelle räume:

War Anfang für mich,
(...), im Wuchern von
Erinnerungen,(...)
in einem mittelpunktlosen universum von erinnerungen enststeht plötzlich eine art von ich-zentrum, ein brennpunkt des bewusstseins. es etabliert eine eigene perspektive auf die welt:

Zeit taucht ab in taubes
Röhricht, zweitausend Jahre
und mehr, Stimmen des Gestern,
sie fliegen durch Träume,
es ist nichts
(diese perspektive ist das, was philosophen sehr gerne "die perspektive der ersten person" nennen.)
diese innere erlebniswelt besitzt außerdem eine zeitliche dimension, das ist klar, wobei wir über die "zeit" gut und gerne und endlos diskutieren könnten.
so stellt sich uns hier ein ich entgegen, der einer einfachen und doch so schweren erkenntnis erliegt: in und durch jeden von uns entfaltet sich vorübergehend ein eigener kosmos des bewusstseins, ein ganz subjektives universum:

Lernen, dass Uhren
stillstehen, ich gehe nicht,
komme nicht, ich bleibe, ich bin,
wer ich sein werde, bewahrte Zeit
in den Händen
diese bewahrte zeit kann ganz trügerisch sein, da auch sie sehr flüchtig ist. ich persönlich erkenne in diesem gedicht die zaghafte beschreibung einer welt, die entstehung von einem intimen diesseits: sehr persönlich und introvertiert...
es ist gefühlsstark, es hat mich überzeugt...

lg xx
 
E

Einsprengsel

Gast
Hallo xxandros,

ich bedanke mich für die eingehende Beschäftigung mit dem Gedicht.

Meine Sicht auf das Gedicht ist eine andere als deine.
Das Wesentliche steht in der ersten Strophe: Es geht um einen Schmerz, einen großen Schmerz, der vom Ich verarbeitet wird als Anfang und nicht als Ende. In der zweiten Strophe beziehe ich mich auf zweitausend Jahre (es geht nicht um Christus) ein Rückblick auf Niederlagen (taubes Röhricht). Die dritte Strophe ist eher Selbstvergewisserung des Ich, das sich selbst treu bleiben wird, dass nichts vergessen wird, das begreift, dass manchmal die Zeit auch stehenbleibt. Ich hoffe, ich habe verstanden, was ich geschrieben habe.

Deine Rezeption des Gedichts finde ich interessant. Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich unterschiedliche Leser mit unterschiedlichen Erfahrungen ein Gedicht erleben. Als introvertiert würde die Haltung des Ich nicht sehen, eher nachdenklich und empfindsam reagierend. Introvertiertheit bezeichnet ja die Konzentration auf psychische Vorgänge, auch Kontaktarmut. Ich glaube nicht, dass ich das geschrieben habe. Aber wenn du das so siehst?

Einsprengsel
 
X

xxandros

Gast
es ist immer diese vieldeutigkeit und reichtum an geschichten und welten, die mich an gedichten angezogen haben... dein gedicht ist vielschichtig, darum auch so wunderbar für jeden leser anders angehbar...

deine eigentlich intention wird mir jetzt natürlich auch deutlich am text, nachdem du sie geschildert hast...

wie auch immer: es ist gelungen...

lg xx
 
D

Die Dohle

Gast
Interessanter Text, interessante Lesarten.
Ich finde, beide Lesarten gehen sehr gut zusammen, solange die eine sich als Metapher für die andere zulässt. Die Rede ist vom selben.

Ich für meinen Fall muß noch ein paar mal lesen ..., wenn das Teil nix wäre, hätte ich dazu keinen Anlass.

lg
die dohle
 



 
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